Auf dem Weg der Gewaltlosigkeit

Ein Beitrag von Werner Heidenreich veröffentlicht in der Ausgabe 2023/1 Sprechen unter der Rubrik Buddhismus und Gesellschaft.

Geht es um eine Antwort auf Krieg und Gewalt nimmt ahimsa, die gewaltlose Friedfertigkeit, in den buddhistischen Lehren eine zentrale Stellung ein. Sie folgt nicht allein ethischen Normen, sondern beruht auf einer geistigen Haltung, die aus dem Herzen erwächst und das gesamte Leben eines Menschen prägen sollte.
Gedanken zu Krieg und Frieden von Werner Heidenreich.

Wer absteht von Gewalt bei schwachen und bei starken Wesen,

Nicht tötet und nicht töten lässt, den nenne einen Priester ich.

Wer ohne Feindlichkeit ist unter Feinden, inmitten von Gewalttat friedlich ist,

Wer nicht mehr greift, wo andere gierig raffen, den nenne einen Priester ich.

Von dem da abgeglitten Gier und Hass, auch Dünkel und die Heuchelei,

Wie’s Senfkorn von der Nadelspitze fällt, den nenne einen Priester ich.

Milde, belehrende und wahre Worte, wer nur solche spricht,

Durch die er niemanden verletzt, den nenne einen Priester ich.

Sutta Nipata, Vasettha Sutta
Nach einem Raktenangriff auf die Stadt Kiew in der Ukraine

So umfassend wie in dieser Predigt an seine Mönche und Nonnen lehrte der Buddha die Friedfertigkeit. In den buddhistischen Quellen gibt es viele ähnliche Erklärungen. Sie alle plädieren für ein grundlegend gewaltfreies Leben. Dazu kommen ausführliche, präzise Anleitungen zum Training des Geistes, damit er friedlich und allen Wesen gegenüber wohlwollend werden kann. Das heißt nicht, dass dies allen Buddhistinnen und Buddhisten schon gelungen sei. Doch dessen ungeachtet besteht das buddhistische Ideal darin, den eigenen Geist so zu beherrschen, dass sie als Siegerin und Sieger über ihn gelten können. 

Was bedeutet dies, wenn ein Krieg herrscht? Es bedeutet, sich nicht mitreißen zu lassen von hetzerischer Kriegspropaganda, von kriegstypischen Feindseligkeiten, von Hass und Rache und sich nicht an ausufernden Aggressionen und Gewalttätigkeiten zu beteiligen. 

Der Verlauf des Ukrainekrieges zeigt deutlich, wie schnell sich Gewalt im Krieg immer weiter aufschaukelt. Anfangs war es beherzten Ukrainerinnen und Ukrainern noch möglich, sich russischen Soldaten mit mahnenden Pappschildern in den Weg zu stellen. Bereits wenige Wochen später wurden die ersten Gräueltaten bekannt, denen Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Mittlerweile verbrennen gigantische Feuerwalzen der russischen Artillerie Dörfer und Städte und töten und verletzen Tausende; ein Ende ist noch nicht abzusehen.

Wenn Worte versagen

Das kurze Wörtchen „Krieg“ geht schnell über die Lippen und gaukelt uns vor, es handele sich dabei um etwas, das in den Griff zu bekommen sei, das sich überschauen und in unsere alltägliche Erfahrungswelt einreihen lasse. Die dramatischen und zerstörerischen Dimensionen eines Krieges bleiben dahinter verborgen und können nicht vermittelt werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es in dem zerstörten Europa flächendeckend: „Nie wieder Krieg!“ Die Menschen hatten in zwei Weltkriegen innerhalb weniger Jahrzehnte erleben müssen, was Krieg tatsächlich bedeutet, welche Grausamkeiten und Zerstörungen zu ihm gehören, wie entfesselt und unkontrollierbar seine Gewalt werden kann. 

