Balancieren auf einem hauchdünnen Seil – Friedensarbeit in Israel

Ein Interview mit Muli Glezer, Lila Kimhi geführt von Bernhard Kleinschmidt veröffentlicht in der 1-2026 Neubeginn unter der Rubrik Aktuell.

Leid, Angst und Friedensarbeit in Israel

Kurz bevor es im Oktober 2025 zu ersten Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas kam, konnte Bernhard Kleinschmidt ein Gespräch mit den jüdischen Israelis Muli Glezer und Lila Kimhi führen. Beide sind Dharmalehrende und gehören zu Tovana, der wichtigsten buddhistischen Gemeinschaft Israels, auch bekannt unter dem Namen Israel Insight Meditation Society. Ihr Gründer und leitender Lehrer ist Stephen Fulder.

Friedensmarsch in Israel

Bernhard Kleinschmidt: Muli, du hattest mir im Vorfeld unseres Gesprächs eine Zusammenfassung der Situation geschickt. Obwohl das Schreiben schon vom 27. April stammt, befürchte ich, dass sich die Dinge in der Tiefe kaum verändert haben. Wie versucht ihr beide persönlich, eure Stimme in dieser angespannten Lage hörbar zu machen?

Muli Glezer: Ich bin kein Mensch, der die Öffentlichkeit sucht, und habe nicht das Gefühl, dass meine Stimme, nur weil ich Vipassana lehre, eine besondere Autorität besitzt. Darum vermeide ich es, so etwas wie Stellungnahmen abzugeben. Auch die sozialen Netzwerke empfinde ich nur als begrenzt nützlich, da wir dort meistens nur zu Leuten sprechen, die ohnehin unserer Meinung sind, anstatt zu einer breiteren Öffentlichkeit. Der wichtigste Raum, in dem ich mich zum Ausdruck bringe, sind die vielen Lehrsituationen mit meinen Schülerinnen und Schülern. Das ist jedoch eine enorme Herausforderung, da man äußerst geschickt vorgehen muss.

Ich glaube, es ist essenziell, dass die Menschen außerhalb Israels begreifen, wie stark die Ereignisse des 7. Oktobers immer noch nachhallen. Dieser Tag hat längst noch kein Ende gefunden. Die Israelis leiden ungeheuerlich, und das auf vielfältige Weise. Ja, auch die Palästinenserinnen und Palästinenser leiden, aber die Israelis tragen weiterhin eine immense Bürde. Wer das Gesamtbild erfassen will, muss das unbedingt verstehen. Das spüren alle israelischen Dharmalehrenden sehr stark.

Lila Kimhi: Im Gegensatz zu Muli habe ich den Eindruck, gerade als Vipassana-Lehrerin in einer sehr privilegierten Lage zu sein. Viele Menschen hören meine Stimme, die ich deshalb bestmöglich nutzen möchte. Meine Aufgabe ist es, die Menschen an ihre grundlegende Güte und die Möglichkeit der Freiheit zu erinnern. Dieses Glück und diese Freiheit sind selbstverständlich nicht auf das eigene Ich beschränkt; sie reichen weiter und tiefer.

Ich sehe in Israel unzählige Menschen, die über die gegenwärtige Lage tief besorgt sind. Manchmal genügt eine kleine Gruppe, um große Veränderungen zu bewirken. Darauf setze ich meine Hoffnung. Die Menschen hier stecken in einer entsetzlichen Notlage, einem gewaltigen Chaos.

Wie äußert sich diese Spannung konkret, etwa auf einem Retreat?

Muli: Lila und ich haben zum Beispiel in Ein Dor zusammen ein Tovana-Retreat geleitet. So etwas ist ein Balanceakt, denn die Empfindlichkeiten gehen in alle Richtungen. Einerseits gibt es Praktizierende, die sich darauf konzentrieren, dass der Großteil der israelischen Öffentlichkeit das Leid der Menschen in Gaza ignoriert oder nicht genügend berücksichtigt. Das stimmt: Die Mehrheit kümmert sich entweder nicht darum oder stellt die Geiseln an die erste Stelle.

Andere Menschen richten ihr ganzes Augenmerk auf das israelische Leid. Für sie darf über das Leid der Gaza-Bewohnerinnen und -Bewohner nicht gesprochen werden. Und wiederum andere sind wütend, weil sich alles nur um das „Wir, wir, wir“ dreht, was sie als egozentrisch empfinden.

