S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche ist 80 Jahre alt geworden

8. August 2020

Am 27. Juli 2020 hat Dagyab Rinpoche seinen 80. Geburtstag ganz privat, umgeben von alten Freunden und Familie, auf dem Land, im Garten des wunderschönen Retreathauses, das von seinen Schülern gegründet worden ist, verbracht. Eigentlich kam ihm die Pandemie da sehr entgegen, denn er mag kein großes Tamtam.

Dagyab Rinpoche, Foto: Stefanie Kösling

Er selbst hat einmal verlauten lassen, dass sein Leben eigentlich deshalb interessant sei, weil es aus mindestens drei Leben bestehe: zunächst als Tulku im alten Tibet, dann als Flüchtling in Indien, schließlich als Familienvater, Tibetologe an der Bonner Universität und spiritueller Lehrer in Deutschland. An seinem Leben lässt sich deutlich nachvollziehen, wie die Tibeter innerhalb weniger Generationen ihre traditionelle Gesellschaft verlassen haben und im 21. Jahrhundert angekommen sind.

In Tibet reicht die Institution des Kyabgön „Schutzherrn“ von Dagyab zurück bis zum osttibetischen Gelehrten Dragpa Gyatso (1572-1638). Seit dem IV. Kyabgön tragen alle Inkarnationen zusätzlich den Ehrentitel des Hothogthu Nomonhan. Der jetzige IX. Dagyab Kyabgön ist der einzige Hothogthu im Westen. 

In einem Widmungsgebet an die Linie der Dagyab Kyabgöns sind mehrere tibetische und indische Meister erwähnt, die als Vorläufer der Dagyab Kyabgöns gelten. Der bekannteste unter ihnen ist der große Übersetzer Loden Sherab (1059-1109) aus Zentraltibet. Deshalb trägt der jetzige Kyabgön von Dagyab den Namen: Seine Eminenz Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche.  

Rinpoche wurde im osttibetischen Minyak auf einem Bauernhof geboren und – nachdem er als hohe Wiedergeburt anerkannt worden war – als kleiner Junge in die ca. 500 km entfernt liegende Region Dagyab gebracht. Dort wurde er ab dem siebten Lebensjahr unter der Anleitung seiner äußerst strengen Lehrer in seinen Privaträumen – nicht gerade kindgerecht – unterrichtet. 

1954 setzte Rinpoche seine Studien an der Klosteruniversität Drepung vor den Toren von Lhasa fort. Er konzentrierte sich auf die fünf großen buddhistisch-philosophischen Fächer: Prajnaparamita, die Vollkommenheit der Weisheit; Madhyamika, die Philosophie vom Mittleren Weg; Vinaya, den Kanon der klösterlichen Disziplin; Abhidharma, Metaphysik; Pramana, Logik und Erkenntnistheorie. Von 28 verschiedenen Meistern erhielt er zahlreiche buddhistische Sutra- und Tantra-Unterweisungen.

Nach der Niederschlagung des tibetischen Volksaufstandes durch chinesische Truppen am 10. März 1959 gelang es Rinpoche, nach Süd-Tibet zu flüchten. Von dort aus ging er zur tibetisch-indischen Grenze, wo er S. H. den XIV. Dalai Lama antraf. Seine Heiligkeit bat Rinpoche, ihn ins indische Exil zu begleiten.  

Dagyab Rinpoche mit dem Dalai Lama

Rinpoche beendete seine buddhistischen Studien in Dharamsala in Nordindien. Er erhielt den Geshe-Lharampa-Abschluss, einen akademischen Titel, der im Westen dem eines Doktors der Philosophie entspricht. Von 1964 bis 1966 leitete er auf Bitten des Dalai Lama das Tibethaus in Neu Delhi, ein international anerkanntes Institut für die Erhaltung und Unterstützung der tibetischen und buddhistischen Kultur.

Zu dieser Zeit erhielt er eine Einladung von der Universität Bonn, am dortigen Zentralasiatischen Seminar in der Forschung zu arbeiten. Nach Rücksprache mit seinem Hauptlehrer Kyabje Dorje Chang gab er offiziell seine Roben zurück. Der Grund war, dass er sich sicher war, als Mönch im Westen keine wirkliche Nähe zu anderen Menschen entwickeln zu können. Erst einige Jahre später heiratet er, wird Vater von zwei Kindern und hat zusammen mit seiner Frau Norla inzwischen fünf Enkelkinder.

Sein Hauptinteresse war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2004 das Studium der tibetisch-buddhistischen Symbole, der Ikonographie und der tibetischen religiösen Kunst. Aus seiner Forschungsarbeit entstanden mehrere Bücher. Unter Tibetologen wird er weltweit als der Experte zum Thema religiöse Kunst angesehen.  

In den ersten Jahren genoss Rinpoche sein Privatleben als Angestellter und Familienvater, der natürlich konsequent weiterhin praktizierte und etliche Retreats (meistens nachts) durchführte. Erst auf mehrfache Bitten hin begann Rinpoche auch im Westen buddhistische Unterweisungen zu geben. 

Dies führte 1984 zu der Gründung des Buddhistischen Zentrums Chödzong in Bayern. Nach 21 Jahren regte Rinpoche an, die Organisation nach dem Modell der Tibethäuser in New Delhi und New York umzustrukturieren, um die tibetische Tradition zu bewahren und den kulturellen Austausch mit dem Westen zu fördern. Daher zog Chödzong e.V. 2005 nach Frankfurt am Main und wurde dort zum Tibethaus, einem Kultur- und Bildungsinstitut, das unter der Schirmherrschaft des XIV. Dalai Lama steht. Rinpoche gilt als derjenige, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie hält, hat aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- sowie der Kagyü-Schule.

