Ist Zen jenseits von Moral? Sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch im Zen-Buddhismus

Ein Beitrag von Christopher Hamacher veröffentlicht in der Ausgabe 2013/3 Grenzüberschreitungen unter der Rubrik Buddhismus in der Welt.

Sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch im Zen-Buddhismus

Als die erste große Welle von Zen-Lehrern in den 50er und 60er-Jahren aus Fernost in den Westen kam, wurde diese mit großem Interesse empfangen. Durch den Einfluss von Autoren wie Daisetz Teitaro Suzuki (1870–1966) galten sie als fast unantastbare Heilige, die fernab von Esoterik oder Skandal selbstlos ihren Schülern den Weg der Befreiung zeigten. Dieses schöne Bild ist aber in den letzten zwanzig Jahren ziemlich getrübt worden, weil das Verhalten vieler Zen-Lehrer solch hohen Erwartungen doch nicht entsprochen hat. Es gab Zen-Lehrer, die Alkoholiker waren, andere begingen Ehebruch. Problematischer sind aber Fälle, in den USA wie auch hierzulande, die erst in den letzten paar Jahren bekannt geworden sind. Hierbei haben Zen-Meister nicht bloß im Einzelfall ethische Verfehlungen begangen, sondern jahrelang und immer wieder. Das bekannteste Beispiel ist der Ex-Abt der Zen Studies Society in New York, Eido Shimano, der mehr als 40 Jahre lang Dutzende Schülerinnen sexuell ausgenutzt haben soll. Erst kürzlich ist der Fall des inzwischen 105-jährigen Joshu Sasaki an die  ffentlichkeit gelangt. Hier ist die Rede sogar von weit über hundert Schülerinnen, die Sasaki in seiner langjährigen Karriere im kalifornischen Mount Baldy Zen Center sexuell belästigt haben soll. In beiden Fällen haben Tempel-Verantwortliche und andere Schüler offenbar von dem Verhalten gewusst, ohne Gegenmaßnahmen zu ergreifen bzw. die Gruppe zu verlassen.

Wie konnte es in dieser anfänglich so „unantastbar“ scheinenden Praxis dazu kommen? Die Antwort liegt meines Erachtens leider nicht (nur) bei den persönlichen Verfehlungen der einzelnen Lehrer, sondern ist auch in den durchweg anerkannten Eigenschaften des Zen-Buddhismus selbst zu finden.

Unser östliches Zen-Erbe ist durch sehr autoritäre Strukturen geprägt. Die Macht der Hierarchie in einer Zen-Gemeinschaft gilt traditionell als absolut, und ein offener Austausch zwischen den Schülern, etwa über das Geschehen im Dokusan-Raum1, ist verboten. Zwar kann dies für die Konzentration auf die eigene Übung durchaus förderlich sein. Wenn der Lehrer sich aber in problematischer Weise verhält, werden solche Regeln die Probleme in einer Gemeinschaft rasch vergrößern.Ein ehemaliger Schüler eines deutschen Zen-Lehrers hat zum Beispiel berichtet, wie in seiner Gruppe „die vielen tatsächlichen oder vermeintlichen Geheimnisse eines der prägendsten Sekten-Merkmale waren, ausgenutzt von unserem Lehrer als Mittel zu Teilung und Herrschaft“. Frauen sind natürlich in besonderem Maße gefährdet. Bei einem Opfer von Eido Shimano soll es zum Beispiel während 80 Prozent aller ihrer Dokusan-Treffen zu sexuellen Aktivitäten gekommen sein; Shimano habe ihren anfänglichen Widerstand gebrochen, so berichtete sie, und, als sie ihrem Verlobten später darüber berichten wollte, habe er ihr befohlen zu lügen. Schülerinnen Joshu Sasakis sollen im Dokusan-Raum regelmäßig aufgefordert worden sein, als Antwort auf ein bestimmtes Koan ihre Brüste zu entblößen; andere sollen auch mit weitergehenden Aufforderungen, zum Beispiel zu Genitalberührung oder Geschlechtsverkehr, konfrontiert worden sein.

Wenn es erst einmal zu Übergriffen dieser Art durch einen Zen-Meister gekommen ist, hilft ihm nicht zuletzt die Institution der Dharma-Übertragung, sich vor möglichen Folgen zu schützen. Im Zen fungiert die Dharma-Übertragung als eine Art „amtlicher Bestätigung“ der Erleuchtung eines Lehrers. Selbst wenn keineswegs klar ist, was dies im tatsächlichen Leben bedeutet, kann eine solche Beurkundung doch meist viele Zweifel am Verhalten des Betreffenden beseitigen. Eine neue Schülerin wird zum Beispiel sehr wohl die Achtung wahrnehmen, die ihrem Lehrer nicht zuletzt dank der Dharma-Übertragung von allen Seiten entgegengebracht wird. Folglich wird sie geneigt sein, zu glauben, dass es lediglich an ihren eigenen „unerleuchteten“ Erwartungen liegt, wenn sie sein Verhalten missbilligt oder es ihr unerklärlich scheint. Zugleich hat der Lehrer durch die Dharma-Übertragung ein Monopol auf die Ernennung eigener Dharma-Nachfolger. Deshalb sind Schüler, die später selbst lehren wollen, stark versucht, ihm trotz eventuellen Fehlverhaltens treu zu bleiben. Auch seine „Kollegen“ bleiben ihm meistens treu: Sowohl Eido Shimano als auch Joshu Sasaki haben Jahrzehnte lang weitermachen können, bevor sich die Zen-Gemeinschaft endlich klar gegen ihr Verhalten ausgesprochen hat. Die Dharma-Übertragung als solche ist und bleibt aber selbst dann unwiderruflich.  

Auch die Zen-Lehre selbst kann Missbrauch begünstigen. Beispielsweise wird im Zen im Allgemeinen wenig Wert auf moralisches oder ethisches Verhalten gelegt. Wie Brian Daisen Victoria in Büchern wie Zen, Nationalismus und Krieg und Zen War Stories überzeugend belegt hat, haben Zen-Meister sogar Kriegshandlungen als mit Zen vereinbar legitimiert. Shimano oder Sasaki haben es offenbar auch verstanden, ihre Übergriffe als Zen-Praxis zu begründen. Zen betont sehr Selbstlosigkeit, d. h. einen Zustand, in dem unsere wahre „ichlose“ Natur hervortritt. Die Idealisierung eines solchen Zustandes durch den Lehrer kann aber dazu führen, dass die Schüler ständig mit sich selbst unzufrieden sind, egal wie lang oder konsequent sie üben, denn immer wird es zumindest Reste „ich-geprägten“ Verhaltens geben, denn wir sind und bleiben nun einmal Menschen. Das bleibt auch jeder Lehrer, aber seine Beherrschung der vielen Rituale und sein traditionelles Schweigen bieten Schülern viel Raum, ihre ganzen Vorstellungen von Selbstlosigkeit auf ihn zu projizieren. Je nach Persönlichkeit können sich dann seitens der Schüler emotionale Abhängigkeiten entwickeln. Man mag zwar einwenden, dass „richtiges“ Zen Idealisierungen bzw. Vorstellungen solcher Art nicht zulässt. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass dies dennoch geschieht und der  Übungsweg in ein „Zuckerbrot-und-Peitsche-Spiel“ verwandelt werden kann, in dem auch die absurdesten Szenarien noch als Zen zu gelten haben. Bei Eido Shimano hieß es z. B., dass es auf der sogenannten absoluten Ebene per se weder individuelle Täter noch Opfer und schließlich auch keinen Missbrauch geben könne. Und Joshu Sasaki soll in seinen Vorträgen angedeutet haben, dass Widerstand gegen seine Übergriffe Widerstand gegen die kosmische Aktivität selbst bedeute; Kritikern bescheinigte er, „an der Wahrheit anzuhaften“. Dass die Schüler für solche Logik zugänglich und damit emotional abhängig geworden sind, wird durch die Tatsache belegt, dass diese Lehrer ihr Verhalten unter den Augen vieler Menschen jahrzehntelang fortsetzen konnten.

Schließlich wird die Wirkung solcher Zen-spezifischen Elemente noch durch Faktoren wie Eifersucht oder Mobbing verschärft, die allgemein aus Gruppenzusammenhängen bekannt sind. Zum Beispiel wird grundsätzlich jedes „Opfer“ erst einmal als „Nestbeschmutzerin“ abgetan, weil der betreffende Lehrer meistens ja auch viel Gutes geleistet hat und dies in die andere Waagschale geworfen wird. Können die Taten des Lehrers nicht ganz geleugnet werden, gelten die „Opfer“ als Kollateralschäden, eine zu vernachlässigende Größe gegenüber dem Versprechen der Erleuchtung, das mit dem Kontakt zum Lehrer verbunden ist. Der Fortbestand oder die „Harmonie“ in der Gruppe wird höher gewertet als das Wohlbefinden des einzelnen Mitglieds. Manche Schülerinnen am Mount Baldy Zen Center sind zum Beispiel auch von Frauen ausgegrenzt worden, weil sie Sasakis ständiges Grapschen nicht so leicht in Kauf genommen haben wie die anderen.

Nach alledem bin ich der Meinung, dass eigentlich in jeder Zen-Gemeinschaft zumindest die latente Gefahr von Missbrauch besteht. Selbst wenn die allermeisten Lehrer ehrlich und aufrichtig sind, sollten wir uns davon nicht den Blick trüben lassen, denn meines Erachtens sind wir gerade im Zen gehalten, die Dinge so anzuschauen, wie sie sind. Und dazu gehört auch das Erkennen, dass nicht alles, was zur gewohnten Zen-Praxis zählt, immer zielführend und gesund ist. Folglich werden wir uns früher oder später von solchen Bestandteilen, wie z. B. der oben erwähnten Geheimniskrämerei, trennen müssen. Nur so wird Zen im Westen weiter wachsen und gedeihen können – und dies liegt im Interesse von uns allen.

Anmerkung:

  1. Raum für die formelle Begegnung zwischen Lehrerenden und Lernenden im Rahmen der Zen-Schulung.