Die Stufen des Pfades zum Erwachen

Rezension

Die deutschsprachigen Publikationen des 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, sind inzwischen kaum noch zu überblicken. Viele seiner Bücher bestehen aus Transkripten seiner Vorträge und Ansprachen und sind dementsprechend gut verständlich. Ganz anders verhält es sich mit seinem zweibändigen Hauptwerk: „Die Essenz meiner Lehre“. Der erste Band erschien 2022 unter dem Titel „Wegweiser für die Welt von heute“. Nun liegt der abschließende zweite Band vor: „Die Stufen des Pfades zum Erwachen“. 

Im Kern des Buches stehen „Manjushris mündliche Anweisungen zum Stufenpfad zur Erleuchtung“, überliefert vom 5. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso, (1617–1682), die der 14. Dalai Lama ausführlich kommentiert. Darüber hinaus zitiert und kommentiert er weitere bedeutende Schriften, etwa Atishas „Lampe auf dem Pfad zur Erleuchtung“ und Nagarjunas „Brief an einen Freund“. 

Außerdem behandeln die insgesamt 23 Kapitel die Fragen, wie man bodhichitta (Erleuchtungsgeist) entwickelt und welche Qualitäten man danach trainieren sollte, darunter Freigebigkeit, Geduld und freudige Ausdauer. Grundlegend für all das sind großes Mitgefühl und Weisheit: „Mitgefühl richtet sich auf die Lebewesen. Weisheit richtet sich auf die Erleuchtung – beide müssen gemeinsam entstehen.“ 

Allerdings lässt sich bei der Lektüre nicht immer klar erkennen, wo der moderne Tenzin Gyatso selbst spricht und wo die Autoren der historischen Quellen. Wer nicht tiefgehend mit der Gedankenwelt des tibetischen Buddhismus vertraut ist, könnte die ausführlichen Betrachtungen über Hungergeister sowie kalte und heiße Höllen aus der Feder des Dalai Lama befremdlich finden. Doch fehlt es in diesem Buch auch nicht an humorvollen Ratschlägen – wie dem, dass man es mit dem Meditieren anfangs nicht übertreiben solle: „Andernfalls kann es passieren, dass einem beim bloßen Anblick des Meditationskissens schon schlecht wird.“ 

Besonders hervorzuheben ist die beeindruckende Übersetzungsleistung aus dem Tibetischen von Rebecca Hufen und Jürgen Manshardt. „Die Stufen des Pfades zum Erwachen“ des 14. Dalai Lama ist ein anspruchsvolles Studienbuch für Anhängerinnen und Anhänger des tibetischen Buddhismus – zur entspannten Nachttischlektüre eignet es sich kaum. 

Michael Schornstheimer