Aufwachen in Plum Village

Ein Interview mit Lea Willer, Raúl Semmler geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/2 Diversity unter der Rubrik Buddhismus Heute.

Als sie 18 war, fragte Lea Willer den vietnamesischen Zen-Lehrer Thich Nhat Hanh bei einem Retreat in Berlin, ob sie auch nur für eine gewisse Zeit Nonne werden könne. Seine Antwort fiel überraschend anders aus als erwartet: in seiner Klostergemeinschaft Plum Village gebe es Vorbereitungskurse für das Heiraten. Seitdem hat sich einiges verändert und junge Menschen wissen das sehr zu schätzen. Lea Willer über neue Formen eines jungen, engagierten Buddhismus. Fotos: Mercia Moseley

Was macht die 2 500 Jahre alte Lehre des Buddha für Menschen meiner Generation, die 20- bis 30-Jährigen, attraktiv? Was kann engagierter Buddhismus heutzutage für die Erde tun? Wie können wir uns gut um sie und um uns kümmern? „Enjoy the living dharma“ – genieße das lebendige Dharma – hat mir eine Nonne im französischen Plum Village 2017 in ein Teeglas graviert. Anschließend habe ich oft darüber nachgedacht, was genau damit gemeint sein könnte. Schließlich las ich in einem Buch von Thay, wie wir Schülerinnen und Schüler ihn nennen, dass die Lehre des Buddha, das Dharma, lebendig gehalten werden müsse, also zeitgemäß angepasst und, wenn nötig, auch erweitert.

Eine Reformierung des Buddhismus lag Thich Nhat Hanh schon früh am Herzen. Daher wurden und werden auch die ethischen Grundsätze der Tradition, fünf Übungen der Achtsamkeit genannt, immer wieder um- und ausformuliert. Diese Übungen beruhen letztlich auf den Silas, also auf den buddhistischen Grundregeln zur Entwicklung von Sittlichkeit. Sie umfassen: nicht töten, nicht stehlen, Sexualität nicht missbrauchen, nicht lügen und keine berauschenden Mittel einnehmen. Junge Menschen in der Plum-Village-Tradition haben heute auch die Möglichkeit, das klösterliche Leben für einige Jahre zu teilen, wie ich es mir damals gewünscht habe. Dafür gibt es mittlerweile das „five year program“, bei dem sich Menschen bis 35 für fünf Jahre ordinieren lassen können, um mit den anderen Mönchen und Nonnen zu leben und zu lernen. Diese Veränderung zeigt den Geist der Offenheit, den Thay seit über 70 Jahren lebt und lehrt und der mich von Anfang an fasziniert und begeistert hat.

Das Wake up Earth Retreat

Plum Village in der Nähe von Bordeaux im Südwesten Frankreichs ist das größte internationale Übungszentrum in der Tradition von Thich Nhat Hanh und die erste Klostergemeinschaft, die er im Westen gegründet hat. Hier findet seit einigen Jahren jeden Sommer das „Wake up Earth Retreat“ statt. Junge Menschen von 18 bis 35 Jahren kommen zusammen, um sich eine Woche lang mit Themen wie Umweltschutz, ökologischer Landwirtschaft, veganer Ernährung, Aktivismus und vielem mehr zu beschäftigen. Wie bei anderen Plum-Village-Retreats wird auch hier achtsam gegessen, gesessen, geredet, gedient, gegangen und entspannt.

Das Besondere an diesem Retreat sind die vielen Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Weil ein moderner Buddhismus sich auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen befassen sollte, gibt es Workshops zu wichtigen Themen – von veganem Essen über ökologische Textilproduktion, Permakultur bis hin zu Selbstmitgefühl und Pilgerreisen auf den Spuren des historischen Buddha. Seit 2017 rücken auch die Themen Gender, sexuelle Identität und Gesellschaft verstärkt in den Vordergrund, weil sich die monastische Sangha diesem Thema gegenüber, das von jungen Praktizierenden an sie herangetragen wurde, inzwischen erfreulich weit geöffnet hat. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist die „Rainbow-Family“ (LGBTIQ, also lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell und queer), die dieses Jahr zum zweiten Mal beim Wake up Earth Retreat vertreten war. Am „sexual orientation day“ gab es die Möglichkeit, sich unter Frauen, Männern und jetzt eben auch LGBTIQ über Fragen der Sexualität und des Beziehungslebens auszutauschen.

Dazu kommen viele weitere Angebote: Es gibt sowohl ein regional lunch, ein Mittagessen, wo man sich länderweise zusammenfindet, als auch einen affinity lunch, bei dem Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst Gruppen zu Themen initiieren, die sie interessieren. Auch die Freude, die in der Plum-Village-Tradition eine große Rolle spielt, kommt nicht zu kurz. Am Ende des Retreats wird das Earth Festival gefeiert, wo man zusammen singt, musiziert, Sketche aufführt und hin und wieder der Achtsamkeitsglocke lauscht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Die Stimmung ist unglaublich! Dieses Jahr kamen wieder rund 500 junge Menschen – und es wären sicher noch mehr gekommen, wenn die Kapazitäten da gewesen wären. Die Plätze waren innerhalb von dreißig Minuten ausgebucht.

Wake Up Earth Retreat 2019

INTERVIEW

Lea Willer und Raúl Semmler

„Fußball spielen, lachen, weinen, atmen“

Mein bester Freund Raúl war dieses Jahr zum ersten Mal in Plum Village. Er hat die Achtsamkeitsübungen am Ende des Retreats bei einer offiziellen Zeremonie für sich angenommen. Im folgenden Interview erfahrt ihr, was ihn dazu bewogen und wie er das Wake up Earth Retreat erlebt hat.

Beschreib mal deine Erfahrungen auf dem Wake up Earth Retreat in drei Stichworten. 

Superleckeres Tempeh. Atemberaubende Natur. Gender-Tag bei den Männern – ritusartig ums Feuer tanzen und sich in Trance singen. Jederzeit könnte einer reinspringen. 

Und was hat dich besonders beeindruckt oder berührt? 

Dass die Mönche und Nonnen selbst immer wieder betonen, dass sie üben. Jedenfalls habe ich ihr Wort practice für mich so übersetzt. Dass sie all ihre Lebenserfahrung mit in ihre Praxis nehmen und einen Buddhismus leben, der undogmatisch und nah am „normalen“ Alltag ist. Dadurch wa-ren viele Anknüpfungs- und Berührungspunkte da. 

Raul und Lea
Wake Up Earth Retreat 2019
Wake Up Earth Retreat 2019

Wir haben ja alle einen Tag auf der Happy Farm gearbeitet, die achtsames Leben mit ökologischer Landwirtschaft verbindet. Wie hat dir das gefallen? 

Was für Ökos … nee, voll toll. Barfuß, nah an der Erde zu sein, achtsam australischen Spinat zu pflücken, immer wieder zurück zum Atem zu kommen und am Ende reife Himbeeren zu mopsen – das war ein schöner Nachmittag! Ich selbst habe mal in einem Gemeinschaftsgarten mitgewirkt, aber in so einer Größenordnung und mit der Anfangsansage „Wenn ihr Pause machen wollt, dann macht Pause, wenn ihr euch hinlegen wollt, legt euch hin, wenn ihr was essen wollt, esst“ war das natürlich etwas ganz anderes als einfach nur Gartenarbeit. Und dann kam immer mal wieder jemand vorbei und hat dich hiervon oder davon probieren lassen. Highlight: Cocktailtomaten mit Basilikum. 

Du hast an einem Workshop der Gruppe Extinction Rebellion (XR) teilgenommen, die gewaltfreie Aktionen zum Thema Klimakrise im öffentlichen Raum macht. Was ist da passiert? 

Es waren zehn Mitglieder der Londoner Gruppe von Extinction Rebellion nach Plum Village eingeladen. Manche davon praktizieren in der Plum-Village-Tradition, andere nicht. Der Workshop war aufrüttelnd und erschreckend aufgrund der Fakten, alarmierend – und viel zu kurz. Besonders spannend und kreativ fand ich, was die XR-Aktivistinnen und -Aktivisten aus den Niederlanden so tun. Einmal haben sie zum Beispiel im Gebäude des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag eine Sitzblockade organisiert. Das hohe Gericht hat eine Sitzung unterbrochen, um sich das Ganze anzuschauen, sie haben von den Richterinnen und Richtern und Mitarbeitern dort Applaus und eine sehr positive Resonanz bekommen. Die Polizei hat die Aktion erst nach zwei Stunden angefangen aufzulösen, da es so lange gedauert hat, um dafür nach einer Rechtsgrundlage zu forschen, da es ja dort ein eigenes Sicherheitspersonal gibt. Aktionen, die kreativ, ungehorsam, gewaltfrei an die Regierung gerichtet sind und nicht einzelne Unternehmen bashen – das ist deren Ziel und sie kriegen es laut ihren Erzählungen sehr gut hin und haben damit einigen Erfolg, so wie es ausschaut. Das hat mich ermutigt, mich auch wieder politisch zu betätigen. 

