Eine Geschichte, die wir selbst schreiben

Ein Beitrag von Tatsudo Nicole Baden Roshi veröffentlicht in der Ausgabe 2022/3 Heimat unter der Rubrik Aktuell. (Leseprobe)

Die Zen-Lehrerin Tatsudo Nicole Baden wird in diesen Tagen in Zen-Praxisgesprächen oft nach einer Haltung angesichts des Krieges in der Ukraine gefragt. Für viele Menschen gibt es derzeit kaum noch ein anderes Thema. Sie ringen um eine Haltung und spüren: Diese Situation braucht keine weiteren Meinungen, keine Rechthabereien und auch keine weisen Worte. Was kann ein einzelner Mensch nun tun?

Der Krieg in der Ukraine ist weit mehr als eine Geschichte in der Zeitung. Er ist unsere Geschichte. Er ist unsere Welt. Und er ist unser Leben. Und so suche auch ich nicht nach der „richtigen Meinung“, sondern nach einer hilfreichen Haltung. Ich suche etwas, womit ich den Ereignissen, den Bedrohungen und diesem Leiden begegnen kann. Etwas, womit ich „sein“ und woraus ich handeln kann. Deutlich spüre ich, dass ich zu einer Veränderung beitragen möchte. Es ist nicht so, dass ich etwas sagen oder tun will, sondern vielmehr so, dass etwas gesagt und getan werden muss. Nicht, dass ich wüsste, was genau es sein könnte und sollte. Aber ich weiß, dass es nicht nichts sein kann.

Eine Freundin von mir erzählte mir kürzlich, wie existenziell sie sich von diesem Krieg betroffen fühlt und fügte dann hinzu: „Aber es ist nicht nur der Krieg. So viel kommt zusammen. Letztens war ich auf einer Demonstration gegen den Krieg, aber lieber wäre ich auf einer Demonstration gegen jeden Krieg gewesen. Und gegen Umweltverschmutzung. Und gegen das Artensterben. Ich möchte auf eine Demonstration gehen, die sich gegen alles menschenverursachte Leiden ausspricht!“ 

Mir geht es genauso. Auch für mich geht es in einer fast verwirrenden Gleichzeitigkeit um die ganz konkrete Situation dieses Krieges, aber auch um die noch größere Situation all des Leidens, das wir Menschen uns selbst, anderen Wesen und dem ganzen Planeten aus Gier, Hass und Verblendungen zufügen.

Von bloßem Wissen zu wirkmächtigem Wissen

Es gibt kritische Ereignisse, die das Bewusstsein und das Denken einer Kultur oder einer Gesellschaft verändern. Nur im Nachhinein betrachtet scheint sich ein solches Ereignis oft schon lange angekündigt zu haben. Dennoch ist es oft rein zufällig und ohne neue Informationen zu liefern, bedeutsam geworden. Aber: Wir hören plötzlich zu. Plötzlich nehmen wir die Situation ernst. Dieser Unterschied ließe sich als die Verwandlung von „bloßem Wissen“ in „wirkmächtiges Wissen“ bezeichnen – und natürlich zielt die buddhistische Praxis als „Transformationsmedium“, indem sie Einsichtskontemplation und Stille zusammenführt, auf genau diesen Punkt.

Vielleicht können wir uns daran erinnern, wie sehr das Foto des ertrunkenen kleinen Alan Kurdi im September 2015 die Stimmung in Deutschland veränderte. Viele von uns öffneten in diesem Moment ihr Herz mit dem Gefühl, dass wir einfach handeln müssen. Wir dachten: „Wir schaffen das, wenn wir es schaffen wollen.“ Mit einer ähnlichen Dynamik löste das Foto des am Boden liegenden, erschossenen Benno Ohnesorg im Juni 1967 wochenlange Massendemonstrationen mit politischen Folgen aus (obgleich einige, inzwischen bekannte Vergehen der Polizei bis heute nicht aufgearbeitet sind).