Ich empfinde es so, als müsste man auf einem hauchdünnen Seil balancieren. Jedes Wort, das den Konflikt auch nur streift, ist überaus heikel. Und auch wenn man schweigt, ist das heikel. Wir Dharmalehrenden sind in einer höchst komplizierten Lage und müssen bereit sein, den Druck in diesem Schnellkochtopf zu ertragen. Wir müssen fähig sein, hinter dem Zorn, der Wut und der Wunde den tiefen Schmerz der Menschen zu erkennen.

Baumpflanzung in Israel, ein Mann im Vordergrund ist dabei den Baum zu pflanzen, andere schauen zu
Baumpflanzung

Das ist sicherlich nicht nur auf Retreats, sondern auch im Alltag so, oder?

Muli: Ja, wobei es für eure Leserinnen und Leser sicherlich interessant ist, wenn wir hier Einblicke in das geben, was derzeit in der Welt der buddhistischen Praxis geschieht. Die tiefste Wurzel des Problems, die wir auf dem Retreat gespürt haben, liegt in der Definition des Wir. Wie können wir über die Universalität des Leidens sprechen, ohne eine Gruppe auszuschließen? Wenn wir uns nicht einig sind, wer zum Kreis des Mitgefühls gehört – also zu denjenigen, die unsere Fürsorge verdienen –, dann leidet das Verständnis. Für die meisten Israelis schließt dieses Wir an erster Stelle das eigene Volk und die Geiseln ein. Die Politik tut selbstverständlich alles, um diese Sicht zu zementieren.

Lila: Die Netanjahu-Regierung hat fast nichts getan, um den Israelis zu helfen, die ihre Liebsten und ihre Häuser verloren haben oder wegen des Krieges umziehen mussten. Aber die israelische Gesellschaft als Ganzes hat geholfen. Viele Menschen, darunter Fachkräfte aus dem Therapie- und Baubereich, haben sich ehrenamtlich zusammengeschlossen und unglaubliche Unterstützung geleistet. Sie haben Bauern geholfen, zerstörte Häuser und Kibbuzim wiederaufgebaut. Das ist ein sehr ermutigendes Zeichen, ein Weg, die erlernte Hilflosigkeit in unserer Gemeinschaft zu überwinden. Wir dürfen uns nicht ohnmächtig fühlen. Angst und Trauer sind natürlich und präsent, aber wir lernen, damit umzugehen.

Ich lehre seit 2004 und habe ein kleines ökologisches Meditationszentrum i gegründet. Mein Ziel war, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen nicht nur an ihrem Geist arbeiten, sondern in dieser intensiven Sphäre von Israel und Palästina erfahren können, dass Wandel möglich ist. Auch an der Gründung von Middle Way war ich beteiligt, einer Friedensorganisation, die während der Zweiten Intifada Friedensmärsche veranstaltet hat.

Für mich sind Aktivismus und Dharma untrennbar. Ich sage den Menschen immer wieder: Dharma und Meditation sind ein politischer Akt. Kriege beginnen mit einer bestimmten Sichtweise. Wenn wir unsere Sichtweise überprüfen – „Bin ich mir sicher, dass das, was ich denke, wahr ist?“ –, dann ist das der elementarste Schritt und er geht sehr tief.

Jüdinnen und Juden mussten im Laufe der Geschichte unzählige Angriffe und Pogrome erleiden. Das Massaker vom 7. Oktober 2023 war entsetzlich. Spielt die Angst vor weiteren Übergriffen eine zentrale Rolle dabei, dass jüdische Israelis die derzeitige Regierung des Landes unterstützen, weil sie militärische Härte für die einzige Lösung halten?

Lila: Wir wissen alle, wie Kriege entstehen – durch Propaganda und die Verengung der Sichtweise. Es ist so leicht, Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen, auch wenn sie keine „schlechten“ Menschen sind. Wir tragen alle Möglichkeiten in uns und es wächst das, was wir nähren. Ja, Angst ist dabei das Hauptinstrument. Benjamin Netanjahu ist, wie viele andere politische Führerinnen und Führer weltweit, ein Meister darin, Ängste zu schüren.

