Warum … einer Arte-Dokumentation über Missbrauch die angestrebte Aufklärung nicht gelingt

Ein Beitrag von Werner Vogd veröffentlicht in der Ausgabe 2023/1 Sprechen unter der Rubrik Buddhismus und Gesellschaft.

Auch buddhistische Geistliche können schlimme Dinge tun. Die Sache lässt sich nicht mehr mit dem mitleidigen Fingerzeig auf andere abwenden: Nicht nur im Katholizismus und in der Reformpädagogik kann die seelische Führung von Menschen sehr hässliche Formen annehmen, sondern auch bei uns – in buddhistischen Gruppen.

Foto: Malicki M. Beser auf unsplash

Prominent platziert fand sich bei Arte im Herbst 2022 die Dokumentation „Buddhismus: Missbrauch im Namen der Erleuchtung“ von Elodie Emery und Wandrille Lanos, die in der buddhistischen Welt hohe Wellen schlug. Der Film beschränkt sich in seinen Betrachtungen weitgehend auf Rigpa und ihren Gründer Sogyal Rinpoche sowie auf die von Robert Spatz gegründete Gemeinschaft Ogyen Kunzang Choling – beide der Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus angehörend. Besonders widerlich: Letzterer hat Eltern nahegelegt, sich von ihren Kindern zu trennen, um ihnen eine bessere buddhistische Erziehung (sprich: „spirituelle“ Sonderbehandlung im Schlafzimmer von Herrn Spatz) zu ermöglichen. Auch wenn in manchen Kreisen des tibetischen Buddhismus weiterhin das Gegenteil als Mythos kultiviert wird: Erniedrigung und sexueller Missbrauch durch den vermeintlichen Meister führt weder zu Seelenfrieden noch zur Erleuchtung, sondern zur Traumatisierung der Opfer. Gerade dies wird in dem Film schmerzhaft sichtbar: Die Betroffenen suchen verzweifelt, endlich in ihrem Leid gehört zu werden und hierdurch ein wenig Gerechtigkeit zu erfahren. Tragischerweise ist dies jedoch selten von Erfolg gekrönt. Die Täter und ihre Gefolgschaft sind nicht einsichtig, und die Menschen, die gewillt sind, den Opfern Gehör zu schenken, haben in Hinblick auf die weiterhin fortbestehenden Konstellationen des Missbrauchs nicht die wünschenswerte Macht, die Zustände zu verändern.  

Projektionen mindern Schuldgefühle

Dazu kommt ein weiteres Problem, in der Psychologie unter dem Begriff „empathischer Stress“ bekannt: Wenn die Widerwärtigkeit eines Geschehens und der hiermit einhergehende Schmerz sehr groß sind, neigen wir dazu, die Augen zu verschließen und nach Rationalisierungen zu suchen, die das Unsägliche erklären. Dann projizieren wir die hiermit einhergehenden Fragen nach Schuld und Verantwortung einfach irgendwo anders hin – dorthin, wo wir nicht sind. „Ich habe doch nichts damit zu tun und außerdem habe ich ja meine eigenen Probleme. Sollen doch die das regeln, die qua Amt besonders dazu qualifiziert scheinen.“ 

Abwehr. Menschlich. Wir alle neigen dazu.  

Auf genau dieses Problem stoßen auch die Macher:innen der Arte-Dokumentation. Man möchte aufklären, also etwas Gutes tun, stößt jedoch auf die eigene Hilflosigkeit. Gerichtsprozesse dauern sehr lange, und die Angeklagten haben die Möglichkeit, sich zu entziehen (manchmal sterben sie einfach, bevor Ihnen der Prozess gemacht wird). Die Opfer bekommen ihre Sühne nicht und bleiben mit ihrem Anliegen allein. Wohin also mit der ganzen Wut und Verzweiflung? Da man die eigentlichen Täter nicht kriegt und die Ignoranz ihrer Gefolgschaft unendlich ist, scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als sich Sündenböcke zu suchen. 

Statt sich den eigentlichen Ursachen von Missbrauch in spirituellen Gemeinschaften zu stellen (möglicherweise auch in der eigenen), wird nach dem versagenden Retter gesucht. Dieser hätte das Elend doch durch ein Machtwort verhindern können – hat es aber nicht getan. Man hat jetzt zwar nicht die eigentlichen Täter, jedoch zumindest einen Schuldigen: den Dalai Lama, dazu noch seine Sekretäre und Übersetzer, im Film zusätzlich prominent: Matthieu Ricard. In puncto Missbrauch haben die benannten Personen sich selbst zwar nichts zuschulden kommen lassen, aber sie haben in Frankreich zumindest einmal die buddhistischen Zentren, in denen diese unsäglichen Dinge geschehen sind, besucht. 

