Im Krieg mit dem Dhamma

Ein Beitrag von Thanissaro Bhikkhu übersetzt von Kirsten Schulte veröffentlicht in der Ausgabe 2023/1 Sprechen unter der Rubrik Buddhismus in der Welt.

Ein deprimierendes Muster im menschlichen Verhalten stellte Mark Twain vor mehr als einem Jahrhundert fest. Es begleitet uns noch immer: Die Machthaber wollen Krieg. Politiker und Medien rühren die Werbetrommel, prangern die bösen Absichten des Feindes an und rufen alle patriotischen Bürger dazu auf, gegen ihn anzugehen. Zunächst zögern die Menschen, aber dann springen religiöse Führer auf den Zug auf und erklären ihren Anhängern, dass es ihre heilige moralische Pflicht sei, die Kriegsmaschinerie zu unterstützen. Bald ist das ganze Land entflammt von der moralischen Notwendigkeit, den Feind zu bekämpfen. Die wenigen, die dieses Bedürfnis in Frage stellen, werden als Verräter gebrandmarkt.

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Junge Männer ziehen in die Schlacht, nur um festzustellen, wie grauenhaft der Krieg tatsächlich ist. Sie erkennen, dass sie getäuscht wurden und dass ihre Seite nicht so tugendhaft ist, wie man ihnen weismachen wollte. Viele von ihnen werden getötet. Diejenigen, die das Glück haben, nach Hause zurückzukehren, erzählen ihren Familien und Nachbarn davon: Nie wieder werden sie sich dazu verleiten lassen, in den Krieg zu ziehen. 

Aber dann, nach einer Weile, wollen die Mächtigen wieder Krieg führen. Politiker und Medien beginnen, die Werbetrommel zu rühren. Wenn die Argumente für den letzten Krieg nicht mehr greifen, finden sie neue Wege, um die emotionale Tonlage ihrer Rhetorik zu erhöhen, so dass bald das ganze Land wieder vom Kriegsfieber erfasst wird.

Die einzige Möglichkeit, sich vor einem Rückfall in dieses Muster zu schützen, besteht darin, sich starken Prinzipien gegen das Töten zu verpflichten. Prinzipien, an denen man festhält, egal was passiert. Das ist einer der Gründe, warum der Buddha das Gebot gegen das Töten auf die kompromissloseste Weise formuliert hat: Töte nicht absichtlich etwas oder jemanden. Niemals. Fordere andere Menschen nicht zum Töten auf. Und dulde nicht das Töten. Auf die Frage, ob es überhaupt etwas gäbe, dessen Vernichtung er gutheißen würde, antwortete der Buddha mit nur einer Sache: Zorn (SN 1:71).

Das ist so klar und absolut, wie man nur sein kann, und es ist nicht ohne Grund so klar und eindeutig: Klare Regeln sind auch dann leicht zu merken, wenn die Emotionen hochkochen – und genau dann braucht man sie am meisten.

Wenn Sie jedes Argument für einen Krieg mit diesem Grundsatz im Hinterkopf angehen, dann wird Sie der Grundsatz immer schützen, ganz gleich, welche Gründe man für die Unterstützung des Krieges anführen mag. Wenn Sie in Ihrem Denken Raum für Ausnahmen von diesem Prinzip lassen, wird jemand einen Weg finden, diese Ausnahmen auszunutzen, und Sie werden wieder dort sein, wo Sie waren, bevor Sie das Gebot hatten: dazu verleitet, einen weiteren Krieg zu unterstützen.

Die Gebote sind wie ein Zaun um Ihr Grundstück. Wenn es eine Lücke im Zaun gibt, kann alles, was in die Lücke passt – oder sie vergrößert, indem es sich hindurchschlängelt –, hineingelangen. Es ist dann so, als ob es überhaupt keinen Zaun gäbe.