Doch es ist genauso leicht ist, das Gegenteil zu tun, und das versuche ich als Dharmalehrerin: Menschen beeinflussen und sie dazu bringen, sich zu öffnen, statt sich durch Angst und Hass zu verschließen. Ich erinnere sie daran, wer sie sind und wer „der Andere“ ist. Trotz der Finsternis, die der 7. Oktober gebracht hat, ist auch ein starkes Licht entstanden.

Ein Beispiel: Auf dem Retreat mit Muli war es plötzlich ein Problem, dass der Muezzin eines benachbarten muslimischen Dorfes zum Gebet rief. Man konnte geradezu körperlich spüren, wie seine Rufe, die früher nie gestört hatten, nun Angst auslösten, weil die Teilnehmenden sie mit den Nukhba-Einheiten der Hamas in Verbindung brachten. Deshalb habe ich versucht, ihre Perspektive zu verschieben, indem ich gesagt habe: „Wir können diesem Klang lauschen und den Menschen würdigen, der seinen Gott mit einer wunderschönen Melodie ruft.“ Doch für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer war das in dem Moment sehr schwierig, weil ihr Geist von Angst und Hass besetzt war.

Ich weiß, dass Gruppen von Tovana-Praktizierenden in der Vergangenheit Treffen in der West Bank organisiert haben. Finden die im Moment überhaupt noch statt?

Lila: Ja, es geht weiter, auch wenn es große Schwierigkeiten gibt.

Muli: Die Gruppe, die das organisiert, nennt sich Engaged Dharma Israel und arbeitet seit Langem daran, freundschaftliche Beziehungen zu zwei oder drei Dörfern in der West Bank aufzubauen. Es begann mit einfachen Besuchen, um Vertrauen zu schaffen. Diese Dörfer leiden unter willkürlichen Aktionen der Armee und der israelischen Behörden, die ihr tägliches Leben beeinträchtigen. Zudem werden sie von Siedlern angegriffen. Engaged Dharma hilft diesen Gemeinschaften bei ihren Problemen, besucht sie regelmäßig und wird so zu einem vertrauenswürdigen israelischen Partner. Manchmal gibt es sogar Retreats vor Ort.

Eine andere Gruppe, SanghaSeva, unterstützt dort ebenfalls Retreats. Es gibt auch Dharmapraktizierende in der West Bank. Issa Souf, der mit Plum Village in Verbindung steht, arbeitet am Aufbau eines Dharmazentrums in seinem Dorf Har’es. Er ist ein unglaubliches Vorbild: Ein israelischer Soldat hat ihm in den Rücken geschossen. Seitdem ist er von der Hüfte an abwärts gelähmt. Trotzdem ist er ein bekannter Friedensaktivist und Buddhist geworden.

„Daily Postcard“ von Zeev Engelmayer 2025. Handschrift: "Hallo, I'm from Israel...."
„Daily Postcard“ von Zeev Engelmayer 2025

Lila: Viele meiner Dharmafreundinnen und -freunde unterstützen eine weitere Organisation, die keinen buddhistischen Hintergrund hat. Sie heißt The Road to Recovery und ihre Mitglieder fahren palästinensische Patientinnen und Patienten von der Grenze in israelische Krankenhäuser. Ich kenne sogar einen politisch sehr rechtsgerichteten Mann, der dort freiwillig hilft. So etwas ist überwältigend.

Als Privatperson erhalte ich viele Nachrichten von Menschen in Gaza, die mich über Facebook ausfindig machen und um Geld und Unterstützung bitten. Ich spende, wenn ich kann, und unterstütze Organisationen, denen ich vertraue. Als öffentliche Person spreche ich unablässig über die Notwendigkeit, die eigene Perspektive zu ändern. Ich spreche über Mitgefühl und darüber, das „Othering“ zu beenden, also sich nicht mehr von anderen Menschen als „den Anderen“ abzugrenzen. Das empfinde ich in dieser Zeit als meine Pflicht.

