Achtsamkeit und der buddhistische Befreiungsweg
Achtsamkeit ist die im frühen Buddhismus am ausführlichsten beschriebene und praktizierte Form der Meditation. Welche Rolle die Achtsamkeit im Rahmen des buddhistischen Befreiungsweges spielt, beschreibt Peter Gäng.
Achtsamkeit ist als zentraler Bestandteil des buddhistischen Befreiungsweges eingebettet in ein komplexes System von Meditationsformen, ethischen Richtlinien und Verhaltensweisen. Leitfaden dieser buddhistischen Praxis ist der sogenannte Achtfache oder Achtgliedrige Weg. Er umfasst:
Rechte Sichtweise (die Einsicht, dass ich nicht alleine und von allein in der Welt bin und dass mein Verhalten, sei es
gut oder schlecht, Folgen hat);
Rechte Absicht/rechter Entschluss (der Entschluss, in dieser Welt, in der ich lebe und der ich mein Leben verdanke, wenn es geht, Positives zu bewirken, aber zumindest möglichst wenig Unheil anzurichten);
Rechte Rede (mit der man weder sich selbst noch andere verletzt, Vermeiden von Lügen, Verleumden, Grobheit);
Rechtes Handeln (Vermeiden von Gewalt, Töten, Diebstahl, Abstandnehmen von unangemessenem sexuellem Verhalten);
Rechter Lebenserwerb (ohne Betrügereien, nicht von Gier getrieben);
Rechtes Bemühen (Bemühen, das Richtige zu tun und das Falsche zu vermeiden);
Rechte Achtsamkeit (nach innen und nach außen gerichtete Achtsamkeit, um zu erkennen, was geschieht, was ich tue, was in mir vorgeht);
Rechte Konzentration (die Fähigkeit, den Geist auf einen Punkt oder eine Gegebenheit zu konzentrieren und dabei-zubleiben)
Der indische Begriff, der hier mit „recht“ wiedergegeben ist, hat einen sehr weiten Bedeutungsraum: verbunden, gemeinsam, einander zugewandt, würdigend, vollständig, ganz, zusammengehörig. Und von daher eben auch: richtig, in rechter Weise. Die Reihenfolge der acht Glieder des Weges ist keine zeitliche oder gar wertende Reihenfolge, vielmehr sind sie unauflöslich miteinander verbunden. So wird in der in Anmerkung erwähnten Lehrrede ausdrücklich betont, dass sich jedes der Glieder zusammen mit rechter Sichtweise, rechtem Bemühen und rechter Achtsamkeit entwickelt.
Rechte Sichtweise ist dabei die geistige Orientierung am Achtfachen Pfad. Dieser Weg fordert von uns einige Entwicklungen und Veränderungen, die uns nicht einfach zufallen, sondern um die wir uns bemühen müssen. Dass Achtsamkeit in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Rolle spielt, ist offensichtlich: Wie könnte ich ohne Achtsamkeit merken, wenn ich jemanden verletze, wenn ich Unheil anrichte, wie könnte ich meine manchmal gar nicht so edlen Motive erkennen, wie durchschauen, wohin mich mein Verhalten führt, wo ich mich verstricke, verirre und wie ich wieder zurückfinden kann? Und ebenso offensichtlich ist, dass dies nur mit einem gewissen Maß an geistiger Konzentration funktionieren kann.
Nun sind darüber hinaus in diesem Gefüge drei Meditationsformen enthalten: Achtsamkeit, Konzentration oder geistige Sammlung und – ohne dass es explizit erwähnt wäre – liebevolle Zuwendung (meistens mit „liebende Güte“ übersetzt). Letztere wird oft als eine Voraussetzung für die Richtigkeit von Absichten, Rede, Verhalten und Lebenserwerb betrachtet. Dass diese Meditationsformen nicht isoliert werden können, sondern eben als Bestandteile dieses Weges ihre Funktion haben, wird immer wieder betont. Von daher kann man sie quasi als „Trockenübungen“ betrachten (und natürlich praktizieren!), die dann ihrerseits die anderen Glieder des Weges mitgestalten.
Liebevolle Zuwendung wird traditionell als einer der vier unermesslichen oder grenzenlosen Geisteszustände geübt; der Reihe nach: liebevolle Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Nach der traditionellen Formulierung verweilt man „mit einem Geist voller liebevoller Zuwendung eine Richtung durchdringend, genauso die zweite, genauso die dritte, genauso die vierte. So verweilt man oben, unten und ringsum, überall, sich in allem selbst erkennend, die ganze Welt mit einem Geist voller liebevoller Zuwendung durchdringend, ausgedehnt und grenzenlos, unermesslich, ohne Feindschaft und ohne Hass.“ Analog werden auch Mitgefühl, Mitfreude und gleichmütiges Akzeptieren praktiziert. Für sich genommen kann diese Meditation zu sehr angenehmen und beglückenden Gefühlszuständen führen, bei denen man sich mit der ganzen Welt, dem ganzen Universum eins fühlt. Ihren eigentlichen Sinn innerhalb des buddhistischen Weges erhält diese Meditationsform jedoch dadurch, dass man mit ihr eine Grundstimmung einübt, die im praktischen Leben auf die Verhaltensweisen verweist, die als rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln und rechter Lebenserwerb charakterisiert werden.