Hier im Westen ist er natürlich mit einer ganz anderen Schülerschaft konfrontiert. Die meisten sind zum Buddhismus konvertiert, teils sind sie getrieben von einer großen „Anfängerbegeisterung“, andere hinterfragen erst einmal alles oder werden gar besonders eng und strenggläubig. Rinpoche hat von Beginn an sehr viel Wert darauf gelegt, im Austausch mit seinen engen Schülerinnen und Schülernn, die er teilweise zu Tutoren ernannt hat, einen Buddhismus im Westen zu entwickeln. Oft betont er, dass die Essenz erhalten bleiben muss, aber die Verpackung sich ändern kann.

Er ist ein liebevoller und gleichzeitig kritischer Lehrer, der immer wieder aufrüttelt und stets zurück zum Eigentlichen kommt: „Ich war und bin immer über die Art und Weise, wie wir Buddhisten uns verhalten, etwas unzufrieden. In unserer gemütlichen buddhistischen Ecke können wir uns wunderbare Gedanken machen, aber an den Bodhisattva-Handlungen mangelt es. Vollkommen falsch ist, wenn ihr sagt: Rinpoche will dieses, Rinpoche will jenes. Rinpoche hat gar keine Bedeutung, aber wenn sie oder er als spirituelle Leitung vernünftige und nützliche Ideen hat, dann sollen nahestehenden Menschen diese mit unterstützen.“

Als tantrischer Lehrer betont er immer: „Ich praktiziere nicht mit Zwang, sondern weil ich davon überzeugt bin, weil ich die Praxis mit Freude ausübe. Wenn ich das nicht empfinde, kann ich es gleich sein lassen!“ Er appelliert immer wieder, dass wir eine Eigenverantwortung haben und uns selbst disziplinieren sollten, ohne Druck, aber mit einer konstanten guten Motivation. Diese „freudvolle Konstanz“, immer mit dem Nutzen für alle verbunden, lebt er uns von Anfang an vor.

Rinpoche im Tibethaus in Frankfurt am Main

Sehr kritisch äußert sich Dagyab Rinpoche zum Wiedergeburtssystem des tibetischen Buddhismus: „Das Reinkarnations-System gehört ins Museum! Es hat damals auch großartigen Nutzen gebracht, doch jetzt ist es vorbei mit dem Tulku-System. Was gut wäre: Mönche, Nonnen und Laien, wer auch immer, die wirklich sorgfältig bzw. mit Sorgfalt studieren, absorbieren und Erkenntnis erlangen bzw. gewisse Verwirklichungen erlangen, die mit Ernsthaftigkeit die buddhistische Lehre unterstützen, die Unterweisungen geben, diese Frauen, Männer, Mönche und Nonnen sind geeignet, als Lehrerinnen oder Lehrer verehrt zu werden. Sie sollen diese Aufgabe annehmen. Was brauchen wir mehr? So gibt es weniger Probleme mit Reichtümern, weniger Probleme mit Macht, weniger Probleme mit Politik. 

Was mich betrifft, bis jetzt bin ich mehr oder weniger zufällig auf den Thron des IX. Kyabgön von Dagyab gelangt, und ich kann nicht zurücktreten. Das ist eine lebenslängliche Sache. Aber nach meinem Tod ist es hundertprozentig sicher, dass es meine nächste Existenz gibt, aber vielleicht als ein Vogel oder vielleicht ein Fisch, vielleicht als Mann oder als Frau. Wo auch, wie auch immer, irgendwann komme ich. Mein subtiles Bewusstsein wird damit nicht beendet sein.“ Aber bitte sucht nicht nach mir!

Dagyab Rinpoche ist immer noch, obwohl er Ende Juli 80 Jahre alt wurde, hochaktiv. Nach seiner Pensionierung hat er zehn Jahre lang mit unglaublicher Disziplin und Hingabe an einem Mammutwerk geschrieben, das 2016 auf Tibetisch veröffentlicht worden ist und aktuell unter der Leitung des Tibethauses ins Englische und Deutsche übersetzt wird. Beide Bände basieren auf den transkribierten Unterweisungen Seiner Heiligkeit aus den vergangenen Jahrzehnten. Der erste Teil dieses zweibändigen Werkes ist eine allgemeine Einführung in die buddhistischen Sichtweisen und umfasst alle grundlegenden und wegweisenden Gedanken Seiner Heiligkeit. Dazu zählen auch ein Kapitel zur säkularen Ethik sowie ein historischer Überblick bis hin zur aktuellen Entwicklung des Buddhismus. Der zweite Band ist der Kommentar Seiner Heiligkeit zum berühmten Lamrim des V. Dalai Lama.  

Seit einigen Jahren wird an einer Biografie über Rinpoches „drei Leben“ geschrieben. Einige seiner Schüler*innen haben etliche Interviews mit ihm, seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden geführt, diese transkribiert und sind dabei, die Texte zusammenzustellen. Rinpoche ist ein wandelndes Lexikon, er erinnert sich an die kleinsten Details, oft mit viel Humor und einer unglaublich scharfen Beobachtungsgabe. Eines kann ich versprechen: die Biografie wird umfangreich werden und garantiert sehr spannend.

Ein Beitrag von Elke Hessel