Werkzeuge der Heilung hinter Gitter tragen
Mit Achtsamkeitsübungen lässt sich Schritt für Schritt lernen, den eigenen Impulsen nicht blind zu folgen, sondern bewusst eine Antwort zu wählen. Das eröffnet besonders Menschen hinter Gittern neue Entfaltungsmöglichkeiten. Die Ärztin und Vipassana-Praktizierende Mitro Stephanie Hofmann engagiert sich in dem Verein Lernraum Knast.
Kosala war ein antikes Königreich im Norden Indiens. In seinen Wäldern lebte ein Räuber namens Angulimala, der wegen seiner Grausamkeit gefürchtet war. Von ihm erzählt das Angulimala Sutta in der Sammlung der Mittleren Lehrreden (Majjhima Nikaya 86) des Palikanons. Während andere vor ihm das Weite suchten, ging der Buddha zu ihm hin und behandelte ihn freundlich und gütig. Das erschütterte Angulimala tief. Er folgte dem Erhabenen, wurde sein Schüler, trat als Bettelmönch in die Gemeinschaft des Buddhaordens ein und erlangte die Befreiung.
Angulimala gilt als Verfasser mehrerer Verse. Zwei davon finden sich im Dhammapada (172, 173):
Wer früher träge war und dann sich tüchtig macht,
Der leuchtet wie der Mond in wolkenloser Nacht.
Wer alte Übeltat durch Guttat ausgeglichen,
Der leuchtet wie der Mond, wenn Wolken sind gewichen.
Auch wir können hingehen

Auch wenn wir vielleicht keine Erleuchteten sind, auch wir können hingehen – in die Gefängnisse und viele hilfreiche Werkzeuge hineintragen: Achtsamkeit. Innehalten. Innere Muster reflektieren. Lernen, mitfühlend mit sich und anderen umzugehen. Entdecken, dass jeder Mensch, auch ein Räuber, auch ein verurteilter Gefangener, fähig ist zu heilsamen Taten.
Als ich 2015 meine ersten Achtsamkeitskurse in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) gab, merkte ich schon bald, dass diese Arbeit nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereicherte, sondern wir gemeinsam übten und Neues entdeckten. Tief berührt hat mich immer wieder die Sehnsucht nach Sinn, die sich bei vielen auch als Sehnsucht nach einem Akt der Wiedergutmachung äußert. So hält ein ehemaliger Kursteilnehmer heute regelmäßig Vorträge zur Drogenprävention an Schulen und berichtet, wie sich Sucht und Gefängnis wirklich anfühlen. Andere warten auf ihre Entlassung, um ihre Erfahrungen in ähnlicher Weise weiterzugeben.
Achtsamkeit, Mitgefühl, Selbstmitgefühl und das Bewusstsein, der Welt etwas schenken zu können, sind Bausteine der Heilung. Sie wirken nicht nur im Inneren, sondern tragen auch zur Heilung der Gesellschaft bei. Das Gefängnis könnte ein Ort sein, an dem tiefgreifende neue Lernprozesse möglich werden – ein Raum, in dem Menschen mit einer neuen inneren Ausrichtung ins Leben zurückfinden.
Die Realität ändern
Doch die Realität sieht leider oft anders aus. Deshalb haben wir 2020 den Verein Lernraum Knast e. V. gegründet. Unsere Vision ist, in allen deutschen JVAs Kurse zu Achtsamkeit und emotionaler Kompetenz anzubieten. So, wie der Buddha Angulimala im Dschungel aufgesucht hat, braucht es auch heute Menschen, die bereit sind, in den Knast zu gehen. Jede Trainerin, jeder Trainer der Kurse unseres Vereins bringt eigene biografische und fachliche Hintergründe mit ein. Im Zentrum der Übungen steht immer die Praxis des Innehaltens. Wir verzichten bewusst auf buddhistische Fachbegriffe, um unsere Kurse offen und frei von weltanschaulichen oder religiösen Prägungen zu halten.
Jede ernsthafte Arbeit mit Menschen setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus. Unser Verständnis gründet auf der Überzeugung, dass der Mensch zugleich gefangen und im Kern frei ist – eine Polarität, die sich auch im Schaubild auf dieser Seite widerspiegelt.
Gefangen ist der Mensch in der Unbewusstheit seiner psychischen Muster. Frühkindliche Prägungen, oft entstanden in einem Umfeld von Mangel, Verletzungen oder Unsicherheit, hinterlassen tiefe Spuren. Sie formen grundlegende Überzeugungen darüber, wer man ist und wie die Welt einem begegnet. Diese inneren Glaubenssätze verknüpfen sich mit Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen und strukturieren auf subtile Weise Wahrnehmung und Verhalten.
Aus der tiefen, oft unbewussten Sehnsucht heraus, seelischen Schmerz zu vermeiden, entwickeln sich Verhaltensweisen, die kurzfristig entlasten mögen, langfristig aber Schaden anrichten – bei sich und anderen. Es sind diese oft rigide gewordenen Bewältigungsstrategien, die viele unserer Teilnehmer:innen schließlich ins Gefängnis geführt haben: dysfunktionale Beziehungen, impulsives Handeln, Substanzmissbrauch, Gewalt, Flucht in Ersatzhandlungen.
DENN DIE FREUDE, DIE WIR GEBEN – Großzügigkeit ist eine grundlegende buddhistische Praxis.
