1000 Hände – gelebte Verbundenheit

Ein Beitrag von Shinko Andreas Hagn veröffentlicht in der Ausgabe 2021/1 Gemeinwohl unter der Rubrik Gemeinwohl. (Leseprobe)

Nach dem ersten Schock des Shutdowns, der in Österreich im April 2020 durch die Regierung sehr dramatisch inszeniert wurde, wurde dem Wiener Soto-Zen-Priester, Seelsorger und Unternehmer Shinko Andreas Hagn rasch klar, welche weitreichenden Auswirkungen und welches Leid die Coronakrise mit sich bringen würde. Er wurde aktiv – wie er in seinem Beitrag beschreibt.

Shinko Andreas Hagn in Robe

Als die Coronakrise Österreich traf, hörte ich Geschichten über tief liegende Wunden, Ängste und pure Verzweiflung: von einem zehnjährigen Mädchen, das Panikattacken bekam bei dem Gedanken, sie könne aus Versehen ihre Großeltern anstecken und damit deren Tod bewirken. Von einem Geschäftsmann, der sich am zweiten Tag nach der Wiedereröffnung in seinem Geschäft erhängte – aus Angst, es könnten keine Kunden kommen oder er könnte sich anstecken. Von einer 92-jährigen herzkranken Dame, die auf dem Transportweg zwischen zwei Krankenhäusern – ins erste durfte sie nicht eingeliefert werden, da kein Covid-19-Test vorlag – einen weiteren Herzstillstand erlitt und von ihrer Tochter nicht begleitet werden durfte … 

Es sind dramatische Einzelschicksale. Doch auf subtile Art wirkt sich der Shutdown auf uns alle aus. Social Distancing und Onlinekommunikation werden unser Miteinander immer stärker beeinflussen und aus den Angeln heben. Die Krise lässt eine Tendenz offenbar werden, die schon länger spürbar war: die Entkörperung unserer Welt. Diese Entkörperung ist bereits viel weiter fortgeschritten, als die meisten Menschen vor der Coronakrise ahnten. Mit der Krise sind die Bruchlinien zu großen Schluchten geworden, die sich immer weiter ausdehnen.

Wiedereröffnung der Herzen

Im März 2019 wurde ich im Sanshinji-Tempel in Bloomington, Indiana, USA von Hoko Karnegis in der Linie von Okumura Roshi zum Soto-Zen-Priester ordiniert. Als buddhistischer Seelsorger bin ich in Gefängnissen und einer Obdachloseneinrichtung tätig und teile meine Praxis. Im deutschsprachigen Buddhismus sträuben sich viele gegen das Wort „Seelsorge“, weil es im Buddhismus kein Konzept einer „Seele“ gibt. In meinem alltäglichen Umgang, auch mit Behörden, ist er jedoch praktikabel, denn einerseits ist er rechtsverbindlich und andererseits wissen alle sofort, was mit „Seelsorge“ gemeint ist – wir sollten nicht an Worten festhalten.

Diese Welt zu einem besseren Ort zu machen scheint als Aufgabe nicht erfüllbar zu sein, aber die Gelegenheit dazu besteht in jedem Moment. Mit jeder kleinen Handlung können wir einen Samen der Heilung pflanzen, Moment für Moment, Augenblick für Augenblick. Als der Shutdown begann, haben wir für unsere neu gegründete kleine Sangha in Wien schnell ein virtuelles Netz aufgespannt, mit einen Dialograum, der sich als sehr hilfreich für diese Zeit herausgestellt hat, um Ängste, Wut und Einsamkeit gemeinsam aufzufangen. Es wurde schnell sichtbar, dass es dringender denn je eine „Wiedereröffnung der Herzen“ braucht, und dazu können die vier Bodhisattva-Gelübde einen wichtigen Beitrag leisten. Sie lauten: 