Letztlich ist dies nichts anderes, als die Vorsitzende der evangelischen Kirche für den Missbrauch in zwei katholischen Bistümern verantwortlich zu machen – nur weil sie im Namen der Ökumene einige Male an deren Feierlichkeiten teilgenommen hat. Aus ihrer Position kann sie nicht viel anderes machen, als den Opfern zuzuhören, ihr Bedauern auszudrücken und sie zu ermutigen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie verfügt nicht über die Macht, auf eine andere Kirche durchzugreifen – es gelingt ihr ja nicht einmal, all die Missstände im eigenen Haus in Ordnung zu bringen. In der gleichen Situation befindet sich der Dalai Lama. Schon in seiner eigenen Linie, den Gelugpa, gelingt es ihm nicht so recht, destruktive Kulte zu unterbinden (man denke an den Shugden-Kult). Die dramatischen Formen des Missbrauchs traten jedoch bei den Nyingma auf. Er ist nicht ihr Oberhaupt und darf sich auch nicht in ihre Belange einmischen. Sobald er andere Lamas öffentlich anprangert, würden sich die Vertreter der anderen Schulen aggressiv gegen ihn wenden. 

Der Dalai Lama mag zwar den Titel des Friedensnobelpreises tragen, doch letztlich ist er in Hinblick auf das Unrecht, das Menschen auch im Namen des Buddhismus begehen, genauso hilflos wie Barack Obama in Hinblick auf den Rassismus in den USA. 

All dies ist aus Sicht der Opfer, die hier aus verständlichen Gründen eine eindeutigere Unterstützung verlangt haben, misslich. Doch das ist die Realität.

Nicht allwissend

Zudem sind selbst die höchsten spirituellen Führerinnen und Führer Menschen wie wir alle: Sie sind nicht allwissend. Sie schätzen Situationen manchmal falsch ein. Sie befinden sich in unlösbaren Rollenkonflikten und sind angesichts des Unrechts, das in den Gemeinschaften geschieht, denen sie nahestehen, hilflos. Sie reagieren zu spät, finden nicht die richtige Form, sind ab und zu mal feige und begreifen manchmal nicht so recht, dass sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind (so wie bei der Einweihung des Lerab-Ling-Tempels). 

Wenn man den Dalai Lama als Menschen ansieht, der, wie wir auch, Fehler macht, dann kann man ihm verzeihen und sich weiterhin davon inspirieren lassen, wie demütig und humorvoll er seine spirituellen Aufgaben ausübt. Man kann ihm all dies nur dann verübeln, wenn man ihn in den Status eines gottähnlichen Wesens erhebt. Wer ihn als Übermenschen sieht, der heilig und unfehlbar ist und dabei idealerweise auch noch allwissend und mächtig sein sollte, der oder die wird unweigerlich enttäuscht sein müssen. Doch ist es nicht gerade diese Projektion, dieses trügerische Bild vom buddhistischen Heiligen, das dem Missbrauch in buddhistischen Gruppen Tür und Tor geöffnet hat? 

Gehen wir deshalb ein paar Schritte zurück, um die Weichenstellung zu verstehen, an der die Dinge anfangen, schiefzulaufen. 

Eigene Unvollkommenheit akzeptieren

Buddhistische Weisheit beruht auf der Einsicht, dass alle Wesen (damit auch Lamas, Tulkus und Zen-Meister:innen) aufgrund von Unwissenheit handeln und zudem Gefahr laufen, von Gier überwältig zu werden. Entsprechend übt man sich gemeinsam in meditativer Praxis und Demut. Auf diese Weise die eigene Unvollkommenheit akzeptierend, lernt man, dass die durch den eigenen Geist aufgebauten Zustände und Projektionen vergänglich und substanzlos sind, also besser nicht so ernst genommen werden sollten. Mit der hiermit einhergehenden Entspannung wird es möglich, ein heilsameres, friedvolleres Leben zu führen. Hierin liegen die Früchte der buddhistischen Lehren. Nicht mehr und nicht weniger.

Wenn Menschen jedoch glauben, sie oder ihre Lehrer:innen seien allwissend und heilig, sitzen sie einer fatalen magischen Verklärung auf. Sie werden dann auch glauben, dass man das Karma anderer Menschen durch Schläge, Demütigungen, ja, sogar durch Vergewaltigung reinigen könne. Wenn diese fatalen Hoffnungen auf einen charismatischen Lehrer treffen, der – durch seine Eitelkeit verblendet – glaubt (oder vorgibt), dass seine durch Gier, Hass und Unwissenheit geleiteten Handlungen in Wirklichkeit der Ausdruck mitfühlender verrückter Weisheit sind, dann sind Elend und Verwirrung unvermeidbar. 