Dem Krieg liegt eine Sicht zu Grunde, die Menschen in Gut und Böse, Freund und Feind aufteilt und die davon ausgeht, dass mit Töten und Zerstören Probleme gelöst werden könnten. Eine Sicht, die nicht erkennt, dass jeder Akt von Gewalt nicht nur dem Opfer schadet, sondern immer auch auf den Aggressor zurückschlägt. 

Diese Sicht leugnet die umfassende Verbundenheit allen Lebens, die gegenseitige Bedingtheit, die der vietnamesische buddhistische Meister Thich Nhat Hanh mit dem Wort „Intersein“ bezeichnet hat. Öffnen wir unsere Augen und erkennen unser Intersein mit der Welt, wird es uns unmöglich, Krieg zu führen.

Eine Antwort des Buddhismus auf Krieg und Zerstörung kann daher nur darin bestehen, dass wir uns mit allen unseren Möglichkeiten für sein Ende einsetzen. Gleich ob wir uns auf der Seite der Verteidigerinnen und Verteidiger gegen einen Überfall befinden oder im Land des Aggressors leben – wir sollten für einen sofortigen Stopp des Krieges eintreten und mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu seinem Ende beitragen wollen.

Es gibt bekannte Buddhistinnen und Buddhisten unserer Zeit, die uns eindrücklich vorgelebt haben oder noch vorleben, wie sich das persönlich umsetzen lässt. Drei von ihnen möchte ich hier genauer betrachten – den Dalai Lama, Thich Nhat Hanh und den Kambodschaner Maha Gosananda.

Das weltweit berühmte Oberhaupt der tibetischen Buddhistinnen und Buddhisten, der XIV. Dalai Lama, musste nach dem Überfall Chinas aus Tibet flüchten und lebt seitdem im Exil in Indien. Seit über 70 Jahren steht Tibet nun unter der Herrschaft Chinas und wird wohl auch zukünftig dessen Provinz bleiben. Den fortschreitenden Prozess der kulturellen und politischen Vereinnahmung und Zerstörung steht der Dalai Lama machtlos gegenüber – ein Umstand, der sicherlich ausreichend Anlass geben würde, um sich mit aggressiven und nach Rache und Vergeltung strebenden Aktionen gegen diese Entwicklung stemmen zu wollen. Doch wer ihn bei einem seiner vielen öffentlichen Auftritte sehen konnte, erlebte einen humorvollen, zentriert wirkenden Menschen, der von Frieden und Versöhnung sprach und allen Menschen Glück wünschte. Sein unermüdlicher Einsatz für Frieden in der Welt brachte ihm 1989 den Friedensnobelpreis ein.

Gedenkstupa auf den killing fields. Zur Erinnerung an die Opfer der Gewaltherrschaft der Roten Khmer, Phnom Penh, Kambodscha.

Kein Unterschied zwischen den Opfern

Für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde auch Thich Nhat Hanh, der als junger Mönch den Krieg in Vietnam unmittelbar miterlebte. Statt sich wie viele andere buddhistische Mönche hinter Klostermauern vor dem Elend und der Not im Land zu verstecken, organisierte er Hilfsmaßnahmen und wirkte an der Gründung einer Universität für Sozialarbeit mit. Weil er zwischen den Kriegsopfern keine Unterschiede machte, also weder die Kommunistinnen und Kommunisten noch ihre politischen Gegnerinnen und Gegner guthieß, und weil er für einen sofortigen Frieden eintrat, wurden er und alle, die ihn unterstützen, verfolgt und einige von ihnen sogar ermordet.

Auch Thich Nhat Hanh musste seine Heimat verlassen: Als er sich Ende der 1960er-Jahre in den USA zusammen mit Martin Luther King für ein Stopp des Krieges einsetzte, verweigerte ihm die Regierung seines Landes die Rückreise, er galt ihr fortan als Unterstützer der Kommunisten. Als diese später den Krieg gewannen, ließen auch sie ihn nicht zurückkehren: Sie hielten ihn für einen Antikommunisten.

