Editorial der Ausgabe 2017/3

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2017/3 Wer bin ich? unter der Rubrik Editorial.

Von dem thailändischen Mönch Ajan Chah ist die Aussage überliefert: „All diese Lehren über Ichlosigkeit sind nicht wahr. Und alle Lehren über ein Ich und ein Selbst sind nicht wahr. Beides sind Konzepte, grobe Näherungswerte, die auf einen geheimnisvollen Prozess hinweisen, der weder Ich noch Ichlosigkeit ist.“ Die neue Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell befasst sich mit der Frage nach dem Ich. Wie Ursula Richard in ihrem Editorial umreißt, geht es um die Frage, was eine „buddhistische Identität“ überhaupt sein mag und welche Fallstricke mit einem solchen Konzept verbunden sein können, um Ich- oder Selbstkonzepte im frühen Buddhismus und im Mahayana, um den Vergleich mit der Psychotherapie und viele weitere Aspekte – bis hin zum möglichen Ende des Homo sapiens.

„Identität“ | © Chiara Vitellozzi

Liebe Leserin, lieber Leser,

in meinem ersten Meditationsretreat vor vielen Jahren auf Sri Lanka sprach der leitende Mönch, ein Australier, davon, dass es im Buddhismus so etwas wie ein „Ich“ nicht gebe. Zumindest habe ich ihn so verstanden. Damals litt ich an einer recht ausgeprägten Angststörung, doch dieser Satz löste in mir keine neue Angstattacke aus, sondern lüftete im Gegenteil für einen Moment die Käseglocke der Selbstbezogenheit, der permanenten Beschäftigung mit mir selbst und meinen Zuständen. Er inspirierte nicht nur zu den Fragen: „Wenn es kein Ich gibt, wer ist es dann, die Angst hat?“ oder „Wer bin ich, wenn ich kein Ich habe oder bin?“, sondern auch zu einem neuen Blick auf die anderen, die, so hörte ich den Mönch sagen, ebenfalls Leid, Angst und Unsicherheit erlebten und frei davon sein wollten. So gesehen war dieser Satz eine wunderbare Medizin. Sie reichte natürlich letztlich nicht aus, um die Angststörung zu bewältigen, aber veränderte mein Leben.

In psychotherapeutischen Zusammenhängen lernte ich dann, dass ein starkes Ich wichtig sei, in buddhistischen, von psychologischem Gedankengut beeinflussten Kreisen, dass man zunächst ein stabiles Ich entwickeln müsse, dann erst könne oder solle man es loslassen. Ja, was denn nun: Gibt es so etwas wie ein Ich oder nicht? Wie soll man etwas entwickeln, das es doch gar nicht geben soll? Was ist denn nun die Wahrheit? Mit diesen Fragen habe ich mich jahrelang beschäftigt, bis ich die Frage nach dem, was „wahr“ und „wirklich“ ist, als die eigentliche Crux erkannte.

Handwerkszeug für das eigene Forschen

Von dem thailändischen Mönch Ajan Chah ist folgende Aussage überliefert: „All diese Lehren über Ichlosigkeit sind nicht wahr. Und alle Lehren über ein Ich und ein Selbst sind nicht wahr. Beides sind Konzepte, grobe Näherungswerte, die auf einen geheimnisvollen Prozess hinweisen, der weder Ich noch Ichlosigkeit ist.“ In diesem Sinne sind auch die Beiträge in diesem Heft Annäherungen, Erzählungen und Narrative, Ermutigungen, sich mit dieser alten Menschheitsfrage zu beschäftigen, und wollen Anregungen und vielleicht Handwerkszeug geben für das eigene Forschen. Die Spannbreite reicht dabei von Beiträgen zu Ich- oder Selbstkonzepten im frühen Buddhismus und im Mahayana über die Schilderung psychotherapeutischer Konzepte, die von verschiedenen Persönlichkeitsanteilen oder „inneren Stimmen“ ausgehen, Gespräche mit Gert Scobel und dem Transhumanisten Stefan Lorenz Sorgner über die Erfahrung der Bodenlosigkeit in der Moderne und die Zukunft oder das mögliche Ende des Homo sapiens sapiens bis hin zu der Frage, was denn eine buddhistische Identität überhaupt sein mag und welche Fallstricke mit einem solchen Konzept verbunden sein können. Dazwischen finden sich Texte, die eher das eigene persönliche Leben als Quelle der Beschäftigung mit dieser Frage betonen. Und auch das berührende Porträt des zeitgenössischen buddhistisch-burmesischen Künstlers Htein Lin lässt sich als Beitrag zu der Frage „Wer bin ich?“ lesen. Der Künstler wurde von der Militärregierung verfolgt, verbrachte viele Jahre im Gefängnis und ging ins Exil. Doch er kehrte schließlich nach Myanmar zurück, denn nur in seinem Heimatland war es ihm möglich, die Kunst zu schaffen, die ihm bedeutsam und wesentlich erschien.

Antworten auf die Frage nach der eigenen Identität lassen sich nicht im stillen Kämmerlein auf dem Meditationskissen finden. Identität ist auch nicht allein eine private und persönliche Angelegenheit, sondern umfasst spirituelle, kulturelle, soziale und politische Aspekte. Sie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern offen, fließend, unbeständig, zeigt sich in jedem Moment neu und anders – wenn wir nicht an den alten Bildern von uns und anderen festhalten.

Wir, das Team von BUDDHISMUS aktuell, wünschen Ihnen einen guten Sommer mit vielen leichten, freudvollen Momenten.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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