Warum Jon Kabat-Zinn die Achtsamkeit populär gemacht hat
Jon Kabat-Zinn war ein Yogalehrer und Meditierender mit einem Doktortitel in Molekularbiologie – dann entwickelte er das Programm der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) und löste die amerikanische Achtsamkeitsbewegung aus. In diesem zweiten Teil eines dreiteiligen Gesprächs erzählt er Chefredakteur Melvin McLeod von den Erfahrungen und Erkenntnissen, die seinen Weg geprägt haben.
Melvin McLeod: Wann haben Sie angefangen zu meditieren?

Jon Kabat-Zinn: Meine erste Erfahrung mit formeller Praxis – oder selbst nur das Wissen darüber – machte ich eines Tages im Jahr 1965. Ich studierte Molekularbiologie im Labor von Salvador Luria1, einem späteren Nobelpreisträger, und ich war außer mir vor Sorge wegen des Vietnamkriegs. Als ich durch die Hallen des MIT (Red: Massachusetts Institute of Technology)1 ging, sah ich ein Schild an der Wand: Die drei Säulen des Zen – Ein Vortrag von Philip Kapleau. Er war von Huston Smith eingeladen worden, der damals dort Professor für Philosophie und Religion war. Ich hatte noch nie von einem der beiden gehört, aber irgendetwas an diesem Schild zog mich an – vielleicht war es die Ikonographie der drei Säulen oder das Geheimnis des Wortes „Zen“.
Das MIT ist eine Gemeinschaft von Tausenden von Menschen, aber es kamen nur vier Leute zu dem Vortrag. Ich war einer davon – und während Kapleaus Vortrag traf es mich wie der Blitz. Er war als Reporter beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal gewesen und berichtete darüber, wie die Zeugenaussagen zum unvorstellbaren Ausmaß der nationalsozialistischen Gräueltaten ihn zutiefst erschütterten. Nach dieser tiefgreifenden Erfahrung verschlug es ihn in ein Zen-Kloster auf Hokkaido, der nördlichsten Insel Japans – mitten im Winter.
Er kam dort mit allen möglichen körperlichen Problemen, einschließlich Geschwüren, an. Das Kloster hatte keine Zentralheizung, also meditierte er in der Eiseskälte. Er war hoch motiviert und entschlossen, die strenge Praxis durchzuhalten, egal, was passiert. Und wie er in seinem Vortrag sagte, verschwanden nach sechs Monaten intensiver Praxis unter solch schwierigen Bedingungen seine Geschwüre, und er hatte das Gefühl, dass sich sein Geist von dem Trauma der Nürnberger Prozesse erholt hatte. Er hatte zu sich selbst gefunden – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. In diesem Moment schoss mir der Gedanke durch den Kopf: „Das ist es, wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht habe.“
Warum, glauben Sie, ist das so?
Ich glaube, das liegt daran, dass ich als Kind mit einem Vater aufgewachsen bin, der ein hochqualifizierter Wissenschaftler an der Columbia University Medical School war, und mit einer Mutter, die eine äußerst engagierte und produktive Malerin war, die Dinge im visuellen Bereich auf eine andere Art und Weise wahrzunehmen schien als die meisten Menschen. Manchmal sage ich, sie sah mit Augen, die denen von Monet sehr ähnlich waren. Wenn sie die Straße entlangging, kommentierte sie aufgeregt Schatten, Spiegelungen in Fenstern, auf dem Wasser oder auf den Oberflächen von Autos und so weiter. Sie malte auf die unterschiedlichsten Arten und erforschte in ihren Werken viele verschiedene Techniken und Ausdrucksformen – nicht nur mit Farbe. Unikatdrucke waren eine ihrer Lieblingsarbeiten. Und wenn sie in ihren späten Neunzigern ihre vielen Skizzenbücher ansah, überarbeitete sie ihre Arbeiten mit stärkeren Linien und sagte, sie sei in ihrer Jugend einfach nicht kühn genug gewesen.
Ich wuchs also in diesen beiden Kulturen auf: mein Vater war Wissenschaftler, meine Mutter Künstlerin. Das führte dazu, dass ich schon sehr früh erkannte, dass es verschiedene Wege gibt, die Welt zu verstehen. Es gab Ansätze, um zu verstehen, was verborgen war und durch strenge wissenschaftliche Untersuchungen sichtbar gemacht werden konnte, und es gab kreative künstlerische Untersuchungen und Ausdrucksformen, die nicht auf Wahrhaftigkeit oder präzise Reproduktion ausgerichtet waren. Beides lag mir in gewisser Weise in der DNA, und zwar nicht nur wörtlich. In gewisser Weise waren sie auch in meinem Herzen. Als ich also Kapleau sprechen hörte, wurde mir klar, dass das, worauf er hinwies, das war, wonach ich mein ganzes kurzes und zu diesem Zeitpunkt ziemlich unterentwickeltes Leben lang gesucht hatte. An diesem Abend begann ich zu meditieren und hörte nie wieder damit auf.