Was hat dich dazu bewogen, die fünf Achtsamkeitsübungen am Ende des Retreats in einer offiziellen Zeremonie anzunehmen?

Ich lebe eh schon zu einem großen Teil seit mehreren Jahren nach den Achtsamkeitsübungen. Ich esse vegan, versuche Leid zu mindern auf der Erde, konsumiere bewusst und achtsam, und es hat mich natürlich auch gereizt, mich dem ganz offiziell noch mehr zu verschreiben. 

Was hast du aus Plum Village für deinen Alltag mitgenommen? 

Ich denke, ich habe eine ganze Menge mitgenommen: achtsames Essen und Kaffee trinken, auch generell länger und weniger essen zum Beispiel. Auch die Wichtigkeit täglicher Meditation ist mir nochmal bewusst geworden, das möchte ich in meinen Alltag einbinden und einfach generell mehr auf mich selbst achten, die Nähe zur Natur suchen und nach einer Sangha Ausschau halten. In Bezug auf meine Emotionen habe ich gelernt, dass es darum geht, sie genau zu beobachten, sie nicht zu verdrängen, sie aber auch nicht zu befeuern. Und für den Rest gilt: lächeln, wo es geht, und Dinge gehen lassen. 

Gab es etwas, das dich positiv überrascht hat? 

Die Lockerheit der Mönche. Und dass sie angeblich sogar manchmal „fist fights“, also richtige Faustkämpfe, hätten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das eher ein Witz und übertragen gemeint war. Auch die Offenheit in den „dharma sharings“ hat mich überrascht, wo es um achtsamen Austausch ging und dass jede und jeder über persönliche Erfahrungen und die eigene Praxis sprechen konnte. 

Dann hatte ich mir an einem Tag einen Knöchel verstaucht. Ich fand es toll, wie oft jemand kam und nach meinem Befinden fragte. Überhaupt habe ich in dieser Woche sehr fürsorgliche Menschen erlebt. 

Gab es etwas, das total anders war, als du es dir vorgestellt hattest? 

Die Natur. Die war schön. Hab es mir von den Bildern her anders vorgestellt. Nicht schlechter oder besser, einfach anders. 

Wie fandest du es, dass es eine Rainbow-Family für LGBTIQ- Menschen gab? 

Ich mochte die Offenheit. Ich kann mir kein anderes geistliches Kloster vorstellen, in dem mit diesen Themen so offen umgegangen wird.

In dem Wake up Earth Retreat ging es ja auch viel um „community buildung“, also darum, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, zusammenzuleben und gemeinsam zu praktizieren. Für mich ist das so etwas wie ein Qualitätsmerkmal der Plum-Village-Tradition. Wie ging es dir damit – hat dich diese Idee auch angesprochen?

Generell finde ich es toll, wenn man in seiner Umgebung immer wieder mit Menschen, die nach den gleichen Grund- sätzen leben, zusammenkommen und sich austauschen kann, weil man dann oft die gleiche Sprache spricht. Auch mag ich es, immer mal wieder mit Männern zusammenzukommen, die über Männerthemen reden, ohne dass es irgend etwas damit zu tun hätte, miteinander zu konkurrieren. Das mochte ich auch sehr am Gender-Tag bei den Männern. Aber ich glaube, die große Kunst bei so einer Glaubensrichtung oder Lebensphilosophie ist es, im Alltag mit anderen Menschen gut auszukommen, die Leitsätze anzuwenden und trotzdem das Gegenüber nicht zwingen oder überzeugen zu wollen, dass Zen-Buddhismus nach Thay das Beste, Wichtigste, Einzige ist, wonach alle leben sollen. Ich glaube, nur so kann man Stück für Stück Achtsamkeit in das Leben aller einfließen lassen.

Würdest du wieder zu einem Wake up Earth Retreat kommen?

Ich denke ja. Weil ich sehr gut abschalten, entspannen, zu mir kommen, tanzen, singen, essen, working meditation ma- chen kann, also achtsames Arbeiten und achtsames Tun. Ich kann mich mit Gleichgesinnten austauschen, Tischtennis spielen, mindful wandern, Fußball spielen, lachen, weinen, atmen … und sogar leckeres Eis essen! 

Weitere Informationen: plumvillage.org/retreats/info/wake-up-earth-retreat/

Lea Willer

Dharma-Name „Leuchtende Geduld des Herzens“, praktiziert seit dem Jahr 2000 in der Plum-Village-Tradition. 2016/17 lebte und praktizierte sie sechs Monate in einer Wake-up-Wohngemeinschaft in Berlin und sieben Monate in Plum Village in Frankreich.

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