Auf den Kontext kommt es an

Ein Interview mit David McMahan geführt von Linda Heuman übersetzt von Bettina Hilpert veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Meditation.

Ein Interview mit dem buddhistischen Gelehrten David McMahan darüber, dass unsere Begegnung mit dem Buddhismus nicht im luftleeren Raum stattfindet und warum es wichtig ist, Kontexte zu bedenken.

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Wenn wir westlichen Buddhisten uns zur Meditation hinsetzen, gehen wir meist davon aus, dass wir dasselbe tun wie BuddhistInnen weltweit seit Jahrhunderten. Wir meinen, wir nutzten dieselben Praktiken, die sie schon immer genutzt haben, um Leiden zu überwinden (in der Hoffnung, dieselben Resultate zu erzielen). Aber das ist eine problematische Annahme, nicht zuletzt deswegen, weil sie von der Auffassung ausgeht, dass buddhistische Praxis unabhängig von Zeitalter und Kultur ist.

David McMahan, Professor für Religion am Franklin and Marshall College in Pennsylvania, erforscht die Rolle kultureller und sozialer Kontexte in Bezug auf Meditation. Als ein Experte für die Begegnung des Buddhismus mit der modernen Zeit, schlägt er vor, sich doch einmal das Leben eines Mönchs im alten Indien vorzustellen. „Er hat seine Familie hinter sich gelassen, er lebt zölibatär, er isst nicht nach Sonnenhöchststand, er studiert Texte, die ihm einen skeptischen Blick auf die Welt der Phänomene und ihre Werte geben. Ist seine Praxis wirklich genau die gleiche“, fragt McMahan, „wie die einer zeitgenössischen, säkularen Praktizierenden, die am Arbeitsplatz meditiert und versucht, mitfühlend mit ihren Kindern umzugehen?“

Wenn uns diese Frage etwas unbequem ist, dann gibt es dafür einen guten Grund: Sie deckt eine unterschwellige Spannung auf. Einerseits wollen wir McMahan widersprechen, glauben wir denn nicht, die Lehre des Buddha sei zeitlos? Leiden ist immerhin ein zeitloses Phänomen und nicht nur Merkmal einer Epoche. Lebewesen haben in der Vergangenheit gelitten und ganz offensichtlich leiden sie auch jetzt noch. Der Buddha lehrte, dass eine Auflösung des Leidens möglich ist, und das ist uns heute noch zugänglich. Andererseits sagt uns aber ein ständig wachsendes Beweismaterial, dass im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Kulturen (ja, sogar innerhalb von Traditionen) verschiedene Versionen des Buddhismus existiert haben, die das menschliche Problem und seine Lösung jeweils unterschiedlich definieren. Wir mögen uns fragen, wie Buddhismus authentisch sein kann, wo er sich durch Kultur oder Geschichte verändert hat? Wie kann er da noch wahr sein?

Nach McMahan gibt es diese problematische Spannung nicht nur im Buddhismus. Sie stellt auch ein tiefes Paradox des modernen Lebens dar. Das doppelte Pech des rationalen Denkens ist, dass wir, wenn wir meinen, die Wahrheit sei einzigartig, kulturübergreifend und ahistorisch, mit dem historischen Wandel und kulturellen Pluralismus zusammenstoßen. Wenn wir dagegen akzeptieren, dass verschiedene Wahrheiten gleichermaßen gültig sind, landen wir beim Relativismus.

McMahan sagt: „Das Verständnis, das die Sozialwissenschaften und die zeitgenössische Philosophie und Anthropologie der Wichtigkeit kultureller Kontexte entgegenbringen, ist ein einzigartiges modernes westliches Phänomen.“ Aber er versichert uns, dass die Lehren des Buddhismus über Leerheit und Bedingtes Entstehen auf dieses scheinbare Paradox Licht werfen können. Im Juni 2013 habe ich mich in einer Pause während der „Mind and Life“-Konferenz in Garrison, New York, mit ihm zusammengesetzt und ihn gebeten zu erklären, warum es auf den Kontext ankommt.

Linda Heumann

© Regina Oberndorfer

Linda Heumann: Gibt es ein gängiges Missverständnis, auf das Sie bei Ihrer Arbeit über Buddhismus und Modernität immer wieder stoßen?

David McMahan: Es gibt ein weitverbreitetes Missverständnis, besonders unter westlichen Praktizierenden, nämlich die Vorstellung, sie praktizierten genau das, was BuddhistInnen seit der Zeit des Buddha praktiziert haben. Es wird selten wahrgenommen, wie stark zeitgenössische Formen des Buddhismus durch implizite Annahmen rekontextualisiert wurden.