Ich denke jedoch, dass die Erfahrung oder Realität, auf die Philip Kapleau Sie hingewiesen hat – und der Sie dann in der Meditation nachgegangen sind – sowohl über den künstlerischen als auch über den wissenschaftlichen Hintergrund hinausgeht. Es ist ein dritter Weg, der tatsächlich jede Form der Konzeptualisierung transformiert, übersteigt.
Ich würde eher einschließen als transzendieren sagen. Es ist eine Art des Verständnisses, die verschiedene Universen zu einem viel größeren Ganzen vereint. Und das habe ich sofort erkannt, als ich Kapleau von seiner eigenen Erfahrung berichten hörte.
Die Meditationspraxis, von der Sie sprechen, wurde über Tausende von Jahren im Rahmen der Religion angeboten, insbesondere im Rahmen des Buddhismus. In der modernen Gesellschaft Amerikas kann dieser religiöse Rahmen für bestimmte Menschen ein Hindernis für den Zugang zu diesen Praktiken und dieser Weisheit darstellen. Sie haben also eine, wie ich glaube, historische strategische Entscheidung getroffen, die universellen Wahrheiten und Praktiken aus dem Kontext der Religion herauszunehmen und sie breiter und zugänglicher zu präsentieren. Würden Sie uns erzählen, wann Ihnen klar wurde, dass Achtsamkeit nicht von Natur aus religiös ist und tatsächlich viel nützlicher und zugänglicher sein kann, wenn sie außerhalb des Kontexts einer fremden Religion namens Buddhismus präsentiert wird?
Ich glaube, mir war von Anfang an klar, dass in Kapleaus Erfahrung etwas lag, das universell widerhallte, das eine universelle Resonanz hat. Mehr als ein Jahrzehnt lang, bevor ich 1979 mit MBSR2 begann, ließ ich diese Ideen in meiner eigenen Praxis und an der Seite einer Sangha von Menschen, die mir sehr am Herzen lagen, sacken und entwickeln. Ich praktizierte mit Lehrern aus Ost und West, die mir authentisch erschienen, darunter mehrere Jahre lang der koreanische Zen-Lehrer Seung Sahn Seon Sa Nim, über den Stephen Mitchell in Dropping Ashes on the Buddha schrieb.
Ich interessierte mich nicht für Religion, aber hier sah ich etwas, das aus sich selbst heraus wertvoll ist und den Menschen etwas geben kann. Irgendwann kam mir auch der Gedanke, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn jeder meditieren würde. Wenn jeder meditieren würde, gäbe es wahrscheinlich viel weniger Gewalt und Aggression. Es gäbe größeres Wohlbefinden, größeres Glück, ein größeres Gefühl der Handlungsfähigkeit. Denn wenn man sein Instrument stimmt, bevor man es in die Welt hinausträgt, hat man die Freiheit, in einer viel weiseren Beziehung zu den inneren und äußeren Kräften zu stehen, die früher oder später auf unser aller Leben einwirken. Dazu gehören Stress, Schmerz und Krankheit, ganz zu schweigen von Gier, Hass und Verblendung.
Die erste edle Wahrheit ist die Realität von dukkha, was gewöhnlich mit Leiden übersetzt wird, aber viele subtile Töne hat. Dukkha hat wirklich mehr mit Leiden als mit Schmerz zu tun. Wenn man zwischen Schmerz und Leiden unterscheidet, dann entsteht Raum. Und diesen Raum zu nutzen kann sehr hilfreich sein – zum Beispiel, wenn man vier Rückenoperationen hinter sich hat, alle möglichen Schmerzmittel ausprobiert hat, nur um schließlich festzustellen, dass das Leben nicht so läuft, wie man es sich wünscht.
Eine der Einsichten, die ich schon früh, lange vor der Entwicklung des MBSR-Programms, hatte, war, dass unter den richtigen Umständen so ziemlich jede und jeder auf die eine oder andere Weise von der Art der bewussten Feinabstimmung profitieren kann, die Meditation und Yoga in das eigene Leben bringen. Und als ich mich an einem Punkt fragte, was meine eigene karmische Aufgabe sein könnte, entstand die Idee: Warum nicht versuchen, Meditation in die Medizin zu bringen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Achtsamkeitspraxis in einem medizinischen Rahmen zu betrachten, der darauf ausgerichtet ist, Menschen mit körperlichen und geistigen Beschwerden zu helfen?