Hiermit können wir klar die geistige Haltung identifizieren, die den Missbrauch in spirituellen Gemeinschaften nährt. „Allen Dingen geht der Geist“ voran, heißt es in der Dhammapada. Und der Geist des Missbrauchs ist der Glaube an die Allmächtigkeit, Allwissenheit und Unfehlbarkeit des spirituellen Lehrers, der spirituellen Lehrerin (oder der eigenen Person)!

Blanker Unsinn

Um zur Arte-Dokumentation zurückzukommen: Die von Robert Spatz missbrauchten Kinder sind ein Produkt des irrsinnigen Glaubens, dass ein pädophiler Lama sie besser erziehen könnte als die eigenen Eltern. Sogyal Rinpoches unsägliche Eskapaden sind die Folge des unter Rigpa-Schülerinnen und -Schülern verbreiteten und von Nyingma-Lamas kultivierten Dogmas, dass eine Schülerin, ein Schüler sich glücklich schätzen sollte, wenn sie oder er von einem Lama vergewaltigt und geschlagen wird.  

Gerade der Dalai Lama und auch Mathieu Ricard haben solchen Unsinn niemals vertreten, sondern immer wieder auf die buddhistischen Tugendregeln verwiesen. Sie pflegen keinen Allmachtskult, sondern zeigen sich erfrischend uneitel und bescheiden als übende Menschen. Deshalb finde ich es schade, dass der Film diese beiden ehrenwerten Menschen zum Sündenbock macht. 

In diesem Sinne klärt der Film nicht auf, sondern verklärt den Buddhismus seinerseits in Richtung einer weiteren magischen Projektion: Wenn der große, allmächtige Dalai Lama nur sein Wort erhoben hätte, dann wäre alles gut geworden. Dem ist nicht so.

In der Dokumentation findet sich eine Szene, wo der Dalai Lama, von westlichen Lehrer:innen mit dem Problem des Missbrauchs konfrontiert, sagt: „Ja, das ist ein wirkliches Problem, aber wir können das nur gemeinsam lösen.“

Genau dies ist der entscheidende Punkt: Es ist die Gemeinschaft der Praktizierenden, die die Probleme in ihren jeweiligen Gruppen anzugehen hat. Wer sonst? Es gibt keine allmächtige Instanz außerhalb der Beziehungen, die wir leben. 

Der erste Schritt hierzu lautet: Abschied nehmen von der Vorstellung, dass spirituelle Lehrerinnen und Lehrer, fortgeschrittene Meditierende, Mönche, Priester:innen oder Lamas gottähnlich und unfehlbar seien. Dieser falsche Glaube ist der Geist, dem unweigerlich der Missbrauch folgt. 

Sind wir bereit für diesen Schritt oder sehnen wir uns insgeheim weiterhin nach Vollkommenheit (also nach unmenschlicher Spiritualität)?

Wichtige Anregungen

Insbesondere der Buddhismus aus Tibet hat lange Zeit diesbezügliche Sehnsüchte westlicher Menschen bedient. Die Zeit scheint gekommen, dass auch der tibetische Buddhismus im Westen zu einer reiferen Form der Spiritualität findet. Der Film liefert hierzu zwei wichtige Anregungen.

Zunächst gilt zu begreifen, dass es immer Menschen geben wird, die trotz spiritueller Schulung nicht in der Lage sind, ihre destruktiven Emotionen zu kontrollieren und die anderen Menschen deshalb schaden. Mitgefühl mit den Tätern zu haben, heißt, dies ohne Groll zu erkennen, sie aus ihren Ämtern und Funktionen zu entfernen und darauf zu achten, dass sie in Zukunft weder sich selbst noch anderen weiteren Schaden zufügen. Mitgefühl mit den Opfern heißt, ihrem Schmerz Raum zu geben und ihr Leid oder ihre Probleme nicht abzuwiegeln. Es heißt aber auch, Strukturen zu schaffen, in denen sie psychologische und rechtliche Unterstützung bekommen. 

Zweitens bedeutet es – mehr als in buddhistischen Kreisen üblich –, all jene Dogmen als trügerischen Aberglauben zu benennen, die Missbrauch heiligen oder Geistliche zu unfehlbaren Wesen erklären. 

Im Prinzip ist bei den beiden vorangehenden Punkten jeder von uns gefragt. Freilich – hier dient die Arte-Dokumentation gleichsam als Wink mit dem Zaunpfahl – wäre es wünschenswert, wenn auch solche Menschen ihre Stimme erheben, die Kraft ihrer öffentlichen Funktion und Verantwortung für die buddhistischen Lehren eine besondere Verantwortung tragen.

Werner Vogd

Werner Vogd ist Professor für Soziologie an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Systemtheorie, rekonstruktive (früher: qualitative) Sozialforschung, Organisation und Entscheidungsprozesse, naturwissenschaftliche Denkformen, Religionssoziologie, insbesondere des Buddhismus. Sein neues Buch und das Gespräch beziehen sich auf seine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie „Buddhismus im Westen“.

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