Tagebuch der Stille
Dieses Tagebuch gibt Einblick in die Erfahrungen, Beweggründe, Anliegen, Sehnsüchte und Erkenntnisse einer Meditierenden, die – wie viele heute Praktizierende – keiner bestimmten spirituellen Tradition oder Religion angehört. Beginnend mit einer Auszeit in der Stille einer weiten Landschaft fährt die Autorin auch nach der Rückkehr in die Stadt fort, es zu schreiben, und fragt nach dem Hineinwachsen der meditativen Erfahrung und Grundhaltung in das Erleben und die Wahrnehmung des Alltäglichen auf all den verschiedenen Ebenen, auf denen sich Menschen von heute bewegen und herausgefordert sind.
Hof der Stille, den 3. August 2010
Die Stille. Wie kann man süchtig werden nach Stille? Einer Stille, die jedes Geräusch einfasst, sodass der alltäglichste Lärm zum Schmuckstück wird: Das hölzerne Pochen beim Zurückstellen meiner Tasse auf den Tisch. Das Klappern von Geschirr in der wenige Schritte entfernten Küche. Eine Tür, die zuschlägt. Ein Wagen, der vorbeifährt und dessen Motorengeräusch endlos lange verklingt. Schritte vorm Hoftor. Stimmen, die sich im Dorf zurufen. Der Wind in den Bäumen. Der Schrei eines Raubvogels.
Sitzen in Stille am Morgen. Durch das geöffnete Fenster gleitet der Blick in die Krone der Ulme und weiter bis zur Mauer des Nachbargartens, von Knöterich überwuchert. Bei diesem absichtslosen Schauen, wo der Blick sich ins Unbestimmte weitet und nicht festhält an einzelnen Formen, zeigen sich mir in diesem weißen Blütenschaum rasch wechselnde Fabelwesen, die mich verführen wollen in ihre Märchen, welche sich, einmal angefangen, wie von selbst endlos weiterspinnen würden: Der Höllenhund mit den Feueraugen, die Mume mit der weißen Haube, das winzige Kind mit dem alten Gesicht …
Stopp! Das schnell klopfende Herz, der langsame Atem, innen und außen weiten sich zu einem einzigen hellen Vibrieren. Alles i s t – einfach so, ohne mich, in mir, von einer Leichtigkeit, in der alles Schwere aufgehoben ist. Ein Windstoß fährt durch die Krone des Baumes, durch meine Kehle, mein Herz, meine Augen.
Wer schaut? Lautet eine der Fragen, auf die ich meditiere.
Niemand! Lautet die Antwort in diesem Augenblick.
Hof der Stille, den 11. August
Sitzen in Stille am Morgen. Nichts besonderes geschieht. Regen tröpfelt spärlich aufs Dach. Ein wenig Betrübnis ohne Inhalt. Ein leichter Druck auf dem Herzen. Mit kurz aufflackernder Angst an R. B. gedacht, den Freund der Schwester, der vor wenigen Tagen kerngesund mit der Sense in der Hand auf der Wiese hinter seinem Haus tot umfiel. Eine leise Zufriedenheit, dies täglich zu tun oder, besser gesagt, jeden Tag für diese Zeit am Morgen innezuhalten im Tun und Einkehr zu halten in der Stille.
Hof der Stille, den 20. August
Der Knöterich auf der Mauer zum Nachbargrundstück, auf dem meine Augen beim Sitzen in Stille jetzt seit fast drei Wochen jeden Morgen ruhen, ist heute nichts als Knöterich. Vögel gleiten durch mein Blickfeld, lassen sich in verspielten Stürzen aus dem Wipfel des Baumes auf niedrigere Äste fallen, fliegen davon. Meine Augen folgen ihnen nicht. Das, was in mir schaut, scheint heute im Raum zwischen den äußeren Formen, im Raum zwischen den Gedanken, Gefühlen, inneren Bildern zu verweilen. Dieser Raum ist leer, zeit- und grenzenlos und ohne jeden Eigengeschmack. Hier bin ich innen und außen zugleich. Präziser wäre es zu sagen: Es gibt hier kein Innen, kein Außen, kein Ich, das alles ist eins.
„Was Leerheit ist Form, was Form ist Leerheit“, heißt es im Herz-Sutra, einer Heiligen Schrift des Buddhismus. Meinen die Worte diesen Raum?
Hier zu verweilen, wo außen innen innen außen ist, ist nüchterne Seligkeit. Ist so wirklich, wie nur etwas wirklich sein kann. Entbehrt aller Worte und ist jedes Wort. Ist kein Gedanke, kein Gefühl, kein Traum, keine Einbildung, keine Phantasie und in alledem. Ist schlichtes Entzücken ohne jeden inneren Widerhall. Unendlich still und jeder Klang.
Hof der Stille, den 26. August
Ich glaube, ