BERICHT: Meditation ist das Fleisch auf den Knochen

Ein Beitrag von Anja Edwards van Muijen veröffentlicht in der Ausgabe 2019/4 Mut unter der Rubrik Buddhismus in der Welt.

36 Menschen, die rund 2300 Jahre alte Texten lesen, darüber sprechen, meditieren und einander schließlich ihr vertieftes Verständnis von der Essenz und der Bedeutung dieser Praxis präsentieren. Die Niederländerin Anja Edwards van Muijen berichtet von einer Retreatwoche mit Bikkhu Anālayo auf dem Pegasushof, an der Menschen aus dem nahen Hamburg, aber auch aus Österreich und der Schweiz teilnahmen.

Wir sind 36 Archäologinnen und Archäologen, die Skelette freilegen. Unser Anführer ist Bikkhu Anālayo, Deutscher von Geburt, sanfte Stimme, schlanke Figur. Er ist seit 1995 Mönch, studiert die Sutten Buddhas und lebt derzeit in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2013 besuchte ich seinen Online-Kurs über Samatha (Ruhe) und Vipassana (Einsicht) in den Lehrreden. Gemäß den Lehrreden trainiert man Ruhe und Einsicht kombiniert, aber Anālayo gab damals keine begleitenden Meditationsanweisungen. Welche Art von Meditation würden wir in dieser Retreatwoche erhalten?

Evolution

Am fünften Tag kann ich Anālayo Fragen stellen. Wir laufen auf einer ruhigen Landstraße, seine Robe flattert im Wind, meine Haare wehen durch den Wind, ich sage: „Mir kommt es vor, als ob du ein Skelett, die Lehrreden, gefunden hast und nun das Fleisch, die Nase, Ohren, Mund, rekonstruiert hast. Das Fleisch ist die entsprechende Meditation zu den Knochen.““Ja, du kannst mich mit einem Archäologen vergleichen“, antwortet er. „Als kleiner Junge war ich fasziniert von der Evolution, zum Beispiel vom Archaeopteryx als Zwischenstufe.“

Er verglich verschiedene Traditionen im Buddhismus und legte frei, was wesentlich ist und was ein nicht funktioneller Überrest einer vorherigen Tradition zu sein scheint.

Die Sutten (Lehrreden) sind die ältesten geschriebenen Texte, älter als die „höhere Lehre“, der Abhidamma, und viel älter als der Visuddhimagga-Kommentar. Die Theravada Tradition basiert auf den Sutten und auf  Abhidamma und Visuddhimagga. Anālayo betont: „Ich sage nicht, dass diese Sutten die authentische Lehre des Buddha sind.“ Er nennt es frühen Buddhismus und fügt hinzu, dass spätere Ansätze auch funktionieren.

Zurück zum Retreat. Jeden Tag studiert die Gruppe zwei Stunden lang Teile des Satipaṭṭhāna-Sutta, die Lehrrede über Sati. Sati wird oft mit Achtsamkeit übersetzt, aber dieses Wort kann verwirrend sein. Auf dem Retreat hat Sati die Bedeutung: bewusstes Gewahrsein. Das Sutta sagt: aus vier Perspektiven. Sechs Stunden sind für die Sitzmeditation reserviert und den Rest der Zeit können wir mit unserer Meditation fortfahren oder nicht, während des Essens reden oder nicht. Ich bin inzwischen sehr neugierig, welche Anweisungen Anālayo zur Meditation hat.

Meditation über den Körper

Seine erste Anweisung ist, Aufmerksamkeit im ganzen Körper zu verankern. Ein Körpergewahrsein. Wenn wir bemerken, dass die Aufmerksamkeit weggerutscht ist, kehren wir zur Verankerung im Körper zurück. Kehre sofort zurück, wenn die Ablenkung kurz war, und wenn sie länger dauerte, dann reflektiere kurz darüber. Analayo wählte, inspiriert durch das Sutta, das Gewahrsein des Körpers. Dazu kam seine eigene Erfahrung, dass er mit der Aufmerksamkeit auf den Atem eine zu enge Sicht bekam, die es ihm schwierig machte, im täglichen Leben gut zu funktionieren. Körpergewahrsein ist nichts Mystisches, es besteht einfach aus der Wahrnehmung der Signale, die Körpersensoren weitergeben: Positionen, Bewegungen, Temperatur und so weiter.

Nach unseren Studien der Sutta-Passage, in denen 32 Körperteile, Kopfhaare, Nägel, Urin und so weiter aufgeführt sind und verglichen werden mit einer Tüte, die weiße Bohnen, Linsen, Getreidekörner und so weiter enthält, werden wir angewiesen, die Aufmerksamkeit wieder zu im Körper zu verankern und dann einen Scan durch den Körper zu machen: zuerst die Haut, dann das Fleisch und dann die Knochen. Das lässt uns 20 Stunden allein. Am nächsten Tag um 9 Uhr morgens treffen wir uns zur Fragestunde.