Zwischen 1976 und 1979 arbeitete ich in einem Labor der Anatomieabteilung der UMass Medical School3, wo ich molekular- und zellbiologische Forschung betrieb. Ich nahm die Stelle im Labor an, weil sie mir die Möglichkeit bot, Makroskopische Anatomie zu lehren (und zu lernen), wobei ich den Medizinstudenten meist nur einen Schritt voraus war. Als Yogalehrer war das eine phänomenale Gelegenheit für mich. Aber 1979, als ich fünfunddreißig wurde, war mir klar, dass ich mich langfristig nicht für diesen Weg entscheiden würde.
In den Jahren, in denen ich als Postdoktorand im Labor arbeitete, erreichte ich einen Punkt, an dem ich mich fragte: „Was mache ich mit meinem Leben? Was ist eigentlich meine wahre Aufgabe?“ Und so begann ich im dritten Jahr, mit Ärzten in verschiedenen Kliniken des Krankenhauses zu sprechen, das sich damals an der UMass in einem anderen Teil des gleichen Gebäudes wie die medizinische Fakultät befand. Ich traf mich mit den Leitern der allgemeinmedizinischen, der orthopädischen und der Schmerzklinik und fragte sie so einfache Dinge wie: „Was glauben Sie, wie viel Prozent Ihrer Patienten Sie helfen können?“ Und sie sagten mir, vielleicht 15 oder 20 Prozent. Und ich fragte: „Mein Gott, was passiert mit den anderen?“ Und sie sagten, dass es ihnen entweder von selbst besser geht oder dass sie nie wieder gesund werden.
Da ging mir plötzlich ein Licht auf. Ich fragte: „Glauben Sie, es wäre sinnvoll, wenn wir eine Ambulanz zur Stressreduzierung in Form eines Kurses einrichten würden – basierend auf der Aktivierung der inneren Heilungskräfte des Menschen durch ein recht intensives Training in Achtsamkeitsmeditation und achtsamem Hatha-Yoga – und Sie würden all die Menschen dahin überweisen, bei denen Sie nicht mehr weiterwissen?“ Alle drei Klinikleiter:innen dachten sofort an ihre Patientinnen und Patienten, die von einem solchen Programm profitieren könnten.
Also verfasste ich für die Krankenhausverwaltung einen Vorschlag für ein ambulantes Pilotprogramm, das die Durchführbarkeit und klinische Wirksamkeit der Einbindung von Meditation und Yoga in die medizinische Versorgung untersuchen sollte. Dazu gehörte auch, die Ergebnisse sorgfältig zu dokumentieren und sie in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur zu veröffentlichen. Ich erläuterte meine eigene Beziehung zur Meditation, erklärte, dass ich über viele Jahre Schüler des koreanischen Zen-Meisters Seung Sahn und anderer Meditationslehrer gewesen war und zudem am MIT in Molekularbiologie promoviert hatte. Man konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in den Köpfen der Anwesenden zu drehen begannen und sie offenbar dachten: „Er muss wissen, was er tut.“ Also ließen sie mich machen, obwohl ich keine professionellen Qualifikationen für die Arbeit mit Menschen hatte.
Anfangs war ich ziemlich verunsichert, vor allem weil mir die Schmerzklinik gleich zu Beginn mehrere Patienten überwies, die sie als „austerapiert“ einstufte. Wie sich herausstellte, waren sie die besten Menschen, mit denen man arbeiten konnte – gerade weil sie keine andere Möglichkeit mehr hatten. Sie hatten alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft: Rückenoperationen – viele sogar mehrfach –, sowie Lidocain-Injektionen an verschiedenen sogenannten „Triggerpunkten“, Beratung und Psychotherapie, Kopfschmerzkliniken – das gesamte Arsenal an Schmerztherapie. Und dennoch litten sie weiterhin. Sie waren also offen für den Vorschlag, dass wir, nur als Experiment, anstatt uns von den Schmerzen abzuwenden oder zu versuchen, sie auszulöschen, ihnen den roten Teppich auslegen. Wir werden uns der Schmerzerfahrung bewusst und aufmerksam zuwenden und den Gedanken kultivieren, dass es vielleicht möglich ist, Schmerz von Leiden unterscheiden zu können. Denn Schmerz wird ein unvermeidlicher Teil des Lebens sein, aber wie Sie damit umgehen, kann entscheidend beeinflussen, wie sehr Sie darunter leiden.
Wenn ich von Reportern und anderen gebeten werde, den Begriff Achtsamkeit mit einem Wort zu definieren, sage ich neben dem reinen Gewahrsein vor allem Bezogenheit, denn es spielt eine Rolle, wie man zur Wirklichkeit der Erfahrung steht und das das ist potenziell transformativ und befreiend. Es ist ein Bereich, in dem wir alle ein beträchtliches Maß an Freiheit und Handlungsfähigkeit haben. Um diese Freiheitsgrade zuverlässig nutzen zu können, muss jede und jeder von uns den „Muskel“ der Achtsamkeit auf eine ganz neue, andauernde, systematische und sich manchmal stark wiederholende Praxis trainieren. Wir müssen lernen, wie wir diese Form der Aufmerksamkeit durch Übung und bewusste Kultivierung in der Erfahrung eines jeden Augenblicks verankern können. So, das war ein wenig zum Thema, wie MBSR begonnen hat.
Können Sie mir mehr über die Struktur der ersten MBSR-Kurse erzählen, die Sie gehalten haben?
Die Leiter dieser drei Kliniken schickten mir vielleicht fünfzehn oder zwanzig Patientinnen und Patienten für den ersten Zyklus des Programms, den wir später Zyklus Null nannten. Gegenwärtig befindet sich die Klinik – jetzt online – im Zyklus 167. Wir hatten zwei parallele Gruppen von Patient:innen. Jede Gruppe nahm zehn Wochen lang einmal wöchentlich an zweistündigen Kursen teil. Erst im zweiten Jahr fügte ich in der sechsten Woche eine ganztägige Retreat-Sitzung an einem Samstag hinzu und verkürzte das Programm auf acht Wochen, was seitdem das Standardformat von MBSR ist. Ich habe ein paar geführte Meditationen und geführte Hatha-Yoga-Sitzungen auf zwei Kassetten aufgenommen. Da viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer chronische Schmerzzustände oder Behinderungen hatten, war die erste Meditation eine Liege-Meditation, die ich Bodyscan nannte. Diese entwickelte ich aus meiner Erfahrung mit dem Unterrichten der Körperhaltungen im Yoga sowie aus einem Intensiv-Retreat in der Tradition von U Ba Khin und S. N. Goenka, geleitet von Robert Hover, an dem ich Anfang der siebziger Jahre teilgenommen hatte.
Die Hausaufgabe in der ersten Woche bestand darin, an sechs Tagen in der Woche nur den Körperscan zu praktizieren, wobei die Aufnahme als Anleitung diente. Als die Teilnehmer:innen zur zweiten Kurseinheit zurückkamen, berichteten die meisten von ihnen über Auswirkungen, die in vielerlei Hinsicht bemerkenswert waren. Sie begannen, Aspekte ihres Wesens zu entdecken, die sie verdrängt und ignoriert hatten. Sie begannen, ihren Körper wieder neu zu bewohnen und ihrem Geist zu vertrauen. Da wir im Kreis saßen, konnte jede:r allen anderen Personen zuhören, wenn sie über ihre Erfahrungen sprachen, und erkennen, dass jede und jeder auf die eine oder andere Weise litt (wir verwenden nie buddhistische Begriffe wie Dukkha oder dharma). So wurde ihnen klar: „Oh, mein Leiden ist nicht die einzige Form von Leiden. Ich möchte ganz sicher nicht das haben, was die andere Person hat. Vielleicht kann ich einen Weg finden, mit dem zu leben, was ich habe.“
Dann stellt sich die Frage, wie man das tun kann. Sie sind eingeladen, all das Urteilen und Reagieren so gut es geht auszusetzen und einfach der Praxis zu vertrauen, Moment für Moment für Moment. Wir gestalten die Praxis als eine Art Labor. Du erforschst, was passiert, wenn du den Körperscan durchführst und zu dem problematischsten Teil deines Körpers kommst, zu dem Ort, an dem Du normalerweise erhebliche Schmerzen oder Unbehagen verspürst. Du wirst eingeladen, dich dieser Stelle mit Interesse und Neugier zu öffnen und dich vielleicht sogar ein wenig mit ihr anzufreunden – anstatt dich um sie herum zu verkrampfen oder vor ihr wegzulaufen.
