Wie achtsam ist die westliche Achtsamkeit?

Ein Beitrag von Franz-Johannes Litsch veröffentlicht in der Ausgabe 2020/4 Mitgefühl unter der Rubrik Achtsamkeit. (Leseprobe)

Im zweiten Teil der Reihe „Achtsamkeit – wie der Buddha sie lehrte“ befasst sich Franz-Johannes Litsch damit, wie Modetrends und wissenschaftliche Forschung die Achtsamkeit definieren. Entscheidende Aspekte des Buddhaweges, so arbeitet er heraus, bleiben dabei auf der Strecke.

Achtsamkeit oder Mindfulness ist derzeit ein Megamo­de­trend. Im März 2020 finden sich bei der Google-Suche nach „Achtsamkeit“ 8,9 Millionen Ergebnisse; bei „mindfulness“ 120 Millionen. Angesagt ist vor allem die unter dem Label MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) inhaltlich reduzierte und schnell erlernbare Form der Praxis. Zielgruppe sind Menschen, die nach Ruhe, Entspannung, innerem Frieden suchen oder an Stress, Burn-out, Schlafstörungen, Depressionen leiden. Ganze Berufszweige wie Heilpraktikerinnen, Yogalehrer, Ärztinnen, Psychotherapeuten, Pädagoginnen oder Erfolgsberater haben sie für sich entdeckt. Auch Forschungsinstitute, Wirtschafts­konzerne, Banken, Softwarefirmen und sogar Militärs und Geheimdienste bedienen sich ihrer.

Es lässt sich nicht übersehen, dass der Achtsamkeitshype zu einem Segment des alles verschlingenden „freien Marktes“ geworden ist mit all seinen Folgen. Die Banalisierung der Achtsamkeit durch selbsternannte „Meister“ und „Schamaninnen“, wie sie sich in Kioskzeitschriften, im Internet, in Kursen und zahllosen Büchern vollzieht, kennt kaum Achtsamkeit auf sich selbst – und wird umso mehr massenhaft konsumiert. Nur wenig geht es hier um Achtung, Wertschätzung, Fürsorge und den Schutz für andere, weit mehr ums private Glück, den persönlichen Erfolg, den trendigen Lifestyle und – wichtig im gnadenlosen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konkurrenzkampf – um Selbstregulierung und Selbstoptimierung.1

Mehr noch, unter den globalen Smartphone-, Social-Media-, Cyber-, KI-Supermächten ist eine daten- und algorithmenbasierte Achtsamkeitstechnik und Glücksindustrie entstanden, die mit Mindfulness-Apps bereits Umsätze in Milliardenhöhe und Gewinne von Hunderten Millionen US-Dollar einbringt.2 So wird Achtsamkeit schleichend zum Gegenteil ihrer selbst – zu dem, was schon der Buddha miccha sati, falsche Achtsamkeit nannte.

Ökonomie der Aufmerksamkeit

Ohne Zweifel gibt es zahlreiche seriöse, erfahrende und verantwortliche Achtsamkeits- oder Vipassana-Kurse und Lehrerinnen und Lehrer. Doch vieles, was heute Achtsamkeit genannt wird, ist in Wahrheit Bestandteil der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“3. Die ist die derzeitige Grundlage des Internets und der gesamten Kommunikationstechnologie. Sie läuft parallel zur Geldökonomie, hat aber die gleichen Gesetze. Die menschliche Aufmerksamkeit nimmt hier die Stelle des Geldes an, denn mit ihr wird das (scheinbar) Kostenlose bezahlt. Aufmerksamkeit ist dabei sogar wichtiger als Geld, weil damit alles beherrscht und gesteuert werden kann. Am erfolgreichsten ist, wer die meiste Aufmerksamkeit auf sich akkumulieren kann. So konkurrieren Zahllose verbissen um Aufmerksamkeit und es gibt Aufmerksamkeits-Reiche („Promis“) und Aufmerksamkeits-Arme („Loser“). 

Damit uns das nicht alle überfordert und in den Burn-out treibt, muss unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit gesteigert werden. Gewünscht ist weniger Stress bei mehr Aufmerksamkeit für das, was jeweils erwünscht ist. Im Job und in der Freizeit. Vor allem am Smartphone. Auch unter den Achtsamkeitsangeboten selbst herrscht ein heftiger Konkurrenzkampf. Bei den Büchern hat derzeit ein deutscher Jurist gewonnen, mit einem pseudospirituellen Kriminalroman unter dem Titel „Achtsam morden“. Seit über einem Jahr steht er an der Spitze der Bestsellerlisten.

Bücher, die auf der Grundlage jahrzehntelanger Erfahrung und Ergründung aufzeigen, was Achtsamkeitspraxis bedeutet, sind weit von solchem Erfolg entfernt. Auch unter den Achtsamkeitslehrerinnen und -lehrern in Deutschland wissen nur wenige, wer im Westen das erste Buch über Achtsamkeitsmeditation vorgelegt hat. Er war ein deutscher Jude aus Berlin, der sich in der jüdischen Selbsthilfe engagiert hatte und der Vernichtung durch die Nazis 1936 durch die Emigration nach Sri Lanka entging, wo er unter dem Namen Nyanaponika buddhistischer Mönch und Gelehrter wurde. Unter dem Titel „Satipatthana – der Heilsweg buddhistischer Geistesschulung“ beschreibt er die buddhistische Meditation, die er über seinen ebenfalls deutschstämmigen Lehrer Nyanatiloka kennengelernt hat. Es enthält die deutsche Übersetzung der in Pali überlieferten Lehrrede, in der der Buddha vor rund 2 500 Jahren die Hauptmethode seiner Meditationspraxis vorgestellt hat. Das Buch ist 1950 in Konstanz erschienen und hat bis heute keine Beachtung gefunden. Erst das zweite Buch des Autors mit dem Titel „Geistestraining durch Achtsamkeit“, erschienen 19694, fand unter den damaligen jugendlichen Asienpilgern größere Resonanz.

Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit?

Es sind die Achtsamkeitsforscherinnen und -forscher, die die Definition übernommen haben, was „Achtsamkeit“ ist. Dabei interessieren sie sich kaum für das, was jener Buddha einst dazu sagte; der Pali-Kanon ist ihnen zumeist unbekannt. Sie nähern sich der Sache auch nicht als Praktizierende, sondern auf die wissenschaftliche, empirisch von außen betrachtende Weise: über Datenerhebungen, Messmethoden, Gehirnscans und Statistik. So ist es auch ein Standes- und Arbeitskollege, der US-Arzt und Molekularbiologe, Professor Jon Kabat-Zinn, der für das von ihm konzipierte MBSR-Training nun als „Vater der Achtsamkeitsmeditation“ gilt. 

Im Verständnis der meisten Forscherinnen und Forscher sind Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Gewahrsein gleichbedeutend. Folglich ist auch das meiste, was unter dem Titel „Achtsamkeitsforschung“ firmiert, in Wahrheit „Aufmerksamkeitsforschung“. Was sich wieder bestens in die Ökonomie der Aufmerksamkeit fügt. Allerdings hat erst diese Forschung der Meditation und dem Buddhismus in der westlichen Medizin, Hirnforschung, Psychologie, Pädagogik und Persönlichkeitsbildung zur Anerkennung verholfen, sodass sich beide nicht mehr von vornherein als mystizistische Esoterik abtun lassen, sondern sich empirisch als wirksam, hilfreich, heilend, überzeugend und inspirierend erwiesen haben. Viele Menschen wollen diese Praxis nicht mehr missen. 

Der Buddha hat Achtsamkeit (sati) sehr klar von Aufmerksamkeit (manasikara) unterschieden. Aufmerksamkeit ist für ihn in jedem Bewusstseinsmoment vorhanden, ganz gleich, ob der gut oder schlecht, heilsam oder unheilsam ist. Aufmerksamkeit gehört in der Pali-Abhidhamma-Psychologie zu den universellen Bewusstseinsfaktoren (cetasika), die jeden aktuellen Bewusstseinsmoment (citta) begleiten. Achtsamkeit dagegen ist nicht in jedem Bewusstseinsmoment vorhanden, sondern muss eigens entwickelt, entfaltet, stabilisiert werden. Achtsamkeit ist so für den Buddha eine kulturelle Praxis und Errungenschaft. Buddhas Begriff für Meditation ist auch bhavana, was „Kultivierung“ heißt. Sati­patthana, Achtsamkeitspraxis ist Kultivierung des Menschen, vor allem seines Bewusstseins. Sie ist nicht zu trennen von der Kultivierung von Ethik (sila), Gewaltfreiheit (ahimsa) und Mitgefühl (karuna)

Denn das Ziel der Lehre und Praxis des Buddha besteht in der Beendigung des Herbeiführens von Leiden(dukkha-samudaya). Achtsamkeit (sati) in Verbindung mit Wissensklarheit (sampa­janna) ist der vom Buddha gelehrte Weg, jegliches durch Unachtsamkeit – durch Gier, Hass und Verblendung – verursachte Leiden über tiefgründige Einsicht (vipassana) in die Wirklichkeit zu beenden. Gewalt und Töten auszuführen, zu rechtfertigen, zu akzeptieren ist hiermit unvereinbar. Der Satipatthana-Weg5 des Buddha ist ein Weg der Befreiung von Leid, Missachtung, Gewalt, Zerstörung, Aneignung und Macht.

Anmerkungen

  1. Mark Siemons: Kapitalismus und Buddhismus: „Der erleuchtete Angestellte“, Frankfurter Allgemeine, 12.4.2015
  2. Jeannine Hierländer: „Das Geschäft mit dem Glück“, Die Presse, Wien, 7.7.2019
  3. Georg Franck: „Ökonomie der Aufmerksamkeit, ein Entwurf“, München 1998
  4. Nyanaponika: „Geistestraining durch Achtsamkeit. Die buddhistische Satipatthana-Methode“, Stammbach 2007
  5. Majjhima Nikaya, Mittlere Sammlung, Satipatthana-Sutta 10

ENDE DER LESEPROBE

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Franz-Johannes Litsch

Franz-Johannes Litsch ist Architekt und war viele Jahre Mitarbeiter des Umweltbundesamts. Seit über 50 Jahren ist er auf dem Weg des Buddha. Seit 20 Jahren studiert und praktiziert er im Theravada, zuvor im Zen und im tibetischen Buddhismus. Er ist Autor und Dozent für buddhistische und westliche Philosophie, Vipassana-Lehrer sowie Mitarbeiter am Institut für interreligiöse Studien in Freiburg.

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