Die fühlenden Wesen sind zahllos; ich gelobe, sie zu retten.
Die Verblendungen sind unerschöpflich; ich gelobe, sie zu beenden.
Die Dharmas sind grenzenlos; ich gelobe, sie zu meistern.
Der Weg Buddhas ist unübertrefflich; ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Ordination mit Hoko Kernegis und Okumura Roshi

Zazen, Arbeit und Studium

Um die Bodhisattva-Gelübde zu erfüllen, betonen wir in unserer Sanshinji-Linie  drei wichtige Übungen: Zazen, Arbeit und Studium. Auf Zazen liegt dabei die stärkste Betonung und wir bemühen uns darum, unser Leben aus dem Zazen-Geist heraus zu gestalten. Zazen, Sitzen ohne Absicht und ohne Ziel, gibt uns die Möglichkeit, Herz, Geist und Körper zu öffnen für alles, was erscheint. Wir tauchen in einen Transformationsraum ein und alles darf da sein, „so wie es ist“. Ein Prozess, den wir einfach geschehen lassen; wir fügen nichts hinzu, nehmen nichts weg. Mit den Bodhisattva-Gelübden in jedem Moment im völligen Einklang zu leben – das ist, wie schon gesagt, ein unerfüllbare Aufgabe. Aber genau da fängt unsere Praxis an: indem wir lernen, dieses Paradox anzunehmen und die Mehrdeutigkeiten unseres Seins Schritt für Schritt in unser Leben zu integrieren und im Einklang und Gleichgewicht damit zu leben. „Nicht eins und nicht zwei“, so heißt es im Zen. 

Arbeit bedeutet in diesem Dreiklang der Übungen, unsere Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen. In seinem Buch „The Bodhisattva’s Embrace“ schreibt der kalifornische Soto-Zen-Priester Hozan Alan Senauke: 

„Arbeit zum Wohle anderer bedeutet Hinschauen, Zuhören und Helfen, ohne darüber nachzudenken, was wir dafür bekommen.“ 

Anschließend zitiert er Dogen Zenji, den Gründer des Soto-Zen, der erklärt hat: 

„Ignorante Menschen mögen denken, wenn wir anderen zu viel helfen, kommt unser eigener Profit zu kurz. Das ist nicht der Fall. Zum Wohle anderer zu arbeiten ist das ganze Dharma, es profitieren beide Seiten, ich selbst und die anderen, beträchtlich.“ 

Meine Dharmaschwester Susanne Halbeisen und ich haben über die Jahre im Gefängnis und in Obdachloseneinrichtungen gelernt, wie wichtig unsere seelsorgerische Arbeit für die Entwicklung unseres Mitgefühls und die Aufweichung unserer inneren Grenzen ist. Die Übung des sozialen Miteinanders zeigt uns diese Grenzen sehr schnell auf und durch den Transformationsraum des Zazen, durch eigene und gemeinsame Reflexion können wir unsere Grenzen Schritt für Schritt erweitern, hin zum grenzenlosen Mitgefühl. 

Das Erfahrene verständlich machen

Und so kommen wie zur dritten Übung, dem Studium. Es hilft uns dabei, das auf unserem Weg Erfahrene verständlicher zu machen. Es ist unmöglich, über das zu sprechen, was wir im Zazen erleben. Dennoch brauchen wir Worte, um mit anderen Menschen in Verbindung zu treten. Wir brauchen die Worte und den Dialog, um gemeinsam ins Fließen zu kommen. 

Um im Fluss des jetzigen Moments zu sein, müssen wir keine anderen Menschen mit anderen Leben werden. Zen-Meister Shunryu Suzuki sagte: 

„Wenn du vor der Erleuchtung nur schwer an einem Sake-Laden vorbeigehen konntest, dann wird das auch hinterher so sein.“ 

Unser Leben ist hier und jetzt – mit allem, was dazu gehört, und mit allem, was schon da ist. Wir müssen nur lernen, mit den Augen hinzuhören, so lautet eine alte Praxisanweisung, denn Avalokiteshvara heißt übersetzt: „Der, der das Leiden der Welt hört.“ Das Herz-Sutra beginnt, indem es die Praxis dieses Bodhisattva beschreibt:

