Editorial der Ausgabe 2022/1

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2022/1 fürsorglich unter der Rubrik Editorial.

„fürsorglich“ ist der Schwerpunkt der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell. In ihrem Editorial reflektiert Susanne Billig darüber, in welchem Verhältnis Fürsorge, Solidarität und Respekt zur Freiheit der oder des Einzelnen stehen. Für eine Antwort verweist sie auf den Buddha, der seine Lehre von der Befreiung eng an das beständige Einüben sozialen Einfühlens und Verhaltens geknüpft hat. Dahinter steht die Erkenntnis: Mitfühlende soziale Beziehungen ermöglichen uns selbst und anderen mehr Freiheit, als wir sie je allein erwerben könnten.

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Editorial entsteht, während Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte auf den Intensivstationen an der Grenze ihrer Belastbarkeit und oft weit darüber hinaus um das Leben der ihnen Anvertrauten ringen. Lehrerinnen und Lehrer, Menschen in sozialen Berufen gefährden ihre Gesundheit, weil sie ihre beruflichen Aufgaben, die ihnen glücklicherweise oft auch Herzensanliegen sind, weiter erfüllen. Angesichts der hohen Infektionsraten mit dem Coronavirus können sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ihren persönlichen Schutz gegen Ansteckung oft kaum noch gewährleisten. Bei ihrem hohen Arbeitspensum haben viele von ihnen auch nicht die Möglichkeit, stundenlang vor Impfzentren anzustehen, um sich zeitnah eine Auffrischungsimpfung zu organisieren. Stattdessen gehen sie jeden Tag einfach weiter zur Arbeit und tun das, wofür sie sich zuständig fühlen. 

Es wird viel über Freiheit diskutiert dieser Tage und dabei leider häufig ein sehr begrenzter Freiheitsbegriff verwendet. Ist das überhaupt denkbar: Freiheit ohne Solidarität? Ohne persönlichen Verzicht? Ohne die anderen zu spüren und deren Perspektiven, Bedürfnisse und Grenzen zu respektieren? Der Buddha jedenfalls hat seine Lehre – von der er bekanntlich gesagt haben soll, dass sie „nur einen Geschmack habe, den der Freiheit“ – eng an das beständige Einüben sozialen Einfühlens und Verhaltens geknüpft. Dahinter steht die Erkenntnis: Mitfühlende soziale Beziehungen ermöglichen uns selbst und anderen mehr Freiheit, als wir sie je allein erwerben könnten. Wie das geht, zeigen viele Beiträge in dieser Ausgabe.

„Fürsorglichkeit öffnet Räume für neue Möglichkeiten“, unterstreicht die Dharmalehrerin Metta im Interview, denn sie lässt uns wachsen und reifen. Stan Goldberg erzählt von der kostbaren Chance, in der Pflege anderer persönliche Grenzen zu überschreiten – vor allem wenn man am Krankenbett plötzlich mit Wertvorstellungen konfrontiert wird, die den eigenen widersprechen. Heidi Kassai engagiert sich für die Abschaffung von Atomwaffen; sie weiß: Unser Wohlergehen ist gefährdet, wenn wir ihm nicht sorgsam einen passenden politischen Rahmen geben, zum Beispiel durch faire internationale Beziehungen. Wie bringen wir es fertig, uns der Empathie gegenüber Tieren in der Fleischindustrie zu verweigern? Das untersucht der Mönch Matthieu Ricard, und auch bei ihm scheint das Thema Freiheit sofort mit auf: Denn was ist das Leben von Abermillionen ignorierter Tiere anderes als qualvolle Gefangenschaft? Über alltagsnahe und konkrete Fürsorge schreibt Jigen Myoshin Osho: In ihr Dharmazentrum drangen vor einigen Monaten die Fluten des Hochwassers ein. Nur gemeinsam ließen sich die Räume dort und in der Nachbarschaft wieder vom Schlamm befreien. 

So machen viele Texte in dieser Ausgabe auf die eine oder andere Art deutlich: Eine ausschließlich individualistisch gedachte Freiheit fußt auf der Illusion, es sei ­­­dauerhaft möglich, ohne die Unterstützung anderer durchs Leben zu kommen. Doch niemand ist immer stark, gesund, fähig, mit materiellem Auskommen gesegnet. Und nicht einmal der Stärkste kann auch nur einen Tag leben, ohne von anderem Leben versorgt zu werden. Die Corona-Krise wirft ein helles Licht auf diese Zusammenhänge, sowohl im Mikrokosmos unserer persönlichen Beziehungen wie auch im globalen Maßstab: Es bringt uns weder persönlich weiter, noch ist es überhaupt möglich, ohne Fürsorge zu leben. Ja, wir sind sogar aufgefordert, eine Fürsorge zu kultivieren, die nichts und niemanden mehr ausschließt – nicht die Armen weltweit und hier in unseren Orten, nicht die Kleinsten oder die Ältesten, nicht den Fisch im Wasser und nicht das Insekt auf dem Feld. 

Was für eine Aufgabe! Es ist die unmöglich zu erfüllende und dennoch unverzichtbare Aufgabe der Bodhisattvas: unter den Bedingungen dieser Welt, so wie sie ist, immer wieder und ohne Grenzziehungen von vorn anzufangen.

In diesem Sinne wünschen wir vom BUDDHISMUS-aktuell-Team Ihnen ein gutes neues Jahr 2022!

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

Alle Beiträge Susanne Billig