Editorial der Ausgabe 2018/4

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2018/4 Wohin? unter der Rubrik Editorial.

„Wohin entwickelt sich der Buddhismus?“ Mit dieser Frage befasst sich die neue Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell – und das Editorial von Ursula Richard. Darin betont sie, dass das westliche Bild des Buddhismus von Beginn an sehr romantische Züge trug und geprägt war von Projektionen und Erlösungssehnsüchten. Doch erst ein geklärter Blick ermöglicht ein kreatives Nachdenken darüber, wie ein zeitgemäßer Buddhismus hier im Westen aussehen könnte.

Liebe Leserinnen und Leser,

„Wohin entwickelt sich der Buddhismus?“ ist eine Frage, die gegenwärtig wohl mehr Menschen bewegt als in den vorangegangenen Jahren. Seit sich ab den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr Westler für den Buddhismus zu interessieren begannen, etablierte sich bei uns recht bald das Bild einer durchweg friedvollen, gewaltlosen Religion, deren zentrale Werte Mitgefühl und Weisheit sind und deren Ziel Erwachen oder Nirvana ist. Anders als die abrahamitischen Religionen setzt sie, diesem Bild zufolge, keinen Glauben an ein höheres Wesen voraus, propagiert keine Dogmen, sondern betont die eigene Erkenntnis und das eigene Urteilsvermögen. Nicht zuletzt verfügt sie in Form von Meditationspraktiken über eine 2 500-jährige Erfahrung in der Schulung des Geistes, also über Mittel und Wege, den westlichen Geist glücklich und stabiler zu machen und jene Sinnkrisen aufzulösen, die aus dem Leben in einer Gesellschaft erwachsen, in der sich traditionelle Werte und Bindungen zunehmend auflösen und nun der Einzelne als seines Glückes Schmied allein dafür verantwortlich ist, etwas aus seinem Leben zu machen. Diese Mittel und Wege werden von weisen Meistern (meist Männern) vermittelt, die nach langer Schulung aus Asien zu uns in den Westen kamen und die tiefgründigen Lehren mitbrachten.

Dieses Bild vom Buddhismus trug von Beginn an sehr romantische Züge und sagte vielfach mehr über uns und unsere Projektionen und Erlösungsfantasien aus als über den „realen Buddhismus“ – oder die realen Buddhismen, denn die Traditionen unterscheiden sich ja beträchtlich. Übersehen wurde beispielsweise, dass die weisen Männer aus dem Osten auch die Strukturen und Hierarchien mitbrachten, die sie in ihren Herkunftsländern erlernt und praktiziert hatten. Wir haben eine „schlechte Praxis“, wie viele das Christentum erlebt haben, mit einer „guten Theorie“, unserem romantischen Bild vom Buddhismus, verglichen. Wie ein solcher Vergleich ausfällt, ist nicht schwer zu erraten.

Doch es liegt in der Natur der Sache, dass solche idealisierten Bilder mit der Zeit Risse bekommen und dahinter ein anderes Bild sichtbar wird. In den letzten Jahren haben sich mehr und mehr solcher Risse gezeigt: die gewaltsame Vertreibung der muslimischen Rohingya in Myanmar unter dem Beifall nationalistisch gesinnter buddhistischer Mönche, Übergriffe und Gewalt gegen religiöse Minderheiten in buddhistischen Ländern wie Sri Lanka und Thailand, das Bekanntwerden von jahrelangem Missbrauch (Sex, Macht, Geld) in großen, einflussreichen buddhistischen Gemeinschaften im Westen (USA, Europa) und eine doch beträchtliche Zurückhaltung und Zögerlichkeit in der Aufarbeitung dieser Skandale sowie islamophobe, rechtspopulistische Äußerungen buddhistischer Lehrer auch hierzulande. Diese Vorfälle zeigen den Buddhismus und buddhistische Akteure in einem deutlich anderen Licht, und so kommt ein neues Bild zum Vorschein: Der Buddhismus ist genauso verkommen und korrupt wie die anderen Religionen.

Aber auch dieses Bild ist nur die halbe „Wahrheit“. Wenn wir unsere romantischen Projektionen zurücknehmen, können wir klarer sehen, was die buddhistischen Traditionen uns an befreienden Perspektiven, sowohl individuell als auch gesellschaftlich, tatsächlich anbieten. Wir vermögen dann aber auch zu erkennen, welches „Gepäck“ sie in Form von feudalen Strukturen, Hierarchien und Dogmen mitgebracht haben. Und wir können sehen, wie wir durch unser Bedürfnis nach Hingabe, Dazugehören, Gemeinschaft und durch unsere eigenen Erlösungsfantasien zu unheilsamen Verstrickungen und der Aufrechterhaltung destruktiver Strukturen beitragen. Erst ein solch geklärter Blick ermöglicht ein kreatives Nachdenken darüber, wie ein zeitgemäßer Buddhismus hier im Westen aussehen könnte, sowohl in seinen Inhalten, den Formen und Strukturen ihrer Vermittlung als auch in den Organisationsformen und Institutionen. Inspirationen dazu möchten wir Ihnen mit der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell geben. Alles ist im Wandel – wohin? Letztlich können wir es nicht wissen. „Ein Leben lang treiben wir in einem Boot … jeder Tag ist eine Reise, und die Reise selbst ist unser Zuhause“, schreibt der Haiku-Dichter Matutso Basho (16441694).

Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne eine gute Reise.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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