Günter Eich

Die andere und ich

Heft: 04 | 2025 Heilung
Verlag:Süddeutscher Rundfunk
Jahr:1952
Hörspiel
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Rezension

Das haben viele Menschen schon einmal erlebt: Unvorbereitet trifft sie der Blick einer anderen Person, geht ihnen durch und durch und sie fühlen sich zutiefst gemeint. Eine solche Begegnung des Blicks ist der Ausgangspunkt von Günter Eichs Hörspiel „Die andere und ich“ aus dem Jahr 1952. Die wohlhabende US-Amerikanerin Ellen ist mit ihrem Ehemann

und ihren beiden Kindern im Auto unterwegs auf dem Weg von Venedig nach Florenz. Es ist drückend heiß und sie möchte gern im Meer baden. Auf dem Weg dorthin kommt die Familie durch eine arme Lagunengegend. Es riecht faulig, die Landschaft wirkt unfruchtbar und trostlos. Als sie ein Städtchen umfahren, sieht Ellen in einiger Entfernung eine alte Frau, die sie anschaut. Es ist solch ein Blick. Die Familie fährt weiter, und bald schon schwimmt sie im Meer und genießt die Erfrischung. Da fällt Ellen die alte Frau wieder ein. Ihr ist, als hätte sie etwas versäumt; sie hätte wenigstens mit ihr sprechen sollen. Allein macht sie sich auf und geht von dem Badeort zurück …

Günter Eich hat meines Wissens nichts mit dem Buddhismus zu tun gehabt, aber dieses Hörspiel habe ich als zutiefst buddhistisch erlebt. Es hebt die Trennung zwischen mir und den anderen auf eine geradezu verstörende Weise auf – und das über eine kulturelle und Klassengrenze hinweg. Günter Eich legt hier etwas frei, was zum Grund unserer Existenz gehört und wogegen wir uns für gewöhnlich unwillkürlich mit aller Macht wehren: Wir sind die anderen. Wir sind nicht von ihnen getrennt. Und auch dieser Widerstand spielt in dem Hörspiel eine wichtige Rolle. Man kann, verharrt man darin, an seinem Leben vorbeileben.

Das Hörspiel ist eins jener klassischen: wenige Geräusche, die an den Ort des Geschehens tragen, ein wenig Musik – sonst nur die Stimmen.

Carl Polónyi