Diese direkte Untersuchung des Unerwünschten schließt ein, was in diesem Moment im Geist geschieht. Welche Gedanken sind präsent? Welche Emotionen sind vorhanden? Was sind die tatsächlichen nozizeptiven4 Empfindungen im Körper? Und dann kannst du durch genaues Hinsehen untersuchen: Leidet mein Gewahrsein in diesem Moment an irgendetwas davon?
Plötzlich entdeckst du eine verborgene, aber leicht zugängliche Dimension namens „Gewahrsein“, in der Erfahrungen gehalten und auf eine Art und Weise erkannt werden können, die von Natur aus und unmittelbar frei ist – wenn auch zunächst nur für kurze Zeit. Denn wir fallen oft in Unachtsamkeit und in Gedanken- und emotionale Reaktionen zurück. Doch in jedem Moment können wir das erkennen und absichtlich ins Gewahrsein zurückkehren. Aufmerksamkeit und Absicht arbeiten in einer Art Yin-Yang-Synthese oder Verschmelzung zusammen, die die Menschen im Rahmen ihrer Praxis zu erkennen und zu nutzen beginnen.
Würden Sie sagen, MBSR befähigt die Praktizierenden? Es scheint, als würde die Klinik die Menschen dazu ermutigen, ihre eigene Fähigkeit zur Bewusstheit und damit zur Erleichterung zu erkennen.
Auf jeden Fall. Die Teilnehmer:innen lernen viel mehr durch ihre eigene kontinuierliche Praxis als durch die MBSR-Lehrenden. Und vielleicht liegt der schwierigste Teil darin, wenn man ein geschickter MBSR-Lehrer oder eine geschickter MBSR-Lehrerin sein will, nicht einfach anhand eines schriftlichen Lehrplans, eines Buchs oder eines Protokolls zu unterrichten – nicht einmal anhand des Buches Full Catastrophe Living, obwohl darin das gesamte Programm und sein Hintergrund detailliert beschrieben sind. Als Lehrende:r musst du selbst vollständig in der Praxis verankert sein und so weit wie möglich den Kurs aus deiner eigenen Erfahrung und inneren Haltung heraus lehren, während du gleichzeitig der Struktur und dem Geist des MBSR-Programms, wie sie in Full Catastrophe Living beschrieben ist, treu bleibst.
Es geht also nicht darum, dass Lehrer:innen den Anspruch erheben, etwas Besonderes zu sein oder etwas erreicht zu haben. Nein, als Kursleiter bin ich hier mit allen anderen, mit meinem eigenen Stress, meinen Schmerzen und Herausforderungen, meinen Warzen, Pickeln und allem anderen. Wir sind alle Menschen. Wir sind alle Schmerzen, Stress und Krankheiten ausgesetzt. Wir werden alle sterben. Aber die Herausforderung besteht darin, ob wir, bevor wir sterben, in diesem Moment voll lebendig sein können? Können wir vollkommen wach sein? Einschließlich des Bewusstseins für unsere grundlegende Verbundenheit mit allen Dingen, mit anderen, mit der Natur, mit dem Leben selbst, mit dem Planeten? Aus dieser Perspektive heraus entsteht Mitgefühl ganz natürlich und ist untrennbar mit Bewusstheit verbunden. Und in diesem Rahmen ist es schon ein radikaler Akt der Gesundheit und der Liebe, einfach deinen Platz einzunehmen.
Wenn Menschen auf diese Weise angesprochen werden – durch das Wesen des Lehrers oder der Lehrerin und nicht nur durch das, was gesprochen wird –, wird ihre individuelle und einzigartige Handlungsfähigkeit anerkannt und geehrt. In der Medizin gibt man oft seine Handlungsfähigkeit auf und folgt einfach den Anweisungen des Arztes. Im MBSR hingegen ist die Praxis und der gesamte Rahmen des Programms auf vielen Ebenen befreiend und ermächtigend.

Was war der nächste Schritt, den Sie unternommen haben, nachdem Sie so positive Ergebnisse erzielt hatten?
Ich wusste von Anfang an, dass die Dokumentation der Ergebnisse ein wichtiger Bestandteil der Arbeit sein würde. Wenn wir nicht festhalten würden, was im Raum geschah, bliebe es bei einer Sammlung netter Geschichten und Anekdoten – unabhängig von dem tatsächlichen Nutzen für die Teilnehmenden. Wenn wir jedoch systematisch Daten vor, nach und im Anschluss an das Programm erhoben – zu medizinischen und psychologischen Symptomen, zu Angstzuständen, Schmerzen, zu möglichen Veränderungen in Kraft, Beweglichkeit und Gleichgewicht, körperlich wie geistig – und unsere Ergebnisse in der wissenschaftlichen Fachliteratur veröffentlichten, dann könnte das Programm, das erst viel später als achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) bekannt wurde, weit über unser medizinisches Zentrum hinaus Wirkung entfalten. Es könnte sich in der ganzen Welt verbreiten, angetrieben durch die überzeugenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und ihre klinischen Auswirkungen.
