Editorial der Ausgabe 2019/1

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2019/1 Wachsen unter der Rubrik Editorial.

Was können wir tun, um als Menschen zu wachsen? Das ist das Schwerpunktthema der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell. In ihrem Editorial unterstreicht Chefredakteurin Ursula Richard, dass es innerhalb des zeitgenössischen Buddhismus unterschiedliche Positionen darüber gibt, ob Reifungsprozesse, wie sie in der Psychologie beschrieben werden, auch im Rahmen des buddhistischen Befreiungsweges eine wichtige Rolle zukommt – und wenn ja, wie diese Rolle aussieht. Entwicklungs- und Wachstumsprozesse betreffen aber nicht nur Einzelne, sondern auch Institutionen und Organisationen – auch das ein Thema des Editorials.

Liebe Leserinnen und Leser,

„Still sitzen / Nichts tun / Der Frühling kommt / Das Gras wächst.“ Die Wahrheit dieses Zen-Spruchs scheint unmittelbar vor unseren Augen zu liegen, wenn wir in die Natur schauen. Verändert man ihn, der gegenwärtige Jahreszeit entsprechend, in: „Still sitzen / Nichts tun / Der Winter kommt / Der Schnee fällt“, ist sie schon gar nicht mehr so klar. Zumindest für die Gegend, in der ich lebe, ist Schnee schon längst kein untrügliches Zeichen mehr für den Winter – es fällt einfach keiner mehr. Doch zielt dieser Spruch natürlich nicht so sehr auf äußere Evidenz als auf eine innere Haltung des Geschehenlassens und ein Tun aus einem Nichttun heraus. Und seine Beliebtheit verdankt er sicher der Tatsache, dass er sich so wohltuend vom hamsterrädischen Tunmodus abhebt, in dem sich viele von uns in ihrem Alltag erleben, und doch Veränderung, ein Wachsen verspricht.

In der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell geht es schwerpunktmäßig um solche inneren Wachstumsprozesse und unter anderem auch um die Frage, ob wir etwas und wenn ja, was, neben stillem Sitzen, tun sollten oder können, um zu wachsen und uns zu entwickeln. Wobei es innerhalb des zeitgenössischen Buddhismus unterschiedliche Positionen darüber gibt, welche Bedeutung psychisch-personalen Reifungsprozessen im Rahmen des buddhistischen Befreiungsweges zukommt. Auch davon wird im vorliegenden Heft die Rede sein. In persönlichen und analytischen Betrachtungen werden das Verhältnis und Zusammenspiel von Buddhismus und Psychotherapie als Wege der Heilung ausgelotet sowie die Rolle der Meditation und das Potenzial vertiefender Meditationspraktiken beleuchtet. Darüberhinaus geht es um die Frage, warum gerade jetzt so viele Gurus und Meister „fallen“, ob damit das Ende des spirituellen Heldenzeitalters eingeläutet ist und welche Folgen dies für die spirituellen Traditionen wie für Übende haben kann.

Entwicklungs- und Wachstumsprozesse betreffen selbstverständlich nicht nur Individuen, sondern auch Institutionen und Organisationen. Innerhalb der letzten Monate sind in der Deutschen Buddhistischen Union Veränderungen angestoßen worden, die kaum jemand in dieser Schnelligkeit und diesem Umfang für möglich gehalten hätte. Seit Kurzem gibt es hier zwei Ansprechpartnerinnen für Menschen, die in buddhistischen Gruppierungen Übergriffe und sexualisierte Gewalt erfahren haben. Eine Ethik-AG befasst sich mit der Frage, ob es verbindliche ethische Richtlinien für die Dachorganisation und ihre Mitgliedsgemeinschaften geben kann und wie diese aussehen könnten. Jüngst haben sich Rat und Vorstand der DBU klar gegen Rassismus und Islamfeindlichkeit auch in den eigenen Reihen positioniert.

Die Bedingungen scheinen auf einmal reif dafür zu sein, seit Jahren Schwelendes nicht mehr unter den Teppich zu kehren, sondern offenzulegen. Daraus erwachsen neue Chancen und Möglichkeiten, auch die, über lang Verdrängtes miteinander ins Gespräch zu kommen und praktisch zu erproben, welche Pluralität und Diversität ein Dachverband „aushalten“ kann und wo die Grenzen sein mögen.

Ich glaube, auch diese Zeitschrift hat in den letzten Jahren ihren Beitrag dazu geleistet, diese Entwicklung zu ermöglichen. Das erfüllt mich mit Freude, wenn ich nun die Position der Chefredakteurin abgebe. Ich habe nicht mehr das Gefühl, ein möglicherweise sinkendes Schiff zu verlassen. Das war vor einigen Monaten, als mein Wunsch, diese Arbeit zu beenden, immer deutlicher Gestalt annahm, noch anders. Mit meiner Nachfolgerin Susanne Billig, mit Traudel Reiß, Bettina Hilpert, Carl Polónyi und Werner Steiner weiß ich zudem BUDDHISMUS aktuell in guten Händen. Ich wünsche dem Team für die künftige Arbeit alles Gute.

Ich selbst bin sehr neugierig darauf, wie sich mein weiteres Wachsen entfalten wird. Künftig möchte ich mich verstärkt den Dingen widmen, für die ich in den vergangenen sechs Jahren zu wenig Zeit fand, und dazu gehört ganz sicher: Still sitzen/Nichts tun/Der Frühling kommt/Das Gras wächst.

Ihnen liebe Leserin, liebe Leser danke ich für Ihre Treue, für Ihre positiven wie kritischen Rückmeldungen und wünsche Ihnen ein erfülltes, segensreiches 2019.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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