Editorial der Ausgabe 2018/3

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2018/3 Lebendig unter der Rubrik Editorial.

Die neue Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell befasst sich mit den unterschiedlichen Facetten des Lebendigseins, der Einheit des Lebensprozesses, aber auch dem Leiden der Getrenntheit. „Unser Leben ist nichts als Leben“, schreibt Chefredakteurin Ursula Richard in ihrem Editorial. „Es ist weder meins noch deins, es manifestiert sich in uns und allem, was ist, gleichermaßen.“ Dennoch leben wir häufig nicht in dieser Welt der Einheit, sind uns dieser nicht bewusst, begreifen uns als getrennte Wesen – und damit fangen unsere Probleme an.

Liebe Leserinnen und Leser,

in diesen Wochen der Vorbereitung an der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell sind Lebendigsein und Lebendigkeit so überaus augenfällig. Sie zeigen sich in der atemberaubenden Kraft, mit der es in der Natur grünt und blüht, Neues austreibt und wächst, die Sonne höher am Himmel steht und mehr wärmt, die Tage länger werden, die Vögel schon in der frühen Morgendämmerung zu zwitschern beginnen, sich alles mehr nach draußen verlagert und auch wir Menschen oft mehr Energie und Lebensfreude verspüren. Eine Zeit des schnellen Werdens, oft nur kurzen Verweilens – der Obstblüte zum Beispiel – und des raschen Vergehens. 

Ein Freund schickte mir vor Kurzem ein nicht so bekanntes Gedicht von Rainer Maria Rilke, das er zwei Jahre vor seinem Tod schrieb. Es heißt „Wagnis“ und erscheint mir so passend zu unserem thematischen Schwerpunkt. Die ersten Zeilen lauten: „Wie die Natur die Wesen überlässt / dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und keins / besonders schützt in Scholle und Geäst: / so sind auch wir dem Urgrund unsres Seins / nicht weiter lieb; es wagt uns. Nur dass wir / mehr noch als Pflanze oder Tier / mit diesem Wagnis gehen; es wollen; manchmal auch wagender sind (und nicht aus Eigennutz) / als selbst das Leben ist –, um einen Hauch wagender …“ 

Eine Blume, so könnte man sagen, wächst in aller Unschuld, ohne sich damit abzuquälen, dass sie lieber eine Rose statt einer Tulpe wäre, lieber grüner oder mit größerer Blüte. Sie ist einfach so, wie sie ist, und scheint auch nicht besorgt ob ihres Verwelkens. Auch das Blatt, das sich im Herbst vom Ast löst und in uns freudig erscheinendem Tanz zum Boden schwebt, um sich dort wieder in Erde zu verwandeln und den Wald zu nähren, fürchtet sich nicht vor dieser Transformation. Und so erinnert uns Thich Nhat Hanh immer wieder daran, dass wir nicht vom Leben eines Blattes oder eines Baumes sprechen sollten, sondern vom Leben in einem Blatt oder Baum. Unser Leben ist nichts als Leben, es ist weder meins noch deins, es manifestiert sich in uns und allem, was ist, gleichermaßen. 

Doch im Allgemeinen leben wir nicht in dieser Welt der Einheit, oder besser gesagt, wir sind uns dieser nicht bewusst; wir begreifen uns als getrennte Wesen und damit, so könnte man behaupten, fangen unsere Probleme an, und nicht nur unsere, sondern die Probleme all dessen, von dem wir uns getrennt fühlen (können) – Körper, Menschen, Tiere, Mitwelt. 

In der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell finden Sie eine Reihe von Beiträgen, die sich den unterschiedlichen Facetten des Lebendigseins, der Einheit des Lebensprozesses, aber auch dem Leiden der Getrenntheit widmen. So beschäftigen sich David R. Loy und Karl-Heinz Brodbeck beide mit der Frage, ob die Natur denn Buddhanatur habe. David R. Loy geht es dabei um unser Verhältnis zur sogenannten äußeren Natur, Karl-Heinz Brodbeck um ein Verständnis unserer menschlichen Natur. Von unterschiedlichen Perspektiven herkommend sind sie sich in ihren Schlussfolgerungen über die letztliche Tragik der Trennung von „ich“ und „andere“ und deren fatale Folgen sehr einig. In dem Gespräch mit dem Biologen und Philosophen Andreas Weber geht es um das Spannungsfeld, dass wir einerseits eigenständige Individuen sind und gleichzeitig vollkommen bedingt durch alles andere. Was bedeutet das in Bezug auf unsere Freiheit, aber auch unsere Verantwortung? Welche Folgen unser instrumenteller Umgang mit der Natur hat, dem widmen sich auch die Beiträge der Tiefenökologin Joanna Macy und des buddhistisch inspirierten Schriftstellers Gary Snyder. Doris Iding zeigt Beispiele von jungen Menschen, die sich der Naturzerstörung mit konkreten Aktionen entgegenstellen und darin recht erfolgreich sind. Und Manfred Folkers beschreibt in Anlehnung an den buddhistischen Achtfachen Pfad acht Pfade zum ökologischen Wandel.

Ich würde mich freuen, wenn die oben erwähnten, aber auch die vielen weiteren Beiträge in der neuen Ausgabe Ihr Interesse finden und Sie inspirieren, das Thema „Lebendig“ für sich weiter auszuloten.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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