Dies erwies sich als zutreffend. Die erste Arbeit, die über die Auswirkungen von MBSR bei chronischen Schmerzpatienten berichtete, wurde 1982 veröffentlicht. Verfolgt man die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Achtsamkeit in der wissenschaftlichen Literatur im Laufe der Zeit, so stellt man fest, dass in den nächsten zwanzig Jahren vielleicht ein oder zwei oder gar keine Arbeiten pro Jahr zum Thema Achtsamkeit veröffentlicht wurden. Dann, ab etwa 1999, stieg die Zahl exponentiell an und erreichte 2022 etwa 1 500 Veröffentlichungen. Jetzt fängt es vielleicht an, sich abzuflachen, wie es bei allen sich exponentiell entwickelnden Phänomenen irgendwann der Fall sein muss. Seit 2010 veröffentlicht eine neue wissenschaftliche Fachzeitschrift namens Mindfulness viele dieser Studien, zusätzlich zu anderen hochkarätigen Zeitschriften. Die Erforschung der Meditation ist also zu einem legitimen wissenschaftlichen Bereich geworden, nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Psychologie, in den Neurowissenschaften und in allen möglichen anderen Bereichen.
Dies ist nur einer von vielen Indikatoren dafür, dass Achtsamkeit im Mainstream angekommen ist. In welchem Ausmaß? Das ist eine andere Frage. Das Herzstück der Achtsamkeit ist das nonduale Gewahrsein, die Praxis der Prajnaparamita, die von Kaz Tanahashi mit „Weisheit jenseits der Weisheit“ übersetzt wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob jede:r MBSR-Lehrende das Wort Prajnaparamita überhaupt kennt oder viel über die Lehren des Buddha von der Achtsamkeit im Rahmen der Vier Edlen Wahrheiten weiß und wie kraftvoll und relevant diese Dharma-Lehren für die Welt sind, in der wir heute leben. Doch es ist sicherlich ratsam, ja sogar unerlässlich, sich mit diesen Lehren auseinanderzusetzen, zur Vertiefung der eigenen Praxis und für fundierte Vermittlung von MBSR und Achtsamkeit.
In der Chan/Zen-Tradition der chinesischen Tang- und Song-Dynastie wurde diese nonduale Praxis durch Geschichten, Koans und andere bemerkenswerte Methoden mit der Welt geteilt. Auch wenn man all das im MBSR-Unterricht nicht explizit lehren kann, ist es als Lehrende:r wichtig, es bis ins Mark zu kennen – durch das eigene Studium von Texten, das Lernen von erfahrenen Lehrer:innen sowie durch die eigene Praxis. Es ist wesentlich, dass man es auf seine eigene einzigartige Weise verkörpert, dass man es atmet.
Um Achtsamkeit zu lehren, ganz zu schweigen von MBSR, ist es unabdingbar, dass Sie eine gewisse Affinität und Vertrautheit mit dem Dharma haben, das im Grunde genommen sowohl universell als auch unendlich tief ist. Diese Vertrautheit entsteht durch kontinuierliche Praxis und Studium sowie durch die regelmäßigen Teilnahme an Retreats mit erfahrenen Meditationslehrer:innen.
Als Sie mit nur fünfzehn oder zwanzig Menschen begonnen haben, die unter körperlichen Schmerzen litten, haben Sie da MBSR schon als den ersten Schritt gesehen, um Achtsamkeit schließlich an Millionen von Menschen weiterzugeben, so wie es tatsächlich geschehen ist?
Mir war es von Anfang an klar, als ich begann, wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben und zu dokumentieren. Zum Teil aufgrund meiner Erziehung verstand ich auf einer tiefen Ebene, wie Wissenschaft funktioniert und wie man neue Forschungsfelder schaffen kann, wenn man interessante Belege vorlegt. Ich wusste, dass die Beweise anfangs nicht völlig schlüssig sein mussten. Sie mussten nur aussagekräftig genug sein, um andere Menschen dazu zu inspirieren, einen Teil ihrer kostbaren in Untersuchungen in ihren Labors oder Kliniken zu investieren – vielleicht, weil es ihren Patient:innen helfen könnte oder sogar ihrer eigenen Karriere zugutekäme. Ich habe mich gefreut zu sehen, dass eine Vielzahl positiver Beweggründe zum wachsenden Interesse an der Achtsamkeit beitrugen.