Ein Teilnehmer fragt: „Warum enthalten die Sutten keine Anweisungen für die Meditation?“

„Das ist nicht bekannt, ich denke, es liegt an den anderen Zeiten und anderen Kulturen“, antwortet Anālayo. Wenn die Frage aufkommt, ob etwas in seine Methode passt, sagt er: „Ich lehre keine Methode, bei der man der Methode treu sein muss. Es ist Open Source. Ich möchte es loslassen.“

In meiner Meditation spiele ich innerlich mit Haut, Fleisch und Knochen und erkenne, dass die Schläuche fehlen: Blutgefäße, Spinalkanal, Harnröhre und all die anderen Röhrchen. Ich nehme sie in den Scan auf. Dann kommt spontan „möge dieser Körper gesund werden“. Nicht überraschend, denn das Körpergefühl von Metta ist meine grundlegende Meditation. Ich hätte Anālayo gerne etwas darüber gefragt, aber die 36-köpfige Gruppe hat eine Stunde Zeit, Fragen zu stellen und eine halbe Stunde, um Anālayo individuell zu sprechen. Fragen funktioniert also nicht, deshalb nehme ich die Antworten, die er der Gruppe gibt. „Offenes Gewahrsein allein reicht nicht aus. Du musst selbst sehen, was für dich richtig ist. Ständig Experimentieren und Überwachen. Das ist Sati. „

Zwei Denkrahmen

In der Lektion am dritten Tag beginnt mir zu dämmern, dass der frühe Buddhismus einen anderen Denkrahmen hat als das Theravada. Zum Beispiel sagt der frühe Buddhismus, dass die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer alle erfahren werden können. Wasser ist flüssig, die Tropfen hängen zusammen; das erleben wir. Der Text ist eine Landkarte, von der wir nicht alles erfahren müssen, was da in uns aufsteht. Der Abhidhamma stellt andere Forderungen und sagt: Wasser ist nicht zu erfahren, es ist ein Konzept.

Der Unterschied zwischen Realität und Konzept wurde im frühen Buddhismus als nicht wichtig angesehen. Im Gegensatz zum Abhidamma existieren die Begriffe der konventionellen und der letztendlichen, ultimativen Realität im frühen Buddhismus nicht. Ein Konzept wird im frühen Buddhismus nur verwendet, soweit es hilft. Das Erfahren macht man mit Hilfe der Karte. Wir kämpfen nicht, um jeden Quadratzentimeter Haut, jeden kleinsten Knochen kennenzulernen; es genügt, wenn wir sehen, dass die Karte der Realität entspricht. Hier ist Haut, da ist Knochen. Und die Frage, warum zum Beispiel das Gehirn nicht in der Aufzählung von Körperteilen steht, sagt Anālayo: „Frühe Buddhisten hatten nicht so ein Bedürfnis, alles zu abzudecken.“ Ein anderes Mal formuliert er es so: „Sie haben nicht so viel in Boxen gedacht. „

Wichtige Unterschiede

Weil wir auf der Landstraße laufen, geht unsere Unterhaltung weiter. Ich frage Anālayo, was er für die wichtigsten Unterschiede zur Theravada-Tradition hält, die nicht nur auf den Sutten beruht, sondern auch auf dem Abhidhamma und Visuddhimagga. Überraschenderweise erwähnt Anālayo drei andere Unterschiede als die zuvor.

Der erste wichtige Unterschied ist der Begriff der Vergänglichkeit („momentariness“). Der Denkrahmen des frühen Buddhismus sieht die Vergänglichkeit als eine kontinuierliche Veränderung, die zwischen der vorhergehenden Erscheinung und dem nachfolgenden Verschwinden besteht. Aus einer Lehrrede:

„Dies sind die drei Zeichen der Bedingung. Was sind die drei? Man weiß, woher es kommt, man weiß, dass es sich ändern wird, und man weiß, dass es aufhören und verschwinden wird. „

Anālayo vergleicht die frühe buddhistische Sicht mit einem fließenden Fluss und die späteren Ansichten mit einer flackernden Lampe, die an- und ausgeht. Es erscheint nur und verschwindet.

Als einen zweiten wichtigen Unterschied erwähnt Anālayo die Erklärung von Sati. „Gemäß den Sutten kann Sati heilsam oder unheilsam sein. Sati kann gleichzeitig mit einem mentalen Zustand als Ärger existieren und ist dann nicht rückblickend. “ Umgekehrt besagt die Theravada-Tradition, dass ein Hindernis nicht direkt erlebbar ist, sondern nur im Nachhinein, und dass Sati immer heilsam ist.”