Betonen möchte ich, dass wir uns mit diesem Krieg in einer schrecklichen Notlage befinden. Ich wünsche mir persönlich, dass andere Länder eingreifen und helfen. Viele Israelis, die in Frieden leben wollen, fühlen sich von Netanjahus Regierung in die Irre geführt. Die Gräueltaten geschehen nicht in unserem Namen. Gleichzeitig sind wir nicht naiv: Wir wissen, dass Kräfte wie die Hamas die Vernichtung des Staates Israel und einige von ihnen sogar den Tod aller Jüdinnen und Juden wollen. Wie hält man diese beiden Realitäten zusammen? Ich finde die Antworten in der Praxis. Ohne sie wüsste ich nicht, wie man in dieser Situation überleben kann.

Muli: Für die Weltgemeinschaft ist es wichtig, zu verstehen, dass viele Israelis sehr empfindlich auf Kritik von außen reagieren. Sie sind darauf konditioniert worden, Kritik schnell als Antisemitismus abzutun, ohne zwischen berechtigter Kritik und Hass unterscheiden zu können. Viele Israelis verstehen nicht, dass ein Großteil der Kritik an unserem Land aus einer Enttäuschung herrührt. Wenn Israelis fragen, warum die Welt nicht genauso kritisch auf Syrien oder den Sudan blickt, frage ich zurück: Wollt ihr wirklich zu der gleichen Gruppe von Ländern gehören? Die Welt erwartet von Israel einen höheren Standard an Moral und Ethik. Kritik ist kein Hass, sondern ehrliche Enttäuschung darüber, wie wir uns verhalten.

Israel ist ein Staat, die Hamas ist eine Terrororganisation – es müssen unterschiedliche Maßstäbe gelten.

Muli: Genau. Viele in Israel glauben, man müsse sich, wenn man von Terroristen angegriffen wird, mit denselben Mitteln und derselben Sprache zur Wehr setzen. Sie begreifen nicht, dass man damit dem Terror zu einem Sieg verhilft, weil man selbst zu dem wird, was man bekämpft.

Ihr habt schon ein bisschen davon gesprochen, aber vielleicht können wir das noch vertiefen: Welche Rolle spielt die buddhistische Praxis für euch in dieser Zeit?

Muli: Meine persönliche Erfahrung ist, dass ich vom ersten Tag dieser Ereignisse an stabil geblieben bin. Mein Geist ist gefestigt, meine Emotionen sind stabil. Ich empfinde keine Angst, keine Not, keine Verzweiflung. Diese Stabilität schreibe ich den Jahren der Praxis zu.

Wenn man einfach nur präsent und einigermaßen gefestigt ist – in Gruppen, in der Sangha, bei Demonstrationen –, dann sehen die Menschen das, und es ist ein gewaltiger Beitrag. Man hält die Praxis aufrecht, bewahrt Gleichmut, hält das Herz offen. Man ist nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern bleibt in dieser verrückten Situation so, wie man vorher war. Das wirkt beruhigend. Es zeigt, dass wir selbst in einem solchen Wahnsinn noch atmen können. Was erleben in diesem Land eine außergewöhnliche, vielleicht einmalige Situation. Unsere Erfahrungen zeigen uns auf inspirierende Weise, dass ernsthafte Dharmapraktizierende auch in den schwierigsten Lagen handlungsfähig bleiben und anderen helfen können.

Lila: Wichtig ist auch, Menschen zum Handeln zu ermutigen und nicht nur im gegenwärtigen Zustand zu verharren. Das ist der zweite Flügel: Wir müssen aus der Hilflosigkeit hinaustreten. Jeder Mensch kann etwas Kleines tun.

Bernhard, ich nehme in dir den Schmerz eines Deutschen mit jüdischen Vorfahren wahr und spüre die familiäre Dramatik, die damit verbunden ist. Die Gräueltaten, die sich in Gaza abspielen, berühren so viele Menschen und Länder an ihren schmerzhaftesten Stellen, weil sie tiefsitzende Wunden aufreißen.

Wie oft hat man in den letzten Jahrzehnten die Frage gestellt: Wie konnte es sein, dass die Deutschen einfach stillhielten und nichts taten, als sechs Millionen Juden ermordet wurden? Ich glaube, einige der Antworten finden wir jetzt. Diese Zeit ist ein Realitätscheck für uns. Es geht nicht um „wir“ und „die“. Wenn man Menschen in eine schreckliche Lage bringt, einer Gehirnwäsche unterzieht und sie unter extreme Angst setzt, handeln sie entsprechend. Es ist unsere Pflicht, uns nicht in diesem Gefängnis fangen zu lassen und anderen zu helfen, daraus auszubrechen. 