Nach einer Weile regulierte es sich von selbst. Es ist nicht so, dass ich diese Bewegung anführe. Ich sehe sie vielmehr als eine sich selbstverwirklichende, nicht-zentrale Entfaltung, was ich als den universellen Dharma in der Welt bezeichnen würde. Diese Art der Entfaltung zu katalysieren, war von Anfang an meine Absicht. Und hoffentlich entwickelt sich das, was manche „die Achtsamkeitsbewegung“ nennen, kontinuierlich weiter, um in einer sich unglaublich schnell verändernden Welt möglichst relevant zu bleiben.
Die Worte Meditation und Medizin klingen sehr ähnlich, und sie haben tatsächlich dieselbe tiefe etymologische Wurzel. Diese Tatsache gab mir das Gefühl, dass der Bereich der Medizin und des Gesundheitswesens das perfekte Umfeld ist, um Menschen, die ambulant im Krankenhaus behandelt werden, Meditation anzubieten, als Ergänzung zu den Behandlungen, die sie möglicherweise erhalten, insbesondere für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Schmerzen, bei denen man lernen muss, mit ihnen zu leben und sie zu reguliern, da sie nicht unbedingt verschwinden werden.
Abgesehen von Krankenhäusern gibt es viele andere Orte in der Gesellschaft, an denen die Einführung von Achtsamkeitspraktiken ebenfalls von Nutzen sein kann. Einer davon ist die Schule – und ich würde sagen, auf allen Ebenen, vom Kindergarten bis zum Graduiertenkolleg. Von klein auf müssen wir lernen, wie wir uns wirksam in unseren materiellen, analogen Körper, unserem Geist und unseren Herzen verankern können, vor allem angesichts der immer stärkeren werdenden, geradezu süchtig machenden Dominanz von Handys und Bildschirmen in unserem Leben. Dies ist umso wichtiger, als die Künstliche Intelligenz (KI) auf dem Vormarsch ist und sich exponentiell in scheinbar alle digitalen Bereiche integriert. Als Spezies brauchen wir eine tiefere Wertschätzung unseres analogen Genies, dessen Oberfläche wir bisher kaum angekratzt haben, und müssen lernen, es als unseren Standardmodus, unseren Grundzustand, unsere ursprüngliche Natur als menschliche Wesen zu bewohnen. Lasst uns nicht zu schnell unsere analoge Schönheit und unsere Genialität der digitalen Welt überlassen, nur weil diese so verführerisch und süchtig machend ist. Sie birgt auch enorme Risiken und ist sehr giftig.
Ich möchte vorschlagen, dass Achtsamkeit zwar als eine Praxis gilt, baer eigentlich zwei Aspekte umfasst. Den ersten Teil könnte man Konzentration nennen: den Geist stabilisieren, fokussieren und zur Ruhe bringen. Sobald der Geist ausreichend ruhig ist, beinhaltet der zweite Aspekt das ungestörte, klare Wahrnehmen der Realität, um ihre wahre Natur zu erkennen.
Achtsamkeit wird manchmal nur als der erste Teil verstanden – den Geist zu beruhigen, zu stabilisieren und zu fokussieren – und viele Kritiken an der Achtsamkeit beruhen auf diesem eingeschränkten Verständnis der Praxis. Für mich liegt der eigentliche Gewinn in dem, was man erkennt, wenn man einen fokussierten, ungestörten Geist auf die Natur der Wirklichkeit richtet – indem man das eigenen Wesens, die äußere Erfahrungswelt und die Wurzeln des Leidens tiefgründig untersucht. Die Einsicht, die wir entwickeln können, wenn wir einen stabilen Geist auf die klare Betrachtung der Realität richten, ist die wahre transformative Kraft der Praxis.
Einverstanden, aber das ist eine eher dualistische Darstellung. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass MBSR nur acht Wochen dauert und die Teilnehmenden oft nicht aus den gleichen Gründen kommen wie Menschen, die buddhistische Retreat-Zentren besuchen, um ihr Verständnis des Dharma zu vertiefen. Ohne dabei auf Buddhismus oder Dharma Bezug zu nehmen hat der MBSR-Lehrende acht Wochen Zeit, um einen Vorgeschmack der grenzenlosen Weite des Gewahrseins zu vermitteln, sowohl als verlässliche Zuflucht im zeitlosen gegenwärtigen Moment als auch als fortlaufende Praxis, die nicht vom täglichen Leben getrennt ist. Wie wir in MBSR sagen, „die achte Woche ist der Rest deines Lebens“. Dieser achtwöchige Weg bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Und genau darin liegt eine weitere Möglichkeit, wie der nonduale Zen-Ansatz zu einem wesentlichen Element der Achtsamkeitsvermittlung wird.
