Tiere sind fühlende Wesen wie wir
Seit 2010 machen Gruppen des „Save Movement“ weltweit auf das Leiden von Tieren für die Produkte der Nahrungsmittelindustrie sichtbar. Die Aktivistinnen und Aktivisten gehen regelmäßig vor Schlachthäuser und auf Tiermärkte, um dort Mahnwachen abzuhalten. Auch Buddhistinnen und Buddhisten beteiligen sich an den Aktionen.
Über 200 Gruppen der Save-Bewegung gibt es mittlerweile weltweit, mehrere auch in Deutschland. Wenn Tiertransporter vor dem Tor des Schlachthauses oder an einer Kreuzung warten müssen, nutzen sie die Gelegenheit, um zu den eingesperrten Tieren Kontakt aufzunehmen, ihnen Wasser zu geben und das Gesehene zu dokumentieren.
Am 22. Juni nahm auch die Dharmalehrerin Annabelle Zinser an einer solchen Aktion teil. Die Aktion fand vor dem Schlachthof Perleberg im brandenburgischen Landkreis Prignitz statt. „Es würde darum gehen, uns von den Tieren zu verabschieden, die in großen Tiertransportern angefahren und dann geschlachtet würden“, erklärt Annabelle Zinser. „Ich hatte von einer Freundin aus unserer Freiburger Sangha gehört, die dort an einer ähnlichen Aktion teilgenommen hatte. Hier in Perleberg waren wir eine Gruppe von rund 200 Menschen. Schon auf der Reise von Berlin dorthin hatte ich viele schöne Begegnungen mit den meist jungen Menschen, die aus allen möglichen Ländern angereist waren. Ich sprach mit Menschen aus Argentinien, Schweden, Norwegen, Griechenland, Spanien, Rumänien, Frankreich, Ukraine – es war ganz international.“
Mit Mr. Bean vor dem Tiertransporter
Die Save-Aktionen begannen, als im kanadischen Toronto im Jahr 2010 Anita Krajnc mit ihrem Hund Mr. Bean spazierenging und sich plötzlich neben mehreren Schweinetransportern auf dem Weg zum Schlachthaus wiederfand. Als sie die traurigen und verängstigten Gesichter der jungen Tiere sah, wurde ihr klar, dass die Schweine genauso gern leben wollten wie ihr Hund, den sie liebte. Anita Krajnc startete die Aktion „Pig Save“ und ihre Idee verbreitete sich rasch weltweit. In Deutschland fand die erste Mahnwache im September 2017 in Wittlich statt. Noch in demselben Jahr folgten Aktionen in Viersen bei Düsseldorf, in Königs-Wusterhausen bei Berlin und in Bremen.
Der Protest von Save-Aktivistinnen und -Aktivisten bleibt stets friedlich und legal. Tierbefreiungen finden nicht statt, ebensowenig werden die Fahrerinnen und Fahrer der Transporter oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schlachthäuser aggressiv angegangen, sondern der Umgang bleibt höflich und respektvoll. Es geht darum, den Tieren in ihren letzten Lebensmomenten Beistand zu leisten und Zeugenschaft abzulegen dafür, dass Lebewesen mitten in dieser Gesellschaft in den Tod geschickt werden und welches Unrecht ihnen dabei widerfährt. Darum gehört zu den Aktionen auch immer die Veröffentlichung von Fotos und Videos im Internet.
Füttern und Tränken verboten
„Wir trafen uns in Perleberg auf einer Waldlichtung gegenüber von dem Schlachthofeingang, wo schon die Polizei stand“, berichtet Annabelle Zinser. „Dort erhielten wir eine Einführung in die Richtlinien für die Aktion, die ja in Absprache mit den Behörden stattfand. Die Lastwagenfahrer wurden von einer Aktivistin freundlich informiert, sodass sie wussten, worum es ging. Sie und auch die Mitarbeiter des Schlachthofes sollten von niemandem beschimpft oder angegriffen werden. Die Polizei würde die Transporter für zwei Minuten stoppen. Unsere Gruppe durfte dann zu den Tieren gehen, um uns von ihnen zu verabschieden. Wir durften nicht in die Wagen fassen und ihnen kein Wasser oder Nahrung geben, so war die Auflage.“
Tiere, die zur Schlachtung vorgesehen sind, bekommen einen Tag vor dem Transport nichts zu essen und zu trinken, selbst im Hochsommer. Im Winter sind die Tiere oft stark unterkühlt und erleiden Erfrierungen. Menschen, die an Save-Aktionen teilnehmen, kommen also mit großem Leiden in Berührung. Sie werden mit Angst und Verwirrung konfrontiert, sehen die Wunden und Blutergüsse auf den Körpern der verzweifelten Tiere – und können doch daran unmittelbar nichts verändern. Das belastet sehr. Dennoch möchten sie mit ihren Aktionen ein Zeichen des Mitgefühls setzen. Dies verstehen sie als ersten in Richtung einer gewaltfreien Gesellschaft, die auf die Nutzung von Tieren verzichtet.
