Achtsamkeit
Der Boom, Hintergründe, Perspektiven, Praktiken
Heft: | | 2023 Umgang mit Sexualität |
Verlag: | Vandenhoeck & Ruprecht Verlag |
Ort: | Göttingen |
Jahr: | 2022 |
ISBN: | 978-3-525-45920-1 |
Preis: | 25 € |
Seiten: | 176 |
Kartoniert | |
Rezension
Als ich in den 1980er-Jahren mit Zen-Meditation begann, war von Achtsamkeit so gut wie nie die Rede; auch in der breiteren buddhistischen Szene hatte sie keine prominente Bedeutung. Das erscheint heute kaum noch vorstellbar, wo Achtsamkeit weit über spirituelle Kreise hinaus als Heilmittel für alle möglichen, als individuell angesehenen Probleme verstanden und gehandelt wird. Wie ist ein solcher Boom möglich? In ihrem neuen Buch beleuchtet die promovierte Religionswissenschaftlerin und Philosophin Ursula Baatz, die auch als Achtsamkeits- und Zen-Lehrerin tätig ist, die Herauslösung der Achtsamkeit und Achtsamkeitspraxis aus ihrem ursprünglichen Kontext und ihre Überführung in den Mainstream der Gesellschaft. Dieser Prozess beruht auf historisch-kulturellen Voraussetzungen, die sie in ihrem Buch beleuchtet. Zum einen ist da die Modernisierung des Buddhismus als Antwort auf den westlichen Kolonialismus in Südostasien. Dadurch bekam die Meditation als Praxis für Laien Gewicht und es bildeten sich Formen eines engagierten Buddhismus heraus. Als eine mit den Naturwissenschaften kompatible Religion rückte der Buddhismus zudem ins gesellschaftliche Bewusstsein und wurde zunächst für westliche Intellektuelle attraktiv.
Diese Seite ist auch in anderen Büchern bereits beschrieben worden. Aber es gibt noch eine zweite, nicht minder wichtige Voraussetzung: Im Rahmen der Industrialisierung in den westlichen Ländern ist individuelle Leistung und Leistungssteigerung zu einem zentralen ökonomischen Faktor geworden. Dadurch kam der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen eine wichtige Bedeutung zu, und die Verbesserung der Aufmerksamkeit rückte in den Fokus. Gleichzeitig nahmen Überforderung und Stress zu und damit auch die Notwendigkeit, sich zu entspannen. Und hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel als eine in der östlichen Traditi- on wohlerprobte Methode auch der Schulung von Aufmerksamkeit, die zudem Momente von Ruhe, Stille und Entspannung beinhaltet. Dieses historisch-kulturelle Zusammenwirken hat dem Boom der Achtsamkeit eine Schubkraft gegeben, die bis heute andauert.
Ursula Baatz gelingt es, diese komplexen Prozesse ebenso wie deren Resultate klar, tiefgründig und doch gut verständlich zu beschreiben. Achtsamkeit ist heute kein einheitliches Konzept, von daher spricht die Autorin auch gelegentlich im Plural von Achtsamkeiten. Der Begriff deckt meditative Übungspraktiken ab, die „einander ähnlich sind, aber die in unterschiedlichen Kontexten lokalisiert sind und mit jeweils unterschiedlichem impliziten Hintergrundwissen und impliziten Motivationen.“ All diese Aspekte werden von der Autorin hervorragend und umfassend ausgeleuchtet. Wie der Psychologe und Achtsamkeitsforscher Stefan Schmidt vom Universitätsklinikum der Universität Freiburg über das Buch schreibt, „sticht es durch seine sorgfältigen Kontextualisierungen aus der Vielzahl von Veröffentlichungen heraus“.