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Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Buddha die Gebote nie jemandem auferlegt hat. Statt sie als Verpflichtungen zu bezeichnen, nannte er sie Trainingsregeln, und das Training ist etwas, das man freiwillig auf sich nimmt. Ihr moralisches Verhalten ist ein freiwilliges Geschenk der Sicherheit an die Welt. Wenn es Ihnen gelingt, dieses Geschenk universell und ohne Ausnahmen zu machen, können Sie selbst einen Anteil an der universellen Sicherheit haben (AN 8:39). Wenn Sie tatsächlich gegen ein Gebot verstoßen, sollten Sie nicht versuchen, die Trainingsregeln zu ändern, um Ihr Verhalten zu rechtfertigen. Stattdessen sollte man ehrlich zugeben, dass man nicht richtig trainiert hat, und sein Bestes tun, um wieder auf Kurs zu kommen.

Da die Texte in der Frage des Tötens so klar und eindeutig sind, ist es schwer vorstellbar, dass irgendjemand auch nur auf die Idee kommen könnte, eine buddhistische Theorie des gerechten Krieges zu formulieren. Dennoch hat es solche Versuche in der Vergangenheit gegeben und auch jetzt gibt es sie wieder. Wenn uns der Dhamma am Herzen liegt, ist es wichtig, diese Theorien rundweg abzulehnen. Andernfalls werden wir uns darüber streiten, wann und wo es richtig ist, eine buddhistische Lizenz zum Töten auszustellen. Und ganz gleich, wie streng wir versuchen, die Lizenz einzuschränken, es ist, als würde man mit einem Panzer durch unseren Zaun fahren und neben dem entstandenen Loch ein Schild aufstellen, auf dem steht, dass nur diejenigen Diebe und Bären eintreten dürfen, die versprechen, sich anständig zu benehmen – und ihnen selbst dann die Kontrolle überlassen.

Da die frühen Texte das Töten unter allen Umständen ausschließen, müssen Versuche, eine buddhistische Theorie des gerechten Krieges zu formulieren, letztlich auf diese grundlegende Behauptung zurückgreifen: Mit den Texten stimmt etwas nicht. Da diese Behauptung viele Formen annehmen kann, ist es nützlich, einige von ihnen zu untersuchen, um zu sehen, wie irreführend sie sein können. So fallen wir nicht auf sie herein.

Die wichtigste Behauptung ist die folgende:

Tatsächlich schweigen die frühen Texte nicht zu Fragen der moralischen Komplexität. Sie beantworten Fragen zu den Verlusten, die durch das Festhalten an den Geboten entstehen können, und zu dem Wunsch, Verpflichtungen zu erfüllen, die im Widerspruch zu den Geboten stehen. Es ist nur so, dass ihre Antworten nicht die sind, die wir vielleicht gerne hören würden.

Natürlich beruhen diese Antworten auf der Lehre vom Karma und seiner Auswirkung auf die Wiedergeburt. Lehren, die viele moderne Buddhisten mit Skepsis betrachten. Aber der Buddha hatte schon zu seiner Zeit mit Skeptikern zu tun. Wie er ihnen sagte, kann niemand, der noch nicht erwacht ist, die Wahrheit dieser Lehren wirklich kennen. Wenn man sie aber in der Zwischenzeit als Arbeitshypothese annimmt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man in seinem Verhalten eher vorsichtig ist, größer, als wenn man diese Arbeitshypothese nicht hätte (MN 60). Wenn sich herausstellt, dass die Lehren nicht wahr sind, können Sie zumindest mit einem reinen Gewissen sterben, weil Sie wissen, dass Sie ein reines Leben frei von Feindseligkeit oder bösem Willen gelebt haben. Wenn Sie herausfindest, dass die Lehren wahr sind, werden Sie froh sein, dass Sie sich entsprechend verhalten haben (AN 3:66).