„Bodhisattva Avalokiteshvara erkannte klar während der tiefen Übung von prajna paramita, dass alle fünf skandhas leer sind, und überwand alles Leiden und alle Not.“

Der Bodhisattva Avalokiteshvara steht für unbegrenztes Mitgefühl. Prajna paramita heißt übersetzt „Weisheit vom anderen Ufer“. Die fünf skandhas, Aggregate oder auch Daseinsformen genannt, sind eine Möglichkeit, unser Sein in jedem Moment zu beschreiben, und wenn sie leer sind, heißt das, dass sie leer sind von unserem eigenen Sein. Dieses „Leersein vom eigenen Sein“ birgt die Möglichkeit, die immer da seiende Weisheit sichtbar werden zu lassen. Weisheit hat wenig mit Wissen zu tun. Die Weisheit, die wir Prajna Paramita nennen, ist schon immer da und wird immer da sein. Sie wohnt uns allen inne. Weisheit und Mitgefühl gedeihen nie unabhängig voneinander, sondern bedingen sich wechselseitig. „Weisheit und Mitgefühl sind wie die zwei Schwingen eines Vogels“, heißt es im Prajnaparamita-Sutra. Es sind die reifen Früchte, die vom Baum unserer Praxis fallen, alles andere dient nur der Stärkung des Egos. 

1000-Hände-Sangha

Ein Angebot für Menschen, die wenig Angebote erhalten

Im Geiste dieser Lehren haben Susanne Halbeisen und ich nun gemeinsam ein Projekt auf auf den Weg gebracht, dem wir den Namen „1 000 Hände“ gegeben haben; denn der Bodhisattva Avalokiteshvara wird in der buddhistischen Ikonografie oft mit 1 000 Armen dargestellt. So ist es ihm möglich, allen Wesen gleichzeitig zu helfen, wo sie auch sein mögen. Für uns symbolisiert dieses Bild der 1 000 Arme auch, dass wir nicht allein existieren und alle miteinander unumgänglich in Verbindung stehen. 

Worum geht es in dem Projekt? Kochen und Backen sind handwerkliche Arbeiten, die ich schon lange liebe und mit denen sich Menschen wunderbar unterstützen lassen. Inspirationen sind für mich der inzwischen verstorbene Zen-Lehrer Bernie Glassman mit seiner Greyston Bakery in Yonkers, New York, wo Obdachlose eine Arbeit fanden, und der Jesuitenpater Gregory Boyle, Gründer von Homeboy Industries, dem weltweit größten Programm zur Rehabilitation ehemaliger Bandenmitglieder. Und letztes Jahr konnte ich Reverend Kalen McAllister in St. Louis besuchen, eine Soto-Zen-Priesterin, die in ihrer Laughing Bear Bakery gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen Kuchen, Kekse und Muffins backt und über kleine lokale Geschäfte vertreibt. 

1 000 Hände wird ein Angebot für Menschen werden, die am Arbeitsmarkt wenig Chancen auf eine Beschäftigung haben, wie ehemalige Gefängnisinsassen, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, psychisch Kranke, Drogen- und Alkoholabhängige nach einem Entzug. Über einfache handwerkliche Arbeit wird ein Einstieg in eine alltägliche Struktur ermöglicht. Wir alle wissen, dass dieser Rahmen als Anker, als Halt in unserem Leben notwendig ist. Das Tun mit unseren eigenen Händen, die verkörperte Erfahrung dieses Tuns, spielt dabei eine entscheidende Rolle. 

ENDE DER LESEPROBE

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Shinko Andreas Hagn

begann seine Zen-Praxis 2009 in der Lehrtradition von Zentatsu Baker Roshi, dem Nachfolger von Shunryu Suzuki. 2019 wurde er als Zen-Priester ordiniert. Er ist als ehrenamtlicher Gefängnisseelsorger für die Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft tätig und betreut in Wien ehemalige Obdachlose.

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