LH: Können Sie etwas über Ihre momentanen Forschungen zur Rolle des Kontextes in der Meditation sagen?

DM: Ich versuche zu verstehen, auf welche systemische Art und Weise Meditation innerhalb einer Kultur funktioniert. Ich komme weg von meditativen „Zuständen“ oder davon, Meditation als etwas Statisches zu begreifen, im Sinne von: „Du machst die Praxis A und die führt dich zum Zustand X.“ Die Bedeutung und das Verständnis von sowie die Begründung für Meditation können von einer Kultur zur anderen ganz verschieden sein. Wenn jemand zum Beispiel aus einer tibetischen Tradition mit sehr wenig Kontakt zum Westen eine bestimmte Praxis macht: Ist das wirklich genau die gleiche Praxis wie die eines modernen, westlichen Berufstätigen? Auch wenn es auf dem Papier „die gleiche Praxis“ sein mag, so ist sie doch in einen gänzlich anderen Kontext eingebettet.

LH: Was genau meinen Sie mit „Kontext“?

DM: Zuerst einmal gibt es den Kontext des Dharma. Gegenwärtig haben wir zum ersten Mal kontemplative Praktiken, die aus dem Buddhismus abgeleitet worden sind und in einem völlig Buddhismus-freien Kontext praktiziert werden. Die Säkularisierung hat das, was wir die „religiösen Elemente“ nennen würden, herausgefiltert. Es sind diese religiösen Elemente, diese ethischen Elemente und diese Absichten, die immer den Kontext der Meditation geformt und die Meditation sinnvoll gemacht haben. Was soll es sonst für einen Sinn machen, sich für eine halbe Stunde hinzusetzen und den eigenen Atem zu beobachten? Jemand muss Ihnen erklären, warum das sinnvoll und eine gute Idee ist und was es in einem größeren Zusammenhang bedeutet. Wenn Meditation völlig unabhängig davon in den Westen kommt, ist sie wie ein trockener Schwamm. Sie saugt die kulturellen Werte auf, die unmittelbar zur Verfügung stehen: So geht es dann um Selbstwertschätzung. Oder vielleicht um Körperakzeptanz oder um Stressverminderung. Oder darum, dass sie hilft, bei der Arbeit möglichst viele Aufgaben effizient zu erledigen. Oder darum, Mitgefühl in der Familie zu entwickeln. Eine Vielzahl von neuen Elementen beginnt gegenwärtig, einen neuartigen Kontext für diese Praxis zu bilden, die nicht nur über die Klostermauern gesprungen ist, sondern sich ganz vom Buddhismus gelöst hat.

Ich kenne Leute, die überhaupt nicht daran interessiert sind, Buddhisten zu werden oder buddhistische Philosophie zu studieren, die aber wirklich von einer reinen Achtsamkeitspraxis profitiert haben. Deswegen bin ich nicht in der Position, dass ich sage: „Oh, du solltest das nicht tun, wenn du nicht vorher Nagarjuna gelesen hast!“ (lacht) Jede Kultur hat ihre Elitereligion und ihre Volksreligion, es ist fast so, als würde Achtsamkeit die Volksreligion der säkularen Elite der westlichen Kultur werden. Wir werden sehen, ob das gut oder schlecht ist.

Um das Verständnis von Kontext noch weiter auszudehnen, gibt es ja noch den kulturellen Kontext, der offensichtlich sehr verschieden sein kann. Und wieder gibt es hier viel implizites Verständnis: Ich sehe mich in einer Welt von Atomen, Molekülen, Bakterien, Viren und unendlich weit entfernten Galaxien. Es ist mir buchstäblich unmöglich, mir eine Welt vorzustellen, in der es kalte und heiße Höllen unter meinen Füßen gibt. In diesem Sinne ist unser einfaches In-der-Welt-Sein – unsere „Lebenswelt“, um einen phänomenologischen Begriff zu gebrauchen – tief von diesen kulturellen Elementen geprägt. Und dieser kulturelle Kontext schafft neue Ziele und Absichten, denen Meditation dienen soll.

LH: Bedeutet, den Stellenwert des Kontextes anzuerkennen, dass wir kulturelle Relativisten sein müssen?

DM: Ich bin kein völliger kultureller Relativist. Ich sage nicht: Alles ist kulturell. Es gibt Dinge, die ganz offensichtlich kulturübergreifend sind. Wir funktionieren alle grundsätzlich mit derselben Neurophysiologie. Aber die Erkenntnistheorien und wie wir die Welt sehen, sind kulturell tief verankert. Die grundlegenden Kategorien, die wir benutzen, damit die Welt für uns sinnvoll ist, sind kulturelle Konstrukte. Wir möchten eine Art letztes Verständnis der Welt haben. Das ist nur natürlich. Wir möchten nicht hören, dass unsere Weltsicht nur das Ergebnis unserer Erziehung, Sprache und Kultur ist. Und doch gibt es einige Dinge, die nur durch die Linse bestimmter kultureller Traditionen oder bestimmter Kategorien gesehen werden können. Anstatt die Existenz unterschiedlicher Wissenssysteme als entwertend anzusehen, könnte man sie einfach als verschiedene Linsen betrachten. Das bedeutet nicht, dass sie alle gleich oder alle gleich wertvoll sind. Manche mögen für diesen Zweck, andere für jenen besser geeignet sein.

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LH: Welchen Missverständnissen über Meditation können Praktizierende erliegen, wenn sie den Kontext der Meditation außer Acht lassen?

DM: Das kann zu Dogmatismus über den Fortschritt bezüglich der Meditation auf dem Weg führen: Hier ist dieses Stadium, dort das nächste Stadium der Verwirklichung. Wir finden diese Schemata in den buddhistischen Texten, deswegen gibt es für einen guten Buddhisten allen Grund zu glauben, dass diese Schemata des meditativen Fortschritts einfach in die Natur der Dinge – in den Geist selbst – eingebaut sind. Ich sage nicht, dass wir das nicht glauben sollten, aber zuallererst sind wir mit der Vielfalt der Landkarten des Weges konfrontiert. Das ist das gleiche generelle Problem des Pluralismus, mit dem wir in der modernen Welt ständig konfrontiert sind. Ich glaube nicht einmal, dass das einzigartig für die moderne Welt ist. Eine Sicht, wäre zu sagen, meine Karte ist die einzig wahre und alle anderen sind falsch. Die andere wäre zu sagen, es gibt eine Menge verschiedener Karten und die zeigen verschiedene Dinge, abhängig nicht zuletzt von der getroffenen Entscheidung, wohin man gehen will. Im Theravada ist das letztendliche Ziel der Meditation, die Welt vollständig zu transzendieren. Im Mahayana möchte man als Bodhisattva wieder und wieder zurückkommen. Deswegen sind diese Karten so unterschiedlich gestaltet.

LH: Ist nicht die Ansicht „Keine Karte ist absolut wahr“ auch eine Ansicht?

DM: Ja, sicher. In den Grundlegenden Versen des Mittleren Weges legt Nagarjuna sein Verständnis von Leerheit dar und macht dann eine überraschende, ja sogar erstaunliche Äußerung. Er sagt: „Letztendlich ist alles, was ich gesagt habe, auch leer.“ Das ist die Idee der Leerheit der Leerheit. Er gibt zu, dass alles, was er dargelegt hat, eine pragmatische Karte ist, kein absolutes System, das mit der Wirklichkeit auf absolute Art und Weise übereinstimmt. Es gibt einige Diskussionen darüber, ob Nagarjuna jede Ansicht meint oder nur falsche. Auf eine Art mag ich diese „jede Ansicht“-Ansicht (lacht). Dass also jede Art von Karte oder System, an die man sich hängt und die man zu etwas macht, von dem man glaubt, sie stimme mit der Wirklichkeit überein, zur Fessel wird.

Viele Abhidharma-Abhandlungen scheinen der Versuch zu sein, alles zu berücksichtigen, alles zu kategorisieren, um eine wirklich umfassende Buchhaltung der phänomenologischen Wahrheit des Menschseins zustande zu bringen. Ich glaube, es war in Reaktion auf diese Systematisierung, dass Nagarjuna gesagt hat, dass Sprache so nicht funktioniert (das ist auch das Verständnis der Prajnaparamita-Sutren). Sprache entspricht einfach nicht aus sich selbst heraus existierenden, unabhängigen Entitäten, die zu unseren Kategorien passen. Diese Spannung ist also sogar in der buddhistischen Tradition selbst schon gegeben.

LH: Viele westlichen Buddhisten nehmen an, dass es in Ordnung sei, den Dharma aus seinem Kontext herauszulösen, weil Nichtbuddhisten, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – so praktizierten, infolge dessen zu buddhistischen Einsichten kommen würden.