Der Buddha räumte bereitwillig ein, dass es Zeiten gibt, in denen das Befolgen der Gebote für Sie in der Welt von Nachteil ist. Sie könnten Ihren Reichtum, Ihre Gesundheit oder sogar Ihre Verwandten verlieren. Aber diese Verluste, sagt er, sind auf lange Sicht gering. Ein größerer Verlust wäre der Verlust Ihrer Tugend oder der Verlust der rechten Sichtweise. Diese Verluste könnten Sie für viele kommende Leben schädigen. Die Lektion liegt auf der Hand: Seien Sie um des langfristigen Nutzens willen bereit, die kleineren Verluste zu erleiden, damit Sie nicht die größeren erleiden müssen (AN 5:130).

Gleichzeitig gibt es viele Gelegenheiten, bei denen das Brechen eines Gebots kurzfristige Vorteile in dieser Welt bringt, aber aus dieser Tatsache zog der Buddha nie den Schluss, dass diese Vorteile das Verletzen des Gebots rechtfertigen (SN 42:13).

Was die widersprüchlichen Verpflichtungen angeht, so berichten die Texte von einem Menschen, der, als er feststellt, dass er wegen der Verletzung der Gebote in die Hölle geworfen werden soll, die Höllenwächter um Nachsicht bittet: Er hat die Gebote wegen seiner sozialen Verpflichtungen gegenüber Familie, Freunden oder dem König gebrochen. Wird ihm Nachsicht zuteil? Nein. Die Höllenwächter werfen ihn in die Hölle, noch während er sein Flehen vorträgt (MN 97).

Der Buddha sagte, wenn man anderen helfen will, kann man sie mit Nahrung, Kleidung, Unterkunft oder Medizin versorgen. Noch besser ist es, wenn Sie sie dazu bringen, ebenfalls die Gebote zu befolgen (AN 4:99). Wenn Sie aber anderen sagen, dass es manchmal ihre moralische Pflicht ist, die Gebote zu brechen, tun Sie in Wirklichkeit etwas, das ihnen schadet. Wenn sie Ihrer Empfehlung folgen und in die Hölle geworfen werden, werden Sie dann zur Stelle sein, um für sie zu plädieren? Und werden die Höllenwächter Ihnen Gehör schenken?

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Wenn uns die Texte also sagen, dass wir uns in jedem Fall an die Gebote halten sollen, lehren sie uns damit, wie wir unser langfristiges Wohlergehen schützen können.

Das bedeutet nicht, dass die Regeln Sie völlig wehrlos gegenüber einem Feind machen, sondern nur, dass sie Sie zwingen, unkonventionell zu sein. Wenn Sie entschlossen sind, unter keinen Umständen zu töten, zwingt Sie diese Entschlossenheit, auf kreativere Weise zu denken, um einen Gegner davon abzuhalten, Sie auszunutzen. Sie lernen Methoden der Selbstverteidigung, die nicht auf Töten hinauslaufen. Sie legen mehr Wert auf Diplomatie und schauen nicht auf intelligente Kompromisse herab.

Tatsächlich beschreiben die frühen Texte einen langsamen Weg zur Befreiung, und ein Hauptmerkmal dieses Weges ist das Festhalten an den Geboten in allen Situationen (AN 8:54). Tun Sie nichts, was Sie in die niederen Gefilde bringen würde.

Nach diesem Maßstab ist es schwer sich vorzustellen, wie ein noch langsamerer Weg, ein Weg, der Theorien des gerechten Krieges zulässt, überhaupt als Weg zur Befreiung gelten kann. Der Buddha wies darauf hin, dass, wenn man sich im Kampf mit dem Feind befindet und versucht, ihn zu töten, der Geist voller bösem Willen ist. Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt getötet werden, würde Sie ihr Geisteszustand in die Hölle bringen. Wenn Sie die falsche Ansicht vertreten, dass das, was Sie tun, tugendhaft ist, können Sie entweder in der Hölle oder in einer Wiedergeburt als Tier enden (SN 42:3). Keiner dieser beiden Bestimmungsorte geht in die Richtung von nibbāna, der endgültigen Befreiung. Es wäre so, als würde man von Las Vegas über den Jemen nach San Diego fliegen, mit einer langen Zwischenlandung in Afghanistan, während der man wahrscheinlich vergessen würde, wohin man eigentlich wollte.

