Frage an einen buddhistischen Mönch: „Wohin mit meiner Wut?“

Ein Beitrag von Bhikshu Tenzin Peljor veröffentlicht in der Ausgabe 2018/2 Freiheit unter der Rubrik Buddhismus Heute.

„In letzter Zeit stelle ich fest, dass ich schnell wütend werde. Wie kann ich lernen, angemessen und gut mit meiner Wut umzugehen?“ Der deutsche Mönch in tibetischer Tradition Bhikshu Tenzin Peljor leitet seit mehr als zehn Jahren Meditationskurse und unterrichtet in vielen Städten Deutschlands, unter anderem im Tibethaus Deutschland. In diesem Beitrag antwortet er auf die Frage nach der Wut.

Wutgesicht | © shutterstock

Tenzin Peljor: Mir erscheint wichtig, die Wut erst einmal als eine normale, menschliche Reaktionsweise anzunehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, „Wut über Wut“ zu entwickeln, also wütend (oder unglücklich) zu werden, weil man wütend geworden ist. Gerät man über die eigene Wut in Wut, fügt man der Wut eine weitere schmerzhafte Reaktion hinzu und erfährt damit noch mehr geistiges Unglück. 

Entsteht eine konflikterzeugende Emotion wie Wut, übernimmt sie schnell die Kontrolle. Sie wird die Chefin; wir werden zu Sklaven dieser Emotion und folgen ihr zwanghaft. So sind wir unfrei. Wenn die Wut die Kontrolle übernommen hat, ist das, als wäre man in einen reißenden Fluss gefallen und würde von der Strömung davongetragen. Die Wut trägt uns fort, versperrt den klaren Blick, führt zu Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit und verleitet uns zu allerlei unweisen Handlungen. Wenn man in einen reißenden Fluss gefallen ist, muss man als Erstes versuchen, wieder aus ihm herauszukommen. 

Aus dem reißenden Fluss einer konflikterzeugenden Emotion wie Wut zu gelangen erreicht man durch die Praxis der Selbstbeobachtung (Sanskrit: samprajanya): Nimm die Emotion, die Wut, bewusst wahr, sieh hin! Das bewusste Wahrnehmen und die nachfolgende friedliche Annahme der Wut stehen meines Erachtens ganz am Anfang. Dazu muss man innerlich einen Schritt zurücktreten und offen und interessiert beobachten, was gerade passiert.Ähnlich einem Spion, der einen Vorgang interessiert und doch leidenschaftslos beobachtet, oder einer Wissenschaftlerin, die ein Objekt neugierig, aber relativ leidenschaftslos unter dem Mikroskop betrachtet, so beobachten wir die Wut: „So ist es!„, „Ja, ich bin wütend!„, „Uhh, ich könnte gerade vor Wut platzen!„, „Hammer!“ 

Wie eine Welle aus dem Wasser aufsteigt, einen Höhepunkt hat und wieder zurückfällt, so taucht die Wut, ihrer Natur nach immateriell, formlos, farblos, geruchlos, aus dem Bewusstsein auf, steigert sich, geht durch den Körper, macht etwas mit dem Körper – das wir beobachten können –, hat einen Höhepunkt und fällt dann wieder in sich zusammen. 

Der Mönch Tenzin Peljor

Wissenschaftler sagen, eine Emotion dauere maximal 90 Sekunden. Dauert sie länger, dann liegt das daran, dass wir sie durch eine Abfolge von Gedanken oder Vorstellungen weiter nähren. Bleiben wir aber in der wachsamen Selbstbeobachtung, kommt die Wut einfach, hat ihren Höhepunkt und vergeht wieder. Sie macht etwas mit uns, reißt uns aber nicht mehr mit, beherrscht uns nicht mehr. Im Prozess reiner Beobachtung begegnen wir der Wut kühler und distanzierter, sind nicht mehr so verstrickt, gleichzeitig aber völlig wach und präsent im Erleben sowie mit uns und anderen verbunden. 

Beobachtet man die Wut, nimmt man sie bewusst wahr, ist das, als stünde man am Ufer des Flusses und sähe: „Es ist ein reißender Fluss!“ Aber man ist nicht mehr im reißenden Fluss. In dem Moment ist man frei. Die Wut hat keine Macht mehr über einen. In dem Moment kann man von ihr lernen: Was macht sie mit mir? Warum bin ich wütend? Welches Bedürfnis steht hinter der Wut? In dem Moment wird die Wut selbst unsere Lehrerin. 

Es gibt bestimmte Zeiten, innere oder äußere Entwicklungen, die zu erhöhter Reizbarkeit und Wut beitragen können – dazu gehören auch Unzufriedenheit mit sich selbst oder der Lebenssituation, Krankheit, das Altern und vieles mehr. Ist das der Fall, kann man Wut als Hinweis nutzen, um nach innen zu schauen: Was steckt hinter der Wut? Welche Bedürfnisse oder Sehnsüchte habe ich, die nicht erfüllt sind? Gibt es Wege sie zu erfüllen? Wenn ja, dann brauche ich nicht wütend zu werden, sondern gebe meine Energie in die Lösung. Wenn nein, hilft mir die Wut auch nicht weiter, dann ist es besser, aus dieser Einsicht heraus unrealistische Sehnsüchte oder Bedürfnisse loszulassen, weil ich mir andernfalls nur weitere Schmerzen zufüge. 

Hilfreich ist also zuerst eine friedliche Annahme der Wut und dass ich ihr offen begegne: „Hallo Wut! Willkommen!“ Die friedliche Akzeptanz, das Nichtunglücklichwerden, wenn Wut in uns ist, halte ich für den ersten wichtigen und auch ziemlich schweren Schritt. Diese friedliche, offene Akzeptanz, dieses Reagieren auf die Wut, ohne dass der Geistesfrieden gestört wird, ist letztlich die Praxis der Geduld (Sanskrit: kshanti), die auch das Gegenmittel zur Wut ist. 

Bhikshu Tenzin Peljor

Bhikshu Tenzin Peljor studiert und praktiziert den Buddhismus seit 1995 und wurde von S. H. dem Dalai Lama 2006 zum Mönch ordiniert. Von 2008 bis 2013 Studium am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien. Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland in Berlin berufen. Er ist Vorstandsmitglied in der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft (DBO).

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