DM: Es ist etwas komplizierter als das, denn, um diese Einsichten zu entwickeln, muss man zuerst einen gewissen Kontext haben. Ausführliche Belehrungen sind der Kontext, der den Geist auf einem bewussten und zugleich impliziten Niveau, tief programmiert. Es ist kein Zufall, dass BuddhistInnen Schriften auswendig lernen und rezitieren, sie also immer und immer wiederholen. Das lässt den Dharma tief in den Geist einsinken, sodass er einen impliziten Hintergrund für das Verständnis bietet. Und das ist ein Teil dessen, was in der Einsicht dann wieder hochkommt. Es ist nicht die Art von Einsicht, die alles aus dem Weg räumt, und dann – bumm – ist die blanke Einsicht in etwas da. Wiederaufbereitung ist eine nötige Voraussetzung für zumindest einige Formen der Einsicht.

LH: Können Sie ein Beispiel geben?

DM: Schauen Sie sich einen der ersten umfassenden Texte zur Meditation an: das Satipatthana-Sutra (Die Vier Grundlagen der Achtsamkeit). Ich bin immer wieder fasziniert, dass Menschen bis heute mit diesem grundlegenden Text arbeiten. Normalerweise nehmen sie einen winzigen Ausschnitt davon – reines Gewahrsein des Atems und der Bewegungen –, und das wird dann zur „Achtsamkeit“ in der modernen Welt. Aber wenn man das Sutra zu Ende liest, merkt man, dass da alle möglichen sehr konzeptuellen Aspekte enthalten sind. Weit entfernt davon, einfach nur „nicht wertend“ zu sein, schlägt es vor, weise und unterscheidende ethische Urteile zu fällen, Urteile, die auf den verschiedensten Dingen beruhen. Das Sutra trainiert den Geist, die Welt und sich selbst in einer bestimmten Art und Weise wahrzunehmen. Anstatt sich selbst als fest, einzigartig und beständig zu sehen, bietet es als Alternative die Fünf Skandhas an. Es geht um die Beziehung zwischen den Sinnen und der äußeren Welt. Und dann endet das Sutra mit einer Meditation über den Achtfachen Pfad und die Vier Edlen Wahrheiten. Der Text versucht, den Geist zu trainieren, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen, die dazu dient, den buddhistischen Pfad zu gehen und Fortschritte in Richtung Erleuchtung zu machen. Der Text bietet dafür eine Vielzahl von verschiedenen Haltungen, Orientierungen, Sittenlehren und Werten an, die den Kontext – und manchmal auch den tatsächlichen Inhalt – der Meditationspraktiken bilden. Reines Gewahrsein mag der Ausgangspunkt sein, ein Weg, den Geist zu fokussieren und zu konzentrieren. Aber dieser größere Kontext liefert Begründungen und Ziele für die Praxis. Selbst in die säkularsten heutigen Achtsamkeitsbewegungen spielen eine Menge dieser Werte und Haltungen hinein, weil es ohne eine konzeptuelle und ethische Orientierung einfach nicht funktioniert.

LH: Warum, glauben Sie, ist die Bedeutung des Kontextes hier so schwer zu erkennen?

DM: Ich glaube, dies wird durch die Idee gefördert, dass Meditation uns aus dem Kontext heraushebt, und das sollte Meditation ja auch tun. Sie sollte uns jenseits dieses ganzen kulturellen Zeugs bringen, uns in die Lage versetzen, unsere Kultur zu transzendieren. Und ich würde behaupten, dass diese Idee sehr aus unserem modernen Kontext herrührt. Moderne westliche Vorstellungen von Freiheit handeln oft von der Freiheit des autonomen Individuums von sozialen, institutionellen und kulturellen Einflüssen und Prägungen. Die Idee vieler moderner Praktizierender von Meditation als etwas jenseits von Kultur und anderen Formen von Kontext stammt von D. T. Suzukis Darlegungen über Zen, die sehr das Nichtkonzeptuelle betonen. Sie rühren auch aus dem modernen pluralistischen Kontext her, in dem wir in den letzten zweihundert Jahren mit beispielloser Geschwindigkeit mit anderen Kulturen zusammengestoßen sind. Dabei haben wir versucht, herauszufinden, was wir miteinander machen sollten, haben die Unterschiede zwischen uns erkannt und Kriege wegen dieser Unterschiede geführt. Wenn wir jenseits dieser Konzepte gelangen können, verheddern wir uns nicht in das, was richtig und was falsch ist und wer das „richtige“ Wirklichkeitsmodell hat. D. T. Suzuki sagt, wir können das alles einfach durchschneiden und direkt zur reinen Erfahrung der Wirklichkeit, so wie sie ist, jenseits des kulturellen Kontextes gelangen.

Es gibt einen bestimmten Punkt, an dem man die Konzepte und Prägungen überwinden kann, aber es gibt auch viele neue Konzepte und Wiederaufbereitungen alter. Die Idee ist, den Geist zu transformieren und nicht alle kulturellen Einflüsse aus ihm zu entfernen. Der Buddhismus selber ist auch eine Kultur, eine, die versucht, den Geist in einer bestimmten Art und Weise, die dem Erwachen dient, zu trainieren und zu prägen.

LH: Wenn die Phänomene bedingt entstanden sind, so wie uns die Lehren sagen, dann ist das ja auch alles in gewissem Sinne Kontext.

DM: Ja, die Vorstellung, dass die Dinge durch Ursache und Wirkung entstanden sind, ist eine Bestätigung der Bedeutung von Kontexten. Es ist kein Zufall, dass das Konzept des Bedingten Entstehens oder der Wechselseitigen Abhängigkeit so wichtig für das Verständnis des Buddhismus heutzutage geworden ist. In den frühesten Formen des Buddhismus war die Vorstellung des Bedingten Entstehens und der Wechselseitigen Abhängigkeit keine gute Nachricht. Sie war ein Mittel, um das Entstehen von Leiden zu erklären (in den zwölf Gliedern) und kein Feiern der Verbundenheit im lebendigen Netz des Entstehens. Das Bedingte Entstehen war etwas, aus dem man herauskommen wollte, es war eine Fessel. Mit der Entwicklung des Mahayana, besonders in China, entstand ein Wechsel im Verständnis der Welt der Phänomene und ihrer Bedeutung. Im chinesischen Buddhismus wurde die Welt als Ausdruck der Buddhanatur gesehen, und es gab Debatten darüber, ob Bäume und Gras Erleuchtung erlangen könnten und ob sie wirklich fühlende Wesen seien. Zudem gab es viele Naturmetaphern für Erleuchtung. Und so ist die Wertschätzung der Chinesen für die Natur in die Vorstellung der Gegenseitigen Abhängigkeit eingeflossen und hat eine Welt-bejahendere Version des Buddhismus geschaffen. Das mündete Jahrhunderte später in die transzendentalistische und die romantische Sicht der Natur und in die Tiefenökologie. Jetzt gedeiht ein ganz neues Verständnis gegenseitiger Abhängigkeit, die nicht nur durch diese buddhistischen Strömungen geprägt wurde, sondern auch durch westliche Ideen von gegenseitiger Abhängigkeit.

Damit ist die Möglichkeit entstanden, die Welt nicht nur als einen Ort der Leidens zu sehen, sondern auch als einen Ort der Befreiung – eine Vorausschau von Buddhas und Bodhisattvas, wie ein Trainingsplatz oder ein Reines Land, ein Ort, an dem es versteckte heilige und wundersame Aspekte in den gewöhnlichen Dingen gibt. Das Avatamsaka-Sutra symbolisiert das durch wilde Visionen von winzigen Universen in einem Sandkorn oder in den Poren von Buddhas Haut. Die Haltung zur Welt wird variantenreicher und komplexer. Und in der modernen Welt ziehen bestimmte Tatsachen und Konzepte dann wie Magneten bestimmte Ideen aus der buddhistischen Tradition an, während sie andere links liegen lassen. Die Wechselseitige Abhängigkeit ist eine dieser angezogenen Ideen. Nicht die alte Vorstellung der zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens. Die momentanen Bedingungen in der Welt zeigen, dass gegenseitige Abhängigkeit eine bedeutende und offensichtliche Tatsache ist. Alles ist durch Kommunikationstechnologie und durch erleichtertes Reisen verbunden. Wir wissen, wenn wir hier die Umwelt ruinieren, kann das auf der anderen Seite der Erde Auswirkungen haben. So bekommt das Bild von Indras Netz plötzlich eine neue Bedeutung, um nicht zu sagen, es ist zu einem der bekanntesten Bilder und Konzepte in modernen Ausprägungen des Buddhismus geworden. Obwohl es in der Vergangenheit nie diese Bedeutung hatte, außer in einer buddhistischen Schule Chinas.

Ich denke, die Darlegung von historischem Wandel und den tatsächlichen Auswirkungen von kulturellen Kontexten kann verstörend und destabilisierend sein. Es ist nicht gerade ein beruhigender Gedanke. Aber es ist interessant, dass Verunsicherung in gewisser Weise genau das ist, was der Buddhismus schon immer vermitteln wollte.