Königinnen ohne Reich

Ein Interview mit Chandra Chiara Ehm geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2022/1 fürsorglich unter der Rubrik Buddhismus Heute. (Leseprobe)

Mit 21 Jahren ging Chandra Chiara Ehm voller Idealismus in ein tibetisch-buddhistisches Kloster in Nepal. Heute ist sie durch das Geshema-Programm ausgebildet in traditioneller tibetischer Philosophie und promoviert als Kulturanthropologin und Religionswissenschaftlerin. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Forschung über das Leben buddhistischer Nonnen in den Klöstern Nepals und Indiens.

Nepal, Foto: Carol Sachs

BUDDHISMUS aktuell: In der Dissertation, an der Sie arbeiten, befassen Sie sich mit „Orthodoxie“ und „Orthopraxie“. Was steckt dahinter?

Chandra Chiara Ehm: Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen der theoretischen Lehre und der gelebten Praxis. Was gilt als wahr und richtig, was steht in den Texten, was sagen wir, dass wir es glauben und praktizieren, und was glauben und praktizieren wir wirklich? Zwischen diesen Polen gibt es ein Spannungsfeld, und zwar in allen Religionen. Es geht also offenbar um eine universal menschliche Idealvorstellung und wie wir uns dieser gegenüber positionieren, und nicht um die Angelegenheit einzelner Religionen oder Institutionen.

Wie kommt es zu diesem Spannungsverhältnis?

Sowie ein Mensch eine religiöse Identität aufbaut oder sich religiös verwurzelt, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl. Uns westliche Menschen kennzeichnet, das habe ich immer wieder beobachten können, dass die meisten von uns als Erwachsene zum Buddhismus konvertieren. Da ich selbst mit dem Buddhismus aufgewachsen bin, trifft das für mich nicht im gleichen Maße zu, deshalb fällt es mir vielleicht besonders stark auf: Konvertierte Buddhistinnen und Buddhisten sind oft sehr viel strenger am Ideal orientiert als ich selbst. Ich habe eine gewisse Entspanntheit, was die Dogmatik angeht, während meine konvertierten Freundinnen, Freunde und Bekannten viel rigidere Ansichten haben. Strenger bin ich wahrscheinlich mittlerweile, wenn es zur Verkörperung von Glauben kommt. Gerne weniger Glaubensstrukturen und Dogmatik und mehr Raum für eine verkörperte und ganzheitliche Entwicklung.

Außerdem beobachte ich, dass wir im Westen gewisse Teile des tibetischen Buddhismus komplett ausblenden – wir übersehen sie und tun so, als wären sie nicht vorhanden. Der tibetische Buddhismus ist ganz und gar Religion, und das heißt auch: traditionalistisch, patriarchalisch, voller Mythen und Riten. Wir im Westen stellen es aber gern so dar, als wäre der tibetische Buddhismus etwas ganz Modernes. Eine Lebensphilosophie, eine wissenschaftsnahe Lebensart. Ganz so, als würde er zum Beispiel die Geschlechter eigentlich gleichstellen oder sich durch eine naturwissenschaftliche Präzision auszeichnen. Wir legen also Filter an, und die interessieren mich.

Wir beziehen uns vor allem auf die Schriften. 

Ja, das lässt sich auch an den buddhologischen Studiengängen sehen. Buddhismuskundliche und tibetologische Forschung in Deutschland und Österreich befasst sich in erster Linie mit der Analyse und der Übersetzung von Texten. Buddhistische Texte liefern aber lediglich das perfekte Beispiel,etwa hinsichtlichder buddhistischen Praxis und Lebensführung. Texte erzählen aber so gut wie gar nicht von Fehlern oder wie Hindernisse in der Praxis überwunden werden. Wir stellen uns hier im Westen also fortwährend in den Kontext von Idealen. 

Ist das ein Problem?

Zum einen laufen wir Gefahr, den gelebten Kontext des tibetischen Buddhismus in seinen ursprünglichen Ausprägungen nicht zu kennen, zum anderen, den Prozess der Verkörperung buddhistischer Praxis aus den Augen zu verlieren. Interessanterweise sind es oft modern-säkulare Entwicklungen, die sich auf den Buddhismus beziehen und versuchen, diese Fehlentwicklung aufzufangen oder wieder umzukehren. Ich denke hier an achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, also MBSR, oder verschiedene Formen des Selbstmitgefühlstrainings wie MBSC oder das kognitionsbasierte CBCT. Wenn man sich damit eingehender befasst, ist es unvermeidlich, in die persönliche Erfahrung zu kommen und sich den eigenen emotionalen Realitäten zu stellen, ebenso wie der Frage, wie man das eigene Alltagsleben erfährt. 