Anālayo fügt einen dritten wichtigen Unterschied zwischen dem frühen Buddhismus und dem Theravada hinzu: die Art und Weise, in der festgestellt wird, ob jemand ein Stromeintreter ist (Sotāpanna). Die Kommentare erwähnen zwei aufeinanderfolgende Momente in der Erfahrung von Nibbana (Pfad und Frucht), während im frühen Buddhismus dieser Prozess sich über einen längeren Zeitraum erstrecken kann. Der Stromeintritt  ist nicht so sehr eine momentane erste Erfahrung von Nibbana, sondern die persönliche Transformation. Die Frage ist wichtig: Wie hat es dich verändert, was hat sich auf die Dauer verändert an der Art, wie du mit dir selbst und der Welt umgehst? Das starke Bedürfnis, die Erfahrung von Nibbana  – was genau jemand erlebt hat – zu überprüfen, ist typischerweise Theravada, nicht früh-buddhistisch.

Nicht abhängig vom Meditationslehrer

Am ersten Tag erzählte uns Anālayo, dass die Zeit des Studierens und Sprechens vielleicht noch wichtiger ist als die Meditation. „Es muss dort passieren.“ Ja, es passiert mir in den Gruppen. Sechs Leute bekommen 30 Minuten, um zusammen ein Poster zu erstellen, und darunter befindet sich immer jemand unter Zeitdruck oder unter dem Druck der deutschen Gründlichkeit. Ja, eine Menge passiert, zumindest bei mir, ich sehe eine Menge Spannung in mir entstehen. Vor dem Zubettgehen sagt meine Mitbewohnerin, sie sei glücklich gewesen, als ihr Lehrer sagte: „Benutze deinen Verstand“. Jetzt spricht das Nicht-Selbst zu mir. Kurz darauf taucht ein Hinweis meines Meditationslehrers auf: Wenn du mit den sieben Erwachungsfaktoren geübt hast, können sie sich im Laufe der Zeit selber ausgleichen. Die Kombination beginnt, sich selbst auszuprobieren: bewusstes Denken über Selbst und Nicht-Selbst und die Faktoren sich selbst überlassen. Das ist neu.

Vielleicht spricht Anālayo über diesen Lernprozess mit seiner Bemerkung: „Ich möchte keine Abhängigkeiten erzeugen, aber ich möchte der zentralen Idee Gestalt geben, ‘eine Insel zu sein, Zuflucht für sich selbst zu sein’, und den Schülern die Werkzeuge zu geben, ihre Praxis eigenständig zu entwickeln.“

Essenzen

Zurück zur Landstraße. Nach all diesen Unterschieden interessieren mich die Ähnlichkeiten zwischen dem frühen Buddhismus und Theravada. Anālayo antwortet kurz und mit Nachdruck: „Nibbana.“

„Und in deinem Nicht-System – gibt es etwas, das du absolut nicht auslassen kannst?“ Ebenso schnell und entschieden: „Die ethischen Grundlagen“.

Und die Meditationsanweisungen, die Teil der Sutten sind, wie steht es damit? Nach der Meditation über den Körper erhielten wir auch Meditationen über die Elemente, Tod, Gefühle, Hindernisse und die Erwachungsfaktoren. Aber ich bin noch nicht am Ende mit dem Satipaṭṭhāna Sutta. Anālayo beschreibt, basierend auf zwei anderen Sutten, auch eine Meditation über das Atmen und eine über Mitgefühl.

Und dann liegen noch Hunderte von Sutten vor uns.

Danke an die Organisatoren Robert und Hedwig (retreat.analayo@gmail.com)

Weitere Informationen

Retreat 2019 mit Anālayo: 21. bis 28. Dezember 2019 in Hamburg. Zulassungsvoraussetzungen: Teilnahme an mehreren Schweigeretreats und die vorherige Lektüre von „Perspectives on Satipaṭṭhāna“, Anālayo. Windhorse Publications, 2014 

Eine Anmeldung ist ab sofort über diese Webseite möglich

Literatur

Satipaṭṭhāna: The Direct Path to Realization, Anālayo, Windhorse Publications, 2004

Compassion and Emptiness in Early Buddhist Meditation, 2015, Bhikkhu Anālayo, Windhorse Publications

Mindfulness in early Buddhism, Anālayo, Journal of Buddhist Studies, Vol. XI, p. 147-174, 2013

Anja Edwards van Muijen

Edwards van Muijen ist Achtsamkeitslehrerin aus den Niederlanden.

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