Ich muss daran denken, wie seltsam und komplex die Geschichte meiner Familie ist. Mein Großvater musste sich anpassen, um seine „halbjüdische“ Frau und die gemeinsamen Kinder zu schützen. Die Kinder – mein Vater und sein Bruder – sangen wie zahllose andere Kinder in der Hitlerjugend antisemitische Lieder – Lieder, die im Grunde gegen sie selbst gerichtet waren. Sie erfuhren erst mit 17 oder 18 Jahren von ihren jüdischen Wurzeln, als ihre Eltern ihnen sagten, sie müssten sich vor den Werbern der Waffen-SS hüten, weil sie sonst entdeckt werden würden. Für sie war das ein Schock.

Lila: Was für eine unglaubliche Geschichte! Da sieht man, dass wir alle miteinander verbunden sind.

Muli: Mein Vater war ein Überlebender des Ghettos von Vilnius und des Konzentrationslagers Stutthof. Und meine Mutter gehörte als Flugbegleiterin zur Crew des Flugzeugs, das Adolf Eichmann nach seiner Entführung von Argentinien nach Israel brachte. Es ist alles miteinander verwoben.

Wie ist eure Beziehung als buddhistische Praktizierende zur jüdischen Religion? Und wie reagieren gläubige Jüdinnen und Juden auf euer buddhistisches Engagement?

Lila: In Israel ist die religiöse Identität eng mit der nationalen verknüpft. Weder Muli noch ich gehören fest einer Religion an, auch nicht dem Buddhismus. Ich würde sagen, wir sind jüdisch durch nationale Zugehörigkeit.

Ich habe kein Interesse an einer „-ismus“-Identität. Ich liebe den Dharma und schätze die Tiefe vieler Traditionen, die Nicht-Dualität des Hinduismus und die Kabbala. Aber ich folge keiner „Religion“. Wie der britische Dharmalehrer Christopher Titmuss einmal gesagt hat: „Ihr habt hier genug Religionen, ihr braucht nicht noch eine.“ Auch der Buddha war kein Buddhist – er praktizierte den Dharma zur Befreiung aller. Deshalb bezeichne ich mich nicht als Buddhistin. Das ermöglicht mir, ultraorthodoxe, muslimische oder christliche Menschen zu unterrichten – jeder Mensch, der zum Dharma kommen will, ist willkommen.

Muli: Ich empfinde die schrittweise Befreiung von der Notwendigkeit, eine starre Identität – sei sie national oder als Gruppe – aufrechtzuerhalten, als eine gesegnete Frucht langjähriger Praxis. Zugehörigkeit empfinde ich schon, aber diese Bindungen sind leicht und luftig. Ja, ich fühle mich als Teil des israelischen Volkes, des jüdischen Volkes und der globalen Dharmasangha. Aber ich nehme all das nicht wirklich ernst.

Oberflächlich gesehen fühle ich mich zuallererst als Israeli, eng verbunden mit der hebräischen, israelischen Kultur, nicht nur der jüdischen. Aber auf einer tieferen Ebene spielt das für mich keine Rolle.

Tovana-Retreat im Kibbuz Ein Dor: Menschen im Meditationssitz in der beleuchteten Dunkelheit
Tovana-Retreat im Kibbuz Ein Dor

Du hast über Gleichmut gesprochen. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen in Israel in einem Zustand der Verzweiflung und Hilflosigkeit verharren. Gibt es Hoffnung?

Muli: Natürlich. Das ist die Lektion der Vergänglichkeit, anicca. Erinnern wir uns an den Fall der Berliner Mauer, den über Jahrzehnte hinweg viele nicht für möglich gehalten hätten. Wir wissen nie, was als Nächstes geschieht. Im Retreat erleben wir das: Im Moment größter Ekstase weiß man nicht, ob nicht in der nächsten Stunde die Verzweiflung einsetzt – und umgekehrt. So funktioniert das Leben. Wir müssen einfach weiter das tun, was wir können, bescheiden, aber beharrlich, und dann das Leben seine Arbeit machen lassen.