Denn seien wir ehrlich: Zumindest im tibetischen Buddhismus ist es oft so, dass wir den Alltag beiseitelegen, ins Zentrum gehen, für einen Abend, ein Wochenende oder länger, uns dort auf eine schillernde religiöse Ebene begeben – und danach kehren wir in den Alltag zurück und schnüren das Päckchen unserer Alltagsprobleme wieder auf. Das Gefährliche daran ist, meine ich, dass wir kritische Themen nicht durcharbeiten. Wir legen uns keine Rechenschaft darüber ab, dass wir uns im Alltag mitunter sehr anders verhalten als am Wochenende im buddhistischen Kontext. Es gibt ja nicht nur – wie in den Schriften dargelegt – das perfekte Leben, das wir am Wochenende im Dharmazentrum zu imitieren versuchen, sondern auch ganz menschliche Grauzonen.

Sie haben vor vielen Jahren begonnen, buddhistische Realitäten zu erforschen. Wie kam es dazu?

Die Vorgeschichte reicht bis in meine Kindheit zurück. Ich bin zwar in Trier aufgewachsen, einer katholischen Weinstadt an der Mosel, aber meine Eltern hatten sich in Nepal kennengelernt, und beide haben bis heute eine Verbindung zum tibetischen Buddhismus, zu Indien und generell zu asiatischen Kulturen. Meine Geschwister und ich sind schon als Kinder mit unseren Eltern nach Indien und Nepal gereist, und wir sind mit dem Buddhismus aufgewachsen.

Sie waren dann selbst auch im Kloster.

Am liebsten hätte ich die Schule vorzeitig verlassen und wäre noch als Jugendliche in ein tibetisch-buddhistisches Kloster eingetreten. Als Mönch wohlgemerkt. Auf den dringenden Rat eines tibetischen Lamas hin, dem ich heute noch dafür dankbar bin, habe ich erst das Abitur gemacht und bin dann erst nach Nepal gegangen. In Kathmandu bin ich in den Konvent Khachoe Ghakyil Ling eintreten und habe auch für längere Zeitabschnitte im Kloster Sera in Bylakuppe in Südindien studiert. Insgesamt habe ich neun Jahre als Nonne unter Nonnen im Kloster gelebt. Zu Beginn fühlte sich das sehr romantisch an: Ich wollte mich ein Leben lang verpflichten und in meinem Leben nie wieder etwas anderes sein als Nonne im tibetischen Buddhismus.

Wie kamen Sie dann dazu, das Leben, das Sie selbst führten, wissenschaftlich zu erforschen?

Ich hatte immer ein stark akademisches Interesse, deswegen habe ich mich auch im Gelug-Orden so wohl gefühlt. Ein Orden, der das Studieren und logische Denken sehr stark betont, wenn auch nicht unbedingt das selbstkritische Denken. 

Nach einiger Zeit im Kloster wurde mir klar, dass die bestehende Literatur über Nonnen – die bis heute sehr, sehr spärlich ist – das tatsächliche Leben dieser Frauen oftmals nicht angemessen abbildet. Meist wird bis heute romantisierend darüber geschrieben, selbst in der wissenschaftlichen Forschung. Wenn man aber im Kloster lebt, erkennt man ganz deutlich, dass diese Beschreibungen von außen kommen. Die Nonnen in ihrer subjektiven Wahrnehmung werden von der Forschung nicht gesehen. Diese Frauen erscheinen dort nicht als Subjekte ihres Lebens, sondern die Forscherinnen und Forscher haben die Tendenz, sie zum Objekt ihrer eigenen religiösen oder sozialwissenschaftlichen Agenda zu machen.

Gewissenhafte Wissenschaftler:innen würden das sicher weit von sich weisen …

Westliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen von außen, oft führen sie Interviews nicht einmal mit Übersetzerin oder Übersetzer auf Tibetisch, sondern auf Englisch. So oder so merken sie häufig nicht, dass sie nicht mit der Realität dieser Menschen in Kontakt sind, sondern mit dem Schein der Realität. 