Wenn Menschen mit ihrer Meditationspraxis auf dem falschen Fuß anfangen, tragen sie dieses Missverständnis vielleicht noch Jahrzehnte später mit sich herum – in dem Glauben, dass es bei der Meditation darum geht, an einen anderen Ort zu gelangen, eine besondere Erfahrung zu machen oder zu versuchen, Schmerzen zu ignorieren, zu beseitigen oder zu transzendieren. Die Einladung der Achtsamkeit besteht jedoch darin, in die Unmittelbarkeit der Erfahrung einzutauchen, sich für diesen Moment zu öffnen, genau so wie er ist, mit den Dingen, genau so, wie sie sind. Und dann, soweit es möglich ist, zu sehen, ob man mit dem, was sich entfaltet, in Einklang sein kann. Höchstwahrscheinlich wirst du feststellen, dass dein Gleichmut und deine Nicht-Reaktivität sehr begrenzt sind, dass du praktisch sofort mit allen möglichen Gedanken, Emotionen, Kontraktionen im Körper, mit Ungeduld und Unlust reagierst.
Du denkst vielleicht: „Warum meditiere ich? Sicherlich ist das nicht das, was ich fühlen soll.“ Doch genau das ist es, was du fühlen sollst. Und warum? Weil dieser Lehrplan vorsieht, offen für das zu bleiben, was du fühlst und es wahrzunehmen, was auch immer es gerade ist. Ganz egal, wie schmerzhaft oder beunruhigend es ist, versuche zumindest einen Moment lang, es im Gewahrsein zu halten, wie ein Elternteil sein Kind halten würde: mit reiner Liebe. Dieser Moment des Gewahrseins ist ein Moment der Befreiung. Es ist nicht so, dass man fünfzig Jahre lang meditieren muss, um solche Momente der Befreiung zu erleben. Aber es hilft, wenn du beginnst, das Leben selbst als Praxis und jeden Augenblick als Geschenk zu sehen.
Wenn MBSR nicht unter diesem Gesichtspunkt gelehrt wird, ist es kein MBSR, sondern eher eine kognitive Verhaltenstherapie. Aber wenn es auf diese Weise angeboten wird, dann macht die Meditationspraxis selbst die ganze Arbeit. Der Dharma macht die ganze Arbeit, und man muss sich keine Gedanken über das Ergebnis machen.
Und eins noch. MBSR sowie viele andere achtsamkeitsbasierte Programme wie MBCT (achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) und MBCP (achtsamkeitsbasierte Geburts- und Elternarbeit) sind das Werk von Hunderten, wenn nicht Tausenden von engagierten Praktiker:innen und Forscher:innenn auf der ganzen Welt. Ich möchte sie alle anerkennen, ehren und ihnen meinen Dank aussprechen, insbesondere den Mitarbeiter:innen des Zentrums für Achtsamkeit am UMass Memorial Health, des Achtsamkeitszentrums der Brown University und des Zentrums für Achtsamkeit der University of California San Diego sowie all den Lehrerinnen und Lehrern, Forscherinnen und Forschern auf der ganzen Welt, die in diesen Zentren ausgebildet wurden oder mit ihnen zusammengearbeitet haben.
Das Interview wurde am 31. März 2025 auf dem Onlineportal Lion’s Roar auf Englisch veröffentlicht:
www.lionsroar.com/why-jon-kabat-zinn-brought-mindfulness-to-the-mainstream
Anmerkungen der Redaktion:
1 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Massachusetts, USA
2 MBSR: Mindfulness-based Stress Reduction, auf Deutsch Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion
3 UMass Chan Medical School ist eine national anerkannte medizinische Fakultät und international renommierte Forschungseinrichtung in Massachusetts, USA
4 Nozizeptor: Ein Nozizeptor ist ein spezialisierter Sinnesrezeptor, der Schmerzreize wahrnimmt. „Nozizeptiv“ bezieht sich auf die Schmerzempfindung und die dazugehörigen Prozesse im Körper.

Jon Kabat-Zinn
ist emeritierter Professor für Medizin an der University of Massachusetts Medical School, wo er das Zentrum für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft gründete und 1979 den Kurs zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) einführte. Er ist der Autor von Full Catastrophe Living und Wherever You Go, There You Are.