Thich Nhat Hanhs Reaktionen auf all diese Entwicklungen blieben auch im Exil konsequent gewaltlos und überparteilich. Er engagierte sich für Aussöhnung, und weltweit strömten seinem zunächst noch recht kleinen Laienorden Intersein, der sich für Frieden und Versöhnung engagierte, neue Mitglieder zu. Thich Nhat Hanh bot in den USA trotz der Kriegsverbrechen, die US-Soldaten in seinem Land verübt hatten, US-Vietnamveteranen spezielle Retreats an. Er wollte ihnen helfen, ihre Kriegstraumata zu heilen oder mit ihnen besser leben zu lernen. 

Der buddhistische Weg war für Thich Nhat Hanh ein Weg der Transformation von Gewalt, Hass und Verzweiflung und das Leiden ein Bestandteil des Lebens, dem wir nicht entgehen können, den wir aber transformieren können. Der Lotus mit seiner großen hellen Blüte ist im Buddhismus ein Zeichen für Reinheit; er kann nur gedeihen, wenn er im Schlamm des Wassers wurzelt. „No mud, no Lotos“, ist auf einer berühmten Kalligrafie des vietnamesischen Zen-Meister zu lesen. 

Nach der Gewaltherrschaft in Kambodscha

Den Weg der konsequenten Friedfertigkeit hat auch Maha Gosananda beschritten. In seiner Heimat Kambodscha wurden unter der Herrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 mehr als zwei Millionen Menschen ermordet – durch Hinrichtung, Zwangsarbeit, Hunger und mangelhafte medizinische Versorgung. Der hoch angesehene Mönch Maha Gosananda verlor den Großteil seiner Familie, flüchtete nach Thailand ins Exil, lebte dort in Klöstern, in denen er Vipassana und die Meditation der liebenden Güte (metta) praktizierte. 

Nach dem Ende der Diktatur kehrte er zurück nach Kambodscha und verteilte Kopien des Metta-Sutra an die traumatisierte und orientierungslose Bevölkerung. Zu jener Zeit gab es in Kambodscha noch Regionen, in denen ehemalige Rote-Khmer-Soldaten lebten und weiterhin tödliche Anschläge verübten. Dennoch entschied sich Maha Gosananda zu ausgedehnten Friedensmärschen auch durch diese Gebiete, um eine Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern möglich zu machen.

In all seinen Publikationen und Reden stand das Bemühen um einen offenen und von generellem Wohlwollen getragenen Geist im Mittelpunkt. Wer Maha Gosananda persönlich begegnete, konnte sehen, dass dieser stets freundlich lächelnde Mönch unmöglich Gewalt ausüben und Krieg führen konnte.

Gemeinsam mit dem thailändischen Soziologieprofessor und Buddhisten Sulak Sivaraksa, Träger des alternativen Nobelpreises, gründeten der Dalai Lama, Maha Gosananda und Thich Nhat Hanh das weltumspannende Netzwerk des engagierten Buddhismus. Damit machten sie deutlich: Das wichtigste Engagement gegen den Krieg ist die Erhaltung und Stabilisierung des Friedens. Das Bemühen um einen friedlichen Geist steht im Mittelpunkt buddhistischer Praxis und stellt die wichtigste Voraussetzung für ein friedliches Miteinander dar. 

Thich Nhat Hanh warnte davor, zu glauben, dass allein die Abwesenheit von Krieg Frieden bedeuten würde. Wenn wir tief in die Waffen hineinblicken, so unterstrich er, sehen wir unser eigenes Denken – unsere eigenen Vorurteile und Ängste, unsere eigene Unwissenheit. Selbst wenn wir alle Waffen der Welt auf den Mond verfrachten könnten, wären die Wurzeln des Krieges immer noch da, in unseren Herzen und Köpfen, und früher oder später würden wir beginnen neue Bomben zu bauen. Für den Frieden zu arbeiten bedeutet für Thich Nhat Hanh, den Dalai Lama und Maha Gosananda, den Krieg in unserem eigenen Herzen zu beenden. 

