Editorial der Ausgabe 2016/3

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2016/3 Vom Leben und Sterben unter der Rubrik Editorial.
Ursula Richard, Chefredakteurin

Liebe Leserin, lieber Leser,

Einige von Ihnen werden die Geschichte aus dem alten Indien kennen, in der eine Mutter so über den Tod ihres Kindes trauerte, dass sie daran zu zerbrechen drohte. Sie wandte sich an den Buddha, damit er ihr Kind wieder zum Leben erweckte. Und er versprach ihr, dies zu tun, wenn sie ihm einen Senfsamen aus einem Haushalt bringen könnte, in dem noch niemand gestorben war. Sie klopfte an viele Türen, doch ihre Suche war vergeblich. Sie mündete aber in einer für diese Frau heilsamen Erkenntnis: Tod und Sterben sind allgegenwärtig, niemand kann ihnen entgehen, überall trauern Menschen, versuchen, den Tod von Angehörigen oder Freundinnen, Freunden zu bewältigen. Heilsam war für Kisagotami diese Einsicht, weil sie sich durch ihre konkrete Begegnung mit anderen dieser universalen Lebenswirklichkeit öffnete. Diese Geschichte, die das Schwerpunkthema der neuen Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell einleitet, zeigt auch, dass wohl nicht nur wir heutigen Menschen eher abstrakt kognitiv um Sterblichkeit, Tod und Vergänglichkeit wissen, zumindest so lange, bis diese Wirklichkeit ganz konkret in unser Leben einbricht, sondern dass dieses Nicht-wahrhaben-Wollen vermutlich zu unserem Menschsein gehört. Wie sonst hätte Kisagotami überhaupt die Hoffnung hegen können, einen Haushalt zu finden, in dem es noch keinen Todesfall gegeben hatte?

Die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge beleuchten diese uns allen gemeinsame Lebenswirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven – persönlichen, gesundheits-politischen und buddhistischen. Vor allem in der tibetisch-buddhistischen Tradition gibt es ein großes Wissen um den Sterbeprozess. Mittlerweile findet es auch in Teilen der Palliativmedizin sowie der Hospizbewegung und Sterbebegleitung Berücksichtigung. Das Sterben geht, dieser Sicht zufolge, nach dem Todeszeitpunkt weiter. Doch auch der Todeszeitpunkt selbst, so der Mediziner Linus Geisler, ist nichts Naturgegebenes, sondern wird gesellschaftlich definiert, wie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um Organspenden und die Hirntoddiagnostik zeigen.

Lisa Freund, eine Pionierin in der Hospizbewegung und Sterbebegleitung, erzählt im Interview, wie in diesem Bereich buddhistische und wissenschaftliche Perspektiven einander befruchten können. Wichtig erscheint ihr aber vor allem ein neues menschliches Miteinander, das gegenseitige Fürsorge, besonders in schwierigen Lebens-situationen, einschließt.

Besonders berührt hat mich der Beitrag von Bertram Wohak. In einer E-Mail schrieb er vor drei Monaten von seiner schweren Krebserkrankung und dass er Betroffene durch seinen Blog und ein filmisch dokumentiertes Gespräch mit einem Freund über seine Auseinandersetzung mit seiner Krankheit und dem nahen Tod ermutigen und auch zeigen wolle, wie ihm buddhistische Praxis dabei geholfen habe. Er schrieb, dass er vermutlich das Erscheinen dieser Ausgabe nicht mehr erleben werde. Und so ist es auch gekommen. Werner Steiner, unser Layouter, hat seinen Beitrag als Erstes gestaltet. Bertram Wohak hat die Seite noch gesehen und sie hat ihm gefallen. 

Diese Ausgabe von BUDDHISMUS aktuell ist aber nur ein Mosaiksteinchen in der Beschäftigung mit der „großen Sache von Leben und Tod“, wie es im Zen heißt. Vom 16. bis 18. September wird es in Potsdam einen Kongress der Deutschen Buddhistischen Union zum Thema „Leben und Tod – buddhistische Perspektiven“ geben. Namhafte buddhistische Lehrende werden dort das Thema weiter ausleuchten. Weitere Informationen dazu finden Sie in diesem Heft.

Ein für unser Team von BUDDHISMUS aktuell sehr erfreulicher Ausdruck von Unbeständigkeit und fortwährender Veränderung wird denen, die die Zeitschrift bereits kennen, sicherlich sofort ins Auge gefallen sein: Ab sofort erscheint sie fast durchgängig vierfarbig.

Ich hoffe sehr, dass Sie in dieser Ausgabe Beiträge finden, die für Sie inspirierend, berührend und vielleicht auch hilfreich sind.

Ihre Ursula Richard,
Chefredakteurin

Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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