Man muss verstehen, dass Klöster geschlossene, exklusive Gesellschaften sind, ähnlich wie das Militär. Was höre ich, wenn ich von außen komme und neugierige oder kritische Fragen an Repräsentanten des Militärs stelle? Sicherlich keine Interna, keine geheimen Strategien, nichts über Ihre Probleme oder Unzulänglichkeiten. Diese geschlossene Gesellschaft hat ein Einvernehmen, wie sie sich nach außen darstellen möchte – und das höre ich. 

Selbst im Kloster als Nonne habe ich erst nach zwei Jahren gemerkt, dass die anderen Nonnen vorher gar nicht richtig mit mir gesprochen hatten. Sicherlich hatten sie mit mir gesprochen – guten Tag, wie geht’s, gute Nacht. Aber nach zwei Jahren hat sich ein unsichtbarer Hebel umgelegt, und erst dann haben sie angefangen, offen mit mir zu kommunizieren. Bis dahin war ich eine Außenseiterin gewesen, ohne es zu merken!

Und dann tat sich für Sie die Chance auf, das Leben der Nonnen aus der Innenperspektive zu dokumentieren?

Ja, mir wurde klar, dass ich die unglaubliche Möglichkeit hatte, über das zu berichten, was vor mir lag – diese Klostergemeinschaften, die sich in einem so starken Wandel befinden. Das habe ich nicht als Gegensatz zu meinem Leben als Nonne gesehen, sondern ich wollte diesen Gemeinschaften auch etwas zurückgeben, indem ich ihre Realität zu erfassen versuche. Und in der Forschung konnte ich mit meinem Erfahrungshintergrund eine Lücke füllen. 

Auf einer UNESCO-Konferenz, auf der ich übersetzt habe, bin ich dann Professor Charles Ramble begegnet. Er ist Anthropologe an der Ecole Pratique des Hautes Études (EPHE) in Paris und auch mein jetziger Doktorvater. Er machte mich auf die Möglichkeit aufmerksam, in Frankreich ein forschungsbasiertes Diplom zu erwerben. Dieser Studiengang widmet sich zwei bis sechs Jahre einem Forschungsprojekt. Währenddessen schreibt man an einer Arbeit, die vom Anspruch her etwa zwischen Master und Promotion angesiedelt ist. Meine Arbeit trägt den Titel „Queens without a Kingdom worth ruling – Tibetan Buddhist Nuns and the Process of Change in Tibetan Monastic Communities“. 

Übersetzt heißt das so viel wie „Königinnen ohne ein Reich, das des Regierens wert wäre“. Welche Forschungsfrage haben Sie in Ihrem Projekt bearbeitet und wie sind Sie vorgegangen?

Die Frage ist meinem Promotionsthema ähnlich: Wie wird die Realität der Nonnen in der Literatur und Außenwahrnehmung beschrieben, und wie sieht sie wirklich aus? Gibt es dazwischen eine Lücke, die einer Erklärung und Beschreibung bedarf?

Es ist klar, dass ich mich dafür intensiv in der Literatur umsehen musste. In der Feldforschung habe ich mit einem „mixed method approach“ gearbeitet, also unterschiedliche Methoden einbezogen, von der teilnehmenden Beobachtung über verschiedene Interviewformen bis zu Filmaufnahmen, Tonaufnahmen, Feldnotizen. Alles das habe ich später wissenschaftlich basiert ausgewertet. Ich habe die Klosterleitung interviewt, die Lehrenden, ältere und jüngere Nonnen und Mönche.

Das Gespräch führte Susanne Billig. In der nächsten Ausgabe setzen wir das Interview mit einem zweiten Teil fort.

Weitere Informationen

Die Interviewpartnerin im Netz: tinyurl.com/ccehm-bio-englisch

ENDE DER LESEPROBE

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Chandra Chiara Ehm

ging mit 21 Jahren voller Idealismus in ein tibetischbuddhistisches Klosterin Nepal. Heute ist sie durch das Geshema-Programm ausgebildet in traditioneller tibetischer Philosophie und promoviert als Kulturanthropologin und Religionswissenschaftlerin. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Forschung über das Leben buddhistischer Nonnen in den Klöstern Nepals und Indiens.

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