Editorial der Ausgabe 2020/4

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/4 Mitgefühl unter der Rubrik Editorial.

Mitgefühl ist der Schwerpunkt der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell. In ihrem Editorial stellt Susanne Billig das Heft in die große Tradition des Dalai Lama. Er feierte kürzlich seinen 85. Geburtstag und im Mittelpunkt seines Lebenswerkes als „Lehrer der Menschheit“ steht die lebendige Anteilnahme an anderen.

Auf der Suche nach menschlicher Freundlichkeit, © Foto: Matt Collamer auf unsplash.com

Liebe Leserinnen und Leser,

am 6. Juli 2020 wurde Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama 85 Jahre alt. Nicht nur möchten wir ihm an dieser Stelle noch einmal herzlich gratulieren und ihm viele weitere gesunde, glückliche und segensreiche Lebensjahre wünschen – vor allem auch wünschen, dass sich wider allen tagespolitischen Anschein Wege finden lassen, die bedrängte politische Lage der Menschen in Tibet zu öffnen und ihr Leben in friedlichere und demokratischere Bahnen zu lenken. Wir möchten uns auch verbeugen vor dem beeindruckenden Lebenswerk des Dalai Lama, in dessen Mitte wie ein funkelndes Juwel das Mitgefühl steht, das er in ganz besonderer Weise verkörpert. Sein Lächeln, sein Humor, seine Klugheit, seine weit gefächerten Interessen, die sehr selbstverständlich auch westliche Philosophie und Wis- senschaften umfassen, seine Warmherzigkeit und Nahbarkeit sind legendär. Sie haben ihn zu einem echten Lehrer der Menschheit gemacht, dem es mit bewundernswerter Leichtigkeit gelingt, die Grenzen der verfassten Weltanschauungen zu überschreiten und Worte zu finden, die unterschiedlichste Menschen erreichen. 

Stellen wir uns also in seine große Tradition, wenn wir das Mitgefühl zum Schwerpunktthema in dieser Ausgabe machen. Vor langer Zeit, von 1297 bis 1371, lebte in Tibet Tokmé Zongpo. Seine berühmten Verse „Die 37 Übungen eines Bodhisattva“ wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gelesen, übersetzt, kommentiert. Nun hat der langjährige Dharmalehrer Ken McLeod sie erneut interpretiert. Er ist bekannt dafür, subtile Tiefenschichten tibetischer Schriften freizulegen und in eine leicht verständliche, aber nicht minder subtile Gegenwartssprache zu übertragen – wir publizieren eine Kostprobe. Vom leb- haften Interesse des Dalai Lama für westliches Denken war bereits die Rede. 1990 gründete er das Mind and Life Institute zur Begegnung von Buddhismus und westlicher Wissenschaft. Dessen Präsident Thupten Jinpa hat ein bahnbrechendes Mitgefühlstraining entwickelt und betont in seinem Beitrag: „Ein mitfühlender Mensch muss sich zeigen – und das erfordert Mut.“ Mut erfordert es auch, sich eigenen Schatten und ungeliebten Anteilen zu stellen. Bei vielen Menschen gehört dazu ein eklatanter Mangel an Selbstmitgefühl. Doch die Fürsorge für sich selbst und andere gehören untrennbar zusammen – und beide lassen sich üben, erläutern die Lehrerinnen für Selbstmitgefühl, Isolde Schwarz und Nadja Ledenig, im Gespräch. Zwischen Selbstbegegnung und Fürsorge für andere changiert auch eine Erfahrung von Julia Schleif: Statt ihre jährliche Rückzugszeit in einem Meditationszentrum zu verbringen, engagierte sie sich ehrenamtlich auf einem Sea-Watch-Schiff. Dort war sie unter anderem dafür zuständig, hunderte von Rettungswesten für den nächsten Einsatz für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu reinigen – was sie dabei lernte, erzählt auch sie im Gespräch. 

Gerne möchten wir an dieser Stelle auch auf einige der Texte außerhalb des Schwerpunkts aufmerksam machen: Den bilderreichen Auftakt des Heftes bildet ein Beitrag des China-Experten Hans-Wilm Schütte, der über den blühenden Buddhismus in der heutigen Volksrepublik berichtet – zwischen Parteiräson, Sinnsuche und Kommerzialisierung. In unserer Serie „Achtsamkeit in Buddhas Lehre“ untersucht Franz-Johannes Litsch dieses Mal die Frage „Wie achtsam ist die westliche Achtsamkeit?“. Darin arbeitet er heraus: Vieles, was heute Achtsamkeit genannt wird, ist längst Bestandteil der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, die inzwischen die gesamte Kommunikationstechnologie dominiert. Menschliche Aufmerksamkeit nimmt hier die Stelle des Geldes ein. „Aufmerksamkeit ist sogar wichtiger als Geld, weil damit alles beherrscht und gesteuert werden kann“, so die schonungslose Analyse des Autors. 

Buchvorstellungen und Magazin runden wie immer auch diese Ausgabe ab. 

Mit all dem wünschen wir vom Redaktionsteam Ihnen viel Freude beim Lesen und hoffentlich auch die eine oder andere gute Anregung auch für Ihre persönliche Praxis. 

Susanne Billig,
Chefredakteurin

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

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