Die BA-Redaktion bemüht sich täglich darum, buddhistische Wortmeldungen und Texte aus allen Traditionen sowohl aus Deutschland wie weltweit wahrzunehmen, zusammenzutragen und für diese Webseiten, auf den Sozialen Medien und in der Print-Ausgabe aufzubereiten und weiterzugeben.
Unser digitales Angebot ist zu einem großen Teil kostenfrei – doch uns kostet es sehr viel Geld. Darum sind wir auf Ihre SPENDE, auf deine GROßZÜGIGKEIT angewiesen – und gerne auch auf ein ABONNEMENT, das uns wertvolle Planungssicherheit liefert.
Denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.
Vielen Dank!
Existenzielle Freiheit erfahren
Die Möglichkeit innezuhalten entsteht, wenn Menschen sich behutsam ihrer psychischen Muster gewahr werden und eine innere Distanz zu den Impulsen einüben, die daraus entstehen. In diesem Innehalten liegt ein erster Zugang zu dem, was wir als existenzielle Freiheit bezeichnen.
Denn der Mensch ist nicht nur geformt – er ist auch formbar. Nicht nur Produkt seiner Geschichte, sondern auch fähig zu Entscheidungen. Frei – nicht im Sinne äußerer Wahlmöglichkeiten, sondern in einer tieferen Dimension: als Wesen, das Stellung nehmen kann zu dem, was ihm widerfährt.
Über dieses Thema hat der berühmte Psychiater Viktor E. Frankl geschrieben, der nationalsozialistische KZ-Haft und den Holocaust überlebt hat. Das menschliche Dasein ist nicht endgültig festgelegt, so erklärt er, sondern immer auch ein „Anders-werden-Können“. Selbst im Gefängnis bleibt jene Freiheit bestehen, die niemand nehmen kann: die Freiheit, sich zu einer Situation zu verhalten – und ihr womöglich eine neue Richtung zu geben.
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“
Dieser Satz wird häufig Viktor Frankl zugeschrieben, taucht in dieser Form jedoch in keinem seiner publizierten Werke auf. Gleichwohl atmet er ganz den Geist der von ihm begründeten Logotherapie und ist in seiner Aussage kraftvoll und wahr: In dem Raum zwischen Impuls und Handlung liegt die Möglichkeit zur Transformation.
Doch oft ist dieser Raum so schmal, so flüchtig, dass wir ihn im Moment des Geschehens nicht wahrnehmen. Achtsames Innehalten erlaubt uns, mit wacher Aufmerksamkeit auf die innere Welt der Empfindungen, Gedanken, Emotionen und Impulse zu blicken. So entsteht ein Moment der Wahlfreiheit, ein Atemzug Abstand, aus dem heraus wir anders handeln können.
In einem meiner JVA-Kurse hängte ich ein Plakat an die Wand, worauf stand:
„Jeder Mensch, dem du begegnest, kämpft einen Kampf, von dem du nichts weißt.
Sei gütig. Immer.“
R., ein hünenhafter Mann, der in der Anstaltsküche arbeitete, nahm das Plakat mit in seine Zelle. In der folgenden Woche stellte er mir eine Frage zu P., einem zarten, stillen Mitgefangenen:
„Wenn ich dem P. ein Extrawürstchen auf den Teller lege – ist das dann auch Güte?“, fragte er mich.
„Ja“, sagte ich, „auch das ist Güte.“Jeder Mensch beginnt genau dort, wo er ist.
Helfen Sie uns, hinzugehen
Unser Verein Lernraum Knast ist noch jung – aber er wächst. Dafür brauchen wir Unterstützung. Wir suchen Menschen mit Erfahrung in der Vermittlung von Achtsamkeit und emotionaler Kompetenz, etwa:
MBSR-Lehrer:innen, buddhistische Lehrer:innen, ACT-Trainer:innen und Schematherapeut:innen mit Achtsamkeitspraxis.
Wir unterstützen Sie:
– mit regelmäßiger Online-Supervision durch ein erfahrenes Team
– bei der Kontaktaufnahme mit Justizvollzugsanstalten in Ihrer Region
– mit Beratung im Umgang mit den institutionellen Rahmenbedingungen
– mit Tipps und – auf Wunsch – mit erprobtem Übungsmaterial
Auch wir möchten lernen. Deshalb freuen wir uns besonders über Austausch mit Menschen, die bereits ähnliche Projekte in Gefängnissen initiiert oder begleitet haben. Lassen Sie uns voneinander hören – und gemeinsam weitergehen.
Darüber hinaus suchen wir Menschen, die unsere Arbeit finanziell oder inhaltlich fördern. Ihre Unterstützung wird unter anderem gebraucht:
für die professionelle Gestaltung und den Druck eines Kursarbeitsbuchs; um Ausbildungen für ehemalige Inhaftierte zu finanzieren, etwa zu Anti-Gewalt- oder Anti-Mobbing-Trainer:innen; für schulische Präventionsarbeit und um Informationsmaterialien zu erstellen und zu verbreiten.
Weitere Informationen: lernraum-knast.de
Kontakt: kontakt@lernraum-knast.de

Mitro Stephanie Hofmann
ist Ärztin mit Schwerpunkt Prävention und Achtsamkeit. Nach einem Burn-out im Medizinstudium fand sie im MBSR und in der Vipassana-Meditation einen heilsamen Weg, der sie bis heute begleitet. Geprägt von Lehrer:innen wie Jon Kabat-Zinn, Akincano Marc Weber und Joan Rieck bildet sie sich kontinuierlich fort und unterrichtet seit 2010 Achtsamkeit in eigener Praxis sowie in verschiedenen Institutionen.