Dieser „Geist“ kommt in den Texten nie zum Ausdruck, und das aus gutem Grund. Er setzt voraus, dass es eine klare Berechnungsmethode gibt, wann ein geringeres Übel ein größeres Übel verhindert, aber welche klare Grenze bestimmt, was in die Berechnung einfließt und was nicht? Können Sie die Vergeltungsmaßnahmen von Menschen ausschließen, die sich für Ihr „kleineres Übel“ rächen wollen? Können Sie die Menschen ausschließen, die sich an Ihnen ein Beispiel nehmen und ihre eigenen Vorstellungen von dem, was ein kleineres Übel ist, umsetzen? Wie viele Generationen oder Lebensspannen berücksichtigen Sie dabei? Sie können die indirekten Auswirkungen ihres Handelns nicht wirklich kontrollieren, wenn es einmal geschehen ist; Sie können nicht mit Sicherheit sagen, ob ihr Töten zu mehr oder weniger Töten führen wird als das, was Sie zu verhindern versuchen. Sicher ist jedoch, dass Sie ihren eigenen Körper oder ihre eigene Sprache benutzt haben – Dinge, über die Sie die Kontrolle haben –,  um Befehle zum Töten zu erteilen.

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Ein Grundsatz, der den Geboten tatsächlich nähersteht und keine falsche Anwendung zulässt, ist, dass man niemals das Fehlverhalten anderer Menschen als Rechtfertigung für das eigene benutzt. Egal, was andere Menschen tun, man hält sich an die Gebote.

Diese Verschwörungstheorie ist wahrscheinlich das gefährlichste Argument von allen. Sobald sie als gültig anerkannt wird, kann man den Dhamma in alles verwandeln, was man will. Ich persönlich finde es schwer zu glauben, dass der Buddha, nachdem er das Bild des Soldaten gezeichnet hat, der in der Schlacht stirbt und für die Hölle bestimmt ist, mit König Pasenadi privat darüber diskutiert hat, aus welchen Gründen er aus Staatsräson Menschen in diese Situation schicken kann.

Die Texte erzählen uns, dass er Pasenadi einmal sagte, dass man sich selbst ungeschützt lässt, wenn man die Gebote bricht, ganz gleich wie groß die Armee ist. Wenn du die Gebote einhältst, dann bist du, auch wenn du gar keine Armee hast, von innen heraus gut geschützt (SN 3:5). War diese Lehre nur für die Öffentlichkeit gedacht? Sollen wir annehmen, dass der Buddha ein doppelzüngiger Buddha war, der den Königen eine Geheimlehre lehrte, die so völlig im Widerspruch zu dem stand, was er in der Öffentlichkeit lehrte?

Der Buddha hatte so viele Gelegenheiten, Ausnahmen von dem Gebot gegen das Töten zu machen, aber er blieb immer bei seinen Prinzipien: Kein absichtliches Töten von Leben. Punkt. Wenn Sie versuchen, diese Prinzipien in Zweifel zu ziehen, tun Sie das zum Schaden vieler und es lässt sie schutzlos zurück, wenn sie zu entscheiden versuchen, was getan werden sollte und was nicht (AN 3:62).

Das ist viel schlimmer, als sie ohne die Erlaubnis zu lassen, einen Angreifer zu töten, ganz gleich wie schlimm er ist.

Der Beitrag im englischen Original ist erschienen auf:
https://www.dhammatalks.org/books/uncollected/War.html

Thanissaro Bhikkhu

ist ein US-amerikanischer Mönch der thailändischen Waldtradition. Nach seinem College-Abschluss studierte er Meditation in Thailand, wurde 1976 zum Mönch geweiht, half ab 1991 beim Aufbau des Metta-Forest-Klosters in Kalifornien, dessen Abt er ist. Zahlreiche Publikationen als Autor und Übersetzer.

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