Editorial der Ausgabe 2026/1
Liebe Leserinnen und Leser,
neu anfangen, sich neu öffnen, die Vorstellungen von gestern oder von vor einer Minute zur Seite legen und eine neue Perspektive einnehmen, anders wahrnehmen, fühlen, denken, und sei es nur mit einer leichten Verschiebung, vielleicht sogar in die grenzenlose Weite des Moments eingehen, für den Moment – dieser Grundgedanke der buddhistischen Philosophie und Praxis inspiriert mich heute noch genauso wie vor vielen Jahren.
Das gilt auch mit dem Älterwerden und dem Wissen, wie tief Prägungen in das Leben eines Menschen reichen. Denn machen wir uns nichts vor: Bei aller Suche nach Freiheit „von allen Konzepten“, sind wir auch als Buddhistinnen und Buddhisten durchdrungen von Gelerntem. Das zeigt sich schon auf einer einfachen körperlichen Betrachtungsebene. Ich gehe, ich sitze, ich spreche, schnüre meine Schuhe zu, fahre im Aufzug nach oben und laufe die Treppe wieder hinunter. Das tun wir als Erwachsene automatisch, aber alles das haben wir einmal mühsam gelernt. Man hat es uns gezeigt, wir mussten es begreifen, haben uns Mühe gegeben, es unseren Händen, Füßen, dem Gehirn einzuschreiben. Und jetzt sind wir voll davon, genauso wie von vielen Schuljahren, Lektüren, Gesprächen und Ausbildungen, Begegnungen, Mühen, Verletzungen und beglückenden Erfahrungen, die sich samt und sonders ereignet haben im Kontext unserer Kultur, die ihrerseits zahllose Spuren vergangener Jahrtausende in sich trägt.
Neu anfangen? Vor diesem Hintergrund kann das nur heißen: Dieser Mensch hier, der geworden ist, fängt neu an. Er sucht neu, verschiebt persönliche Perspektiven, reißt den eigenen Himmel für einen Moment auf und sinkt dann, sehr wahrscheinlich, sehr weitgehend, wieder zurück auf seinen persönlichen Flecken Erde. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Öffnung für Öffnung.
Dass dieser Prozess erstaunliche Erfahrungen von Neubeginn katalysieren kann, zeigen die Beiträge im Schwerpunkt dieser Ausgabe.
„Ich sitze allein unter der hohen Kiefer und brenne Räucherstäbchen ab.
Der Wind weht und der kalte Tau benetzt meine Robe.
Es ist Morgengrauen, als ich mich aus meiner Meditation erhebe und auf den Weg ins Tal mache.
Ich werde den Rest des Halbmondes in meinem Krug mitnehmen.“
Der Zen-Priester Daichi, er lebte im 14. Jahrhundert, changiert in seinem Gedicht versöhnt zwischen der Frische eines neuen Tages und dem, was er weiterhin mit sich trägt. Heute setzt Shinko Andreas Hagn es an den Anfang seines Artikels. Darin erzählt er von Krisen, Brüchen, dem Weiterleben danach – und wie wichtig es für ihn ist, aus dem Fluss der Ereignisse keine geschlossene Geschichte mehr stricken zu wollen.
Das heißt für den österreichischen Zen-Priester und Seelsorger aber nicht, sich zurückzulehnen und die Gestaltung des Lebens anderen zu überlassen. Sehr engagiert erzählt er von seinen Bemühungen als Seelsorger und von dem mit Schwierigkeiten behafteten Unterfangen, zusammen mit anderen einen Ort des gemeinschaftlichen Lebens und Praktizierens aufzubauen. Er schreibt:
„In diesem Sinne bedeutet Neubeginn, Mitgefühl und Weisheit nicht nur, zu studieren, sondern zu leben – wie Daichi den Rest des Mondes im Krug mitzunehmen, die Schönheit des Vorübergehenden anzunehmen und mit ihr in den nächsten Morgen zu gehen.“
Das und mehr in dieser neuen Ausgabe mit vielen weiteren Essays, Artikeln, langen und kurzen Berichten und Buchvorstellungen. Wir danken von Herzen für die Unterstützung und das Interesse in 2025 – und wünschen ein gutes neues Jahr.
Herzlich für das gesamte Redaktionsteam,

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig
Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.


