Editorial der Ausgabe 2023/1

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2023/1 Sprechen unter der Rubrik Editorial.

Liebe Leserinnen und Leser,

Sprache, Sprechen – das führt mitten hinein in die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein. Zwar ist die anspruchsvolle Kommunikation nicht so ausschließlich dem Homo sapiens vorbehalten, wie dieser es in seiner Überheblichkeit gegenüber anderem Leben oft gern hätte. Pflanzen tauschen sich mit ausgeklügelten chemischen Botschaften aus, und so gut wie alle Tierarten kommunizieren miteinander, teils auf komplexe Weise und mit Formen echten Sprechens, also mit Worten, Sätzen und deutlich erkennbarer Grammatik, zum Beispiel die kleine Kohlmeise in ihrem Gesang.

Bei aller Liebe zur Natur: Das Sprachniveau des Menschen erreicht auf der Erde sonst niemand. Nur wir philosophieren und rezitieren, nur wir beten und singen Lieder mit Worten, nur wir schreiben Gedichte und Essays und Bücher, halten einander Vorträge, speisen täglich Millionen von Videos ins Internet ein, deklamieren auf Theaterbühnen oder flüstern vor Filmkameras, nur wir können uns im Streit Worte von solcher Zerstörungskraft an den Kopf werfen, dass die andere Seite Jahre braucht, um davon zu heilen.

Und wir schweigen. Manchmal auch das, um zu verletzen. Manchmal feige oder faul, um Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Vielleicht aber auch vorsichtig, um auf den Moment zu warten, in dem es wieder möglich wird, heilsam und hilfreich zu sprechen. Und ganz grundsätzlich als Tugend und Übungsweg: in edlem Schweigen, das Raum für Erfahrung und Erkenntnis schafft.

Was sind die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache? Das lotet die buddhistische Nonne Ayya Phalanyani in ihrem Beitrag „Wie das Wort die Welt erschafft“ aus. Bei all ihren Potenzialen lässt die Sprache immer auch Abund Ausgrenzung entstehen, betont sie – mit gewichtigen Konsequenzen. „Durch die einfache Tatsache, dass wir den Formen Namen geben, erschaffen wir eine Welt aus Gemeintem und Nichtgemeintem, Gewolltem und Ungewolltem, Gutem und Schlechtem und letztlich Freunden und Feinden.“

Dass die Stille nicht im Gegensatz zum Sprechen steht, sondern darüber hinausgeht und alles einschließt, ist Ursula Kogetsu Richard in ihrem Essay wichtig. In die Stille könne man eigentlich nicht aktiv gehen, sondern es gelte eher, sie zuzulassen und zu empfangen. „Vielleicht“, so schreibt sie, „findet uns die Stille eher, wenn wir sie nicht suchen oder herstellen wollen oder meinen, gegen Gedanken und aufkommende Gefühle ankämpfen zu müssen. Aber wir müssen uns auch finden lassen wollen.“

Aus einer ganz anderen Perspektive nähert sich der Zen-Lehrer Christoph Hatlapa dem Thema. Nicht von ungefähr heißt sein Beitrag „Das Wunder der Verständigung“, denn er ist auch Mediator und Trainer in Gewaltfreier Kommunikation. Nicht in erster Linie die Sprache ermöglicht Verständigung, unterstreicht er, sondern man muss bereit und fähig sein, sich in die Sehnsüchte, Bedürfnisse, Nöte und Ängste des anderen Menschen einzufühlen. Und diese Fähigkeit ist eng verknüpft mit der Bereitschaft, sich selbst zuzuhören und mit den eigenen Nöten, Ängsten und Bedürfnissen vertraut zu sein.

Am Ende des Jahres ist es uns als Team von BUDDHISMUS aktuell ein Bedürfnis, diesen und den vielen anderen Autorinnen und Autoren zu danken, die in dieser Zeitschrift so klug und nachdenklich mit uns sprechen. Ihnen und natürlich unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir für 2023 alles Gute – Gesundheit, Wohlergehen, Freundschaften, Frieden, innere Stärke.

Das neue Jahr wird für die Erde und ihre Lebewesen realistischerweise nicht unkomplizierter und die Weisheit und Güte unseres Sprechens und Schweigens weiterhin dringend gebraucht werden.

Herzlich grüßen Sie das Team von
BUDDHISMUS aktuell und Ihre

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

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