Häufig wird einer der ersten Schritte auf dem buddhistischen Weg so beschrieben: „Das Verletzen von Lebewesen hat er
hinter sich gelassen, vom Verletzen von Lebewesen hält er sich fern, Waffen hat er abgelegt, er ist bescheiden und zugewandt, er lebt freundlich und mitfühlend gegenüber allen Lebewesen.“
Achtsamkeit ist die im frühen Buddhismus wohl am ausführlichsten beschriebene und praktizierte Form der Meditation. Nach der Tradition umfasst diese Praxis vier Bereiche. An erster Stelle steht der Körper. Dabei stehen der Atem, die Körperhaltungen und Aktivitäten, Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, die Zusammensetzung des Körpers im Zentrum der Achtsamkeit; es gehören dazu aber auch (als Imagination) der Tod und die Verwesung bis hin zu der Tatsache, dass den zuletzt verbleibenden Staub der Wind wegträgt (oder bei uns die Erde aufnimmt). Die anderen Bereiche sind die Empfindungen (angenehm, unangenehm, neutral) und die Geisteszustände (unter anderem Gier, Hass, Verblendung wie auch deren Abwesenheit). Es folgen die Gegebenheiten (die unseren Weg behindernden Faktoren wie zum Beispiel Abneigungen, Trägheit, Aufgeregtheit), unser psychisch-physischer Organismus, unser In-der-Welt-Sein mit den wahrnehmbaren Objekten, an die wir uns anklammern können, die wir aber auch loslassen können. Als weitere Gegebenheiten richtet sich die Achtsamkeit auf die sogenannten Glieder des Erwachens: Achtsamkeit, Urteilsfähigkeit, Energie, Freude, innere Stille, Konzentration/geistige Sammlung und gleichmütiges Akzeptieren. Den Abschluss bilden die Vier Edlen Wahrheiten (vom Leiden, seinem Entstehen, seiner Auflösung und dem Achtgliedrigen Weg, der dorthin führt) als wiederum einer eher imaginative/kontemplative und nicht nur beobachtende Übung.
Besondere Beachtung verdient, dass die Achtsamkeit nicht nur nach innen gerichtet wird, sondern auch nach außen und schließlich nach innen und außen – ein Hinweis darauf, dass es auch ein Ziel der Achtsamkeitsmeditation sein kann, die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden. Außerdem wird bei allen Phänomenen, auf die sich die Achtsamkeit richtet, darauf hingewiesen, dass wir sie in ihrem Entstehen, in ihrem Vergehen und in ihrem Entstehen-Vergehen sehen sollen, dass wir also ihre Prozesshaftigkeit erkennen sollen – unter anderem ein Hinweis darauf, dass es nichts gibt, woran wir uns festhalten könnten.
Isoliert betrachtet und praktiziert kann diese Meditationsform dazu führen, dass der/die Meditierende alles und schließlich auch sich selbst zum Objekt macht, das er/sie aus einer kalten Distanz wahrnimmt. Dem wirkt die Entfaltung der liebevollen Zuwendung entgegen, die auch zunehmend von westlichen Lehrenden in die Achtsamkeitspraxis einbezogen wird.
Die dritte im Achtgliedrigen Weg enthaltene Meditationsform ist die Konzentration/geistige Sammlung. Traditionell werden darunter die Vier Vertiefungen verstanden, bei denen ausgehend von der Konzentration auf ein „Meditationsobjekt“ – das kann zum Beispiel der eigene Atem sein oder eine bestimmte Geisteshaltung wie Mitgefühl oder Gleichmut oder ein Bild – eine immer tiefer werdende innere Stille entwickelt wird. Beschrieben wird dies häufig anhand bestimmter geistiger Zustände: In der ersten Vertiefung sind geistiges Berühren (Kontakt mit dem Meditationsobjekt) und geistiges Verweilen (in Kontakt mit dem Meditationsobjekt bleiben), Freude, Glück und Einsgerichtetheit des Geistes vorhanden, in der zweiten Vertiefung kommen geistiges Berühren und Verweilen zur Ruhe, in der dritten löst sich die Freude auf, in der vierten verschwindet auch das Glück. Einzig die Einsgerichtetheit des Geistes sowie Gleichmut und Achtsamkeit – also nur noch stille Geisteszustände – sind noch vorhanden. In dieser gleichmütigen achtsamen Stille kann dann ein allumfassendes Bewusstsein der Prozesshaftigkeit alles Lebendigen entstehen; die traditionelle Beschreibung hierfür ist, dass sich der/die Meditierende an die eigene anfangslose Kette von Wiedergeburten erinnert und sich des Entstehens und Vergehens aller Lebewesen je nach ihren Verhaltensformen bewusst wird.
Interessant ist, dass die Vertiefungen in der Biografie des Buddha dreimal in ganz wichtigen Situationen vorkommen. Zum ersten Mal erlebte er sie als Kind in einer ruhigen entspannten Situation. Später, nachdem er einen asketischen, zum Teil selbstquälerischen Weg eingeschlagen hatte, lernte er die Vertiefungen durch höchste Askese und Willensanstrengung sozusagen zu erzwingen und erkannte dabei, dass dies nicht der Weg zur geistigen Befreiung sein konnte. Nachdem er Abstand von der Selbstquälerei genommen hatte und wieder zu Kräften gekommen war, erinnerte er sich schließlich an sein Meditationserlebnis in der Kindheit und durchlief die Vier Vertiefungen, womit sein Prozess des geistigen Erwachens, der Erleuchtung, begann. Er selbst hat später ganz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit den Vertiefungen ein Glückserleben verbunden war, das ihn nicht fesseln konnte, womit zugleich die Gefahr beschrieben ist, die dieser Meditationsform innewohnen kann.
Literatur: Meditationstexte des Pali-Buddhismus Band 1-3 Buddhistischer Studienverlag Berlin
Peter Gäng
hat Indologie, Philosophie und Sozialwissenschaften studiert und in Philosophie über buddhistische Hermeneutik promoviert. Er ist Mitbegründer der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und lebt und arbeitet als Autor und Lektor in Berlin.