Der unlängst verstorbene Michail Gorbatschow wollte ein friedliches Europa schaffen, entließ dafür sogar von Russland abhängige Staaten in ihre politische Souveränität und machte den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands frei. Dabei hoffte er auf den gesunden Menschenverstand der anderen, die seine Vision unterstützen würden. Der Menschenverstand ist gesund, wenn er sich nicht in Verblendung verfängt, sich nicht von Fanatismus und Ideologie dazu verleiten lässt, Menschen zu unterteilen und auszugrenzen. Gebraucht wird dafür ein Geist, der nicht der Gier folgt, sondern sich, von Empathie getragen, mit allen Menschen verbunden fühlt und das Wohl aller anstrebt.

Schauen wir auf das heutige Russland und den Ukrainekrieg, sehen wir: Gorbatschow hat sich mit seiner Vision nicht durchsetzen können. Auch die oben beschriebenen buddhistischen Leitfiguren konnten Krieg und Gewalt nicht verhindern. Dennoch erinnern sie alle die Menschheit an ihre eigentliche Qualität und Aufgabe, nämlich aus dem Schlamm heraus zur leuchtend reinen Lotusblüte zu streben. Wir brauchen Menschen und Gruppen, die den Weg der Gewaltlosigkeit konsequent gehen und viele weitere Menschen dazu bringen, sich mit auf diesen Weg zu begeben. 

Keine politischen Strategien

Der Buddhismus liefert weder politischen Strategien noch konkrete Antworten auf die politischen Herausforderungen unserer Zeit. Die müssen wir schon selbst entwickeln. Wir finden aber in seiner Lehre genau beschriebene Übungen, die uns helfen, in allen Situationen, also auch in Zeiten des Krieges, unsere geistige Haltung friedvoll werden zu lassen und uns von Feindseligkeit und Fanatismus fernzuhalten.

Dies könnte auch die Antwort des Buddhismus auf den Krieg in der Ukraine, auf jeden anderen Krieg und jede Form von Gewalt und Aggression sein. Es mag naiv klingen und löst kriegerische Konflikte nicht unmittelbar. Aber es greift zu kurz, wenn wir Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit nur an ihrer Wirkung auf Kriege messen. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die sich auf der Basis von Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit dafür einsetzen, Konflikte zu lösen, bevor sie zu Aggression und Kampf anschwellen können.

Wie wir im Falle eines Krieges konkret reagieren sollten, kann jede und jeder nur individuell und aus der persönlichen Situation heraus beantworten. Es gibt ernsthafte Buddhistinnen und Buddhisten, die der Ukraine nicht nur das Recht auf Verteidigung zubilligen, sondern auch die Unterstützung des Landes durch Waffen befürworten. Andere billigen genau das nicht und bestehen auf einem konsequenten Pazifismus, selbst wenn das zur Besetzung und Unterdrückung des eigenen Landes führen würde. 

Persönlich habe ich als junger Mann den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert. Ich musste die Ernsthaftigkeit meiner Entscheidung vor einer Prüfungsstelle und danach sogar noch vor Gericht nachweisen, wurde anerkannt und kann auch aus heutiger Sicht sagen: zu Recht anerkannt. Ich möchte keinen Krieg gutheißen, den ich nicht selbst auch führen könnte. Krieg war damals und ist auch heute noch in meinen Augen die höchste Stufe der Grausamkeit und die Manifestation des „Höllenbereichs“, von dem die buddhistische Lehre spricht.  

Mit Johann Galtung, dem berühmten norwegischen Friedensforscher und Träger des alternativen Friedensnobelpreises glaube ich fest daran, dass Menschen die Sehnsucht und innere Kraft besitzen, Probleme anders als mit Gewalt zu lösen – durch Mitgefühl, Wissen, Kreativität, einen langen Atem und durch ihre Fähigkeit, sich bessere Zeiten vorzustellen und dafür zu engagieren.

Werner Heidenreich

praktiziert seit 30 Jahren Meditation und Achtsamkeit und leitet dazu Seminare, Meditationsgruppen und Gesprächskreise, insbesondere zu Achtsamkeit in der Kommunikation und in der Schule. 2006 erschien im Diederichs Verlag sein Buch „In Achtsamkeit zueinander finden – Die buddhistische Sprache der Liebe“.

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