Lila: Jeder Krieg findet irgendwann sein Ende. Auch dieser Krieg wird enden. Ich bete darum, dass wir den Tiefpunkt bereits erreicht haben. Die Praxis hilft uns, Resilienz aufzubauen. Es geht darum, das Relative und das Absolute nicht zu verwechseln. Wir müssen beides umfassen: Ja, es gibt unendlich viel Arbeit auf der relativen Ebene, aber wir brauchen auch eine weitere Sicht. Wir sehen, dass auch dieses Leiden vorübergehen wird. Wir sind, die richtigen Umstände vorausgesetzt, Geschöpfe der Liebe und des Mitgefühls. Die Buddhanatur ist in jeder und jedem vorhanden, in den Nukhba-Einheiten der Hamas ebenso wie in Netanjahu. Wenn die Bedingungen stimmen, kann diese Natur zum Vorschein kommen und die schönen Eigenschaften können erblühen.

Muli: Der Dalai Lama ist in diesen Zeiten eine enorme Inspiration. Er hat bewiesen, dass man die Prinzipien des Dharma auch als politischer Führer in der realen Welt leben kann, selbst angesichts schrecklicher Aggression. Er hat an friedlichen Mitteln festgehalten, obwohl viele in seinem eigenen Volk immer wieder gewaltsamen Widerstand forderten. Er ist ein lebendiges Beispiel dafür, dass es möglich ist, den Werten des Dharma treu zu bleiben, auch wenn das einen Preis fordert. Wir wissen nicht, wann sich die Lage grundsätzlich zum Besseren wendet – in fünfzig, hundert oder tausend Jahren. Aber der Dharma sollte unsere Inspiration sein.

Ich bin sehr dankbar, dass dieses Gespräch zustande gekommen ist, und hoffe, dass wir damit eine breitere Perspektive vermitteln können.

Lila: Danke für deine Fürsorge und viel Glück. Wir alle müssen immer wieder tief durchatmen, denn wir laufen hier einen Marathon.

Muli: Ja, auch ich möchte dir danken, lieber Bernhard: für dein Interesse und für deine Bemühungen, dieses Gespräch möglich zu machen.

Muli Glezer

begann seine Reise zum Dharma 1998 in Indien. Seitdem hat ihn seine Praxis in Klöster und Zentren in Thailand, Australien, Europa, den USA und Israel geführt, wo er auf Retreats umfassende Erfahrungen in der Einsichtsmeditation (Vipassana) sammeln konnte. Heute lebt er mit seiner Frau und zwei Töchtern in Tel Aviv. Seinen beruflichen Hintergrund hat er in den Feldern Unternehmensstrategie, Business Development, Marketing und Werbung. Seit 2012 widmet er einen wachsenden Teil seines Lebens der Aufgabe, ganz normale Menschen auf ihrem Meditationsweg zu begleiten. Sein Anliegen ist, ihnen zu helfen, die buddhistischen Lehren zu verstehen, ihr Herz zu öffnen und ein erfülltes Leben in einer herausfordernden Welt zu führen.

Alle Beiträge Muli Glezer

Lila Kimhi

praktiziert und unterrichtet seit über zwei Jahrzehnten Einsichtsmeditation, Achtsamkeit und die Dharmalehren in Israel und weltweit. Sie hat lange Jahre mit Studium und Praxis in der Abgeschiedenheit von Klöstern, Ashrams und Meditationszentren verbracht, sowohl in der buddhistischen als auch in der hinduistischen Tradition (Nicht-Dualität, Advaita). Sie hat einen Bachelor in Psychologie sowie einen Master in Indologie und Sanskrit. Heute unterrichtet sie für den Tovana-Verband, das Mind Body Center und andere gemeinnützige Organisationen und leitet Retreats und Workshops für Gruppen wie Einzelpersonen. Sie lebt und lehrt in Aley-Adamot, einem von ihr gegründeten ökospirituellen Zentrum in der jüdischen Siedlung Luzit in der judäischen Ebene in Israel. In ihrem Unterricht betont sie die große Bedeutung der Gemeinschaft, die Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt und unserer radikalen Verantwortung für beide. Auch zeigt sie Wege auf, wie das innere Wirken des Dharma Menschen bereits in diesem Leben befreien und glücklich machen kann.
.

Alle Beiträge Lila Kimhi