Die Welt kann nicht mehr dieselbe sein

Während des Beschusses des Atomkraftwerks Saporischschja am 4. März 2022 saß ich mit meinem Computer auf dem Schoß in meinem Bett. Ich wollte nach der Abendmeditation im Crestone Mountain Zen Center, Colorado, wo ich zurzeit praktiziere, noch einen Blick auf die Nachrichten werfen. Sequenzen von Eilmeldungen konfrontierten mich aus der Ferne mit den dramatischen Ereignissen. Als ich den Computer schließlich ausschaltete, war noch nicht klar, wie sich die Lage weiterentwickeln würde. 

Seit einer Teilnahme an der „Track II Diplomacy Conference“ im Oktober letzten Jahres im Esalen-Institut in Kalifornien bin ich überaus sensibilisiert für die Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe. Auf dieser Konferenz sprachen Mitarbeiter:innen der Biden-Administration, russische Diplomat:innen und Journalist:innen, die auf das Thema der nuklearen Gefahr spezialisiert sind. Künstler:innen, die ihre Mission darin sehen, unser aller Gewahrsein für die Realität nuklearer Bedrohung zu schärfen, zeigten ihre Werke. Wir sahen viele Fotografien aus Hiroshima, hörten Interviews mit Überlebenden, betrachteten Simulationen atomarer Verwüstung inmitten uns bekannter Stadtgebiete. Es gab Bilder von „bleibenden Schatten“: Schatten, die einmal Menschen waren, sowohl verewigt wie auch ausgelöscht, in einem Moment wie diesem, an einem Ort wie diesem. 

Den Computer noch immer auf dem Schoß schloss ich die Augen. Mir wurde klar, dass, ganz gleich, was in dieser Nacht noch geschehen würde, die Welt – zumindest für mich – nie wieder dieselbe sein konnte.

Gelegenheiten für Ausdruck und Vernetzung finden

Als Buddhistin verlasse ich mich nicht darauf, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Unsere Praxis ist die lebendige, ethisch engagierte und verkörperte Partizipation am Wandel. Aber gleichzeitig hege ich natürlich eine Vertrautheit mit der Welt, wie ich sie kenne. Ein Teil dieser Vertrautheit ist jetzt zerbrochen. Spätestens an jenem Abend habe ich den Glauben an ein Minimum von gesundem Menschenverstand und ein grundlegendes Vertrauen in den Lauf der Dinge verloren. An dessen Stelle ist etwas Neues getreten: der Wunsch, etwas zu tun. Der Wunsch zu sprechen. Der Wunsch, die Dinge nicht sich selbst zu überlassen. Der Wunsch, Gelegenheiten für Ausdruck und Vernetzung zu finden. Und der Wunsch, aktiver an der Gestaltung unserer aller Zukunft mitzuwirken.

Es gibt die „Welt-wie-sie-ist“ und die „Welt-wie-sie-sein-könnte“. In diesem Text geht es um beide – und darum, die Verbindung zwischen ihnen als einen Weg zu öffnen. Es geht um die Notwendigkeit, unsere Version von einer Welt-wie-sie-sein-könnte in dieser Welt-wie-sie-ist zu leben. Im Großen wie im Kleinen. 

Wie erkennen wir, ob unsere Version einer Welt-wie-sie-sein-könnte tatsächlich besser ist als die Welt-wie-sie-ist? Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn dir das Wohl aller Wesen am Herzen liegt, das Wohl des Planeten, das Wohl von weitaus mehr als nur deiner eigenen Person, dann ist dein Beitrag wahrscheinlich besser als kein Beitrag. 

ENDE DER LESEPROBE

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Tatsudo Nicole Baden Roshi

geboren 1981, ist Dharma-Nachfolgerin von Zentatsu Baker Roshi. Sie hat Psychologie an der Universität Oldenburg studiert, lebte vier Jahre im Crestone Mountain Zen Center in Colorado, USA, und ist aktuell im Zen Buddhistischen Zentrum Schwarzwald als Direktorin für die organisatorische Leitung zuständig.

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