„Die Veranstalterinnen und Veranstalter vom Save Movement betonten sehr, dass es um ein Abschiednehmen und die Liebe zu den Tieren geht und die Aktion absolut friedvoll sei. Sie baten uns auch zurückzutreten, wenn wir vom Schmerz überwältigt würden, damit die Tiere nicht noch mehr Leiden und Schmerzen ertragen mussten. Wenn jemand weinte, gab es immer andere, die Trost und Umarmungen spendeten. Ein junger Mann sprach uns die Richtlinien vor, und wir wiederholten sie alle im Chor.“
„Viele von uns weinten“
Annabelle Zinser gehörte gleich zur ersten Gruppe, die an den Tiertransporter herantreten konnte. „Es war für mich ein sehr berührender Moment, die Tiere zu sehen. Einige hatten Striemen am Körper, zum Teil standen sie in Exkrementen. Ich schaute einem Schwein in die Augen und flüsterte ihm zu: ‚Ich liebe dich. Ich liebe euch alle.‘ Viele von uns weinten, viele umarmten sich. In den Pausen zwischen dem Eintreffen der Transporter sangen wir Lieder aus der Animal Liberation Bewegung. Ein junger Mann aus Schottland mit einer Gitarre leitete sie an. Auch unsere Plakate hielten wir hoch. Ich hatte am Abend vorher eines selbst mit den Worten beschrieben: ‚Tiere sind fühlende Wesen wie wir‘.
Halt in der Dharmapraxis
Die Aktion in Perleberg dauerte von 9 Uhr bis 14 Uhr, dann kam die Heimreise nach Berlin. „Auf der Rückfahrt im Zug war ich froh, meinen Geist ganz auf die schöne Landschaft mit den gelben Weizenfeldern und grünen Hecken und Wäldern ausrichten zu können“, erzählt die Dharmalehrerin in der Tradition Thich Nhat Hanhs, der von seinen Schülerinnen und Schülern auch „Thay“ genannt wird. „Ich dachte daran, wie Thay immer wieder erzählte, dass der Buddha sich an den schönen Feldern erfreuen konnte und zu Ananda sagte: ‚Erfreue dich an diesen schönen goldenen Weizenfeldern‘. In der Dharmapraxis habe sie während der Aktion Halt gefunden, betont sie. „Für mich war es ein großer Segen: achtsam zu sein, immer wieder die Festigkeit des Bodens unter mir zu spüren, meiner Atembewegung zu folgen, mir meiner Gefühle bewusst zu sein und die schwierigen Gefühle zu umarmen – auch ganz konkret in der Realität einer weinenden Frau, der ich Trost zu geben versuchte.“
Nach der Aktion fanden in Berlin noch zwei englischsprachige Workshops für die vielen angereisten Menschen statt, in denen sie lernen konnten, wie sie sich in ihrer Umgebung für eine tierleidfreie Lebensweise und für Save-Aktionen einsetzen können. Annabelle Zinser griff das Thema schon am Abend in ihrem Zentrum „Quelle des Mitgefühls“ wieder auf. „Ich erzählte den Menschen dort von der Aktion. Dann leitete ich sie zu einer Meditation an, in der es darum ging, mit den Schönheiten des Lebens, mit dem Leiden der Tiere und unserem eigenen Leiden in Kontakt zu sein.“
„Wenn das Leid eines anderen Lebewesens dich schmerzt, folge nicht deinem ersten Impuls, vor dem Leidenden zu fliehen. Im Gegenteil, komm näher, komm so nahe wie möglich an den Leidenden heran und versuche, ihm zu helfen.“ (Leo Tolstoi)
Quellen und weitere Informationen
„Unrecht sichtbar machen – The Save Movement“, Artikel vom 9. März 2018 auf den Webseiten der Albert Schweitzer Stiftung
Videos von der Aktion in Perleberg bei Facebook
Webseite von Save Movement. Jede/r kann mitmachen oder eine Save-Gruppe gründen. Die Seite thesavemovement.org versammelt eine Übersicht über alle Gruppen und bietet Rat für eigene Aktionen an.
Susanne Billig
Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.
Annabelle Zinser
Annabelle Zinser ist Dharmalehrerin in der Tradition von Ruth Denison und von Thich Nhat Hanh. Sie leitet das Meditationszentrum „Quelle des Mitgefühls“ in Berlin und ist Mitglied des Kuratoriums der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg.