Martin Kolmar

Grenzbeschreitungen

Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit der Natur

Heft: 02 | 2022 Nahrung
Verlag:Böhlau Verlag
Ort:Köln
Jahr:2021
ISBN:978-3-412-52298-8
Preis:40,00 €
Seiten:438
Hardcover
 


Rezension

Wer will das nicht: ein sinnvolles, glückliches, erfülltes Leben führen. Aber wie? Seit 50 Jahren etwa merken wir, dass wir mit unserem Fokus auf Macht und Erfolg unsere Welt zerstören. Einen Weg heraus bietet das neue Buch von Martin Kolmar, Professor für Volkswirtschaftslehre in St. Gallen. Er bringt ein paar alte Begriffe wieder ins Spiel: Erhabenheit und Demut – beide heutzutage nicht sehr beliebt.

Auf gut 400 Seiten bietet Martin Kolmar eine wunderbare Verbindung von Erkenntnissen aus Neurowissenschaften, Psychologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaft. Er geht auf die Belohnungsmechanismen des Dopaminsystems ein, die, einst wichtig für unser Überleben, jetzt dazu führen, nach immer neuen „Kicks“ zu suchen. Er untersucht den Zusammenhang zwischen Chaos und Ordnung: „Die erhabene Erfahrung ist daher die Erfahrung einer Auflösung von Ordnung und Konvention, wofür symbolisch der Begriff Monster (von monstrum, mahnendes Zeichen) oder Ungeheuer (vom Adjektiv ungeheuer, Althochdeutsch ungihuiri, unheimlich, unvertraut) steht.“ Er betrachtet dabei die Rolle des Tricksters vom Coyoten bis zum Bodhisattva, streift die Philosophen Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein und den Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan und stellt eine andere Erfahrung der Realität vor, die er unter anderem im Buddhismus findet: die reine Wahrnehmung und das Einswerden mit der Welt, zum Beispiel direkt vor unserer Haustür bei der Betrachtung eines Tautropfens. Solche Entgrenzungserfahrungen gibt es für ihn aber nicht nur in der Naturerfahrung oder der Meditation, sondern er fasst das Einswerden weiter und sieht es auch in einem gemeinsamen Tun mit anderen Menschen verwirklicht. „Erfahrungen der Selbsttranszendenz scheinen zu den positivsten und bedeutungsvollsten Erfahrungen des Lebens zu gehören, indem sie einige unserer Momente des größten Friedens erzeugen und für das einzelne Leben einen transformativen Charakter haben, der Menschen weniger status- und konsumorientiert, aber dafür mitfühlender und kooperativer macht.“ Paradoxerweise bringt die Entgrenzungserfahrung auch ein Gefühl der Verbundenheit mit sich.

Für Martin Kolmar ist das keine Theorie, sondern eine „körperliche Form von Wissen“, eine neue Normalität: nicht mehr nach mehr Dingen zu streben, sondern nach einer höheren Qualität von Leben. Als Wirtschaftswissenschaftler weiß er auch, dass dieser notwendige Umbruch sich zunächst nach Einschränkung und Verzicht anhört und für manche auch sein wird. Aber für ihn steht fest: „Die Umweltkrisen sind Konsequenzen menschlichen Verhaltens. Externe Effekte sind nicht die Ursache der Krisen, sondern Ausdruck von Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in Weltbildern haben.“ Und die Fülle des Lebens, die sich in einem Verzicht auf Materielles äußert, führt für ihn zu einem reicheren Leben und einer intensiveren Gemeinschaft: „Es ist keine Heldenreise im Singular, es ist eine im Plural. Wir dürfen uns gemeinsam auf den Weg machen.“

Martin Kolmars Buch bietet eine überbordende Fülle an Material und Anregungen zum Nachdenken über unsere Weltbilder und sogar Vorschläge, wie wir handeln könnten und müssten, um zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu gelangen. Es ist dabei zwar wissenschaftlich untermauert, aber an kaum einer Stelle komplizierter geschrieben, als es aufgrund der komplexen Zusammenhänge sein muss. Eine wahre Schatzkammer an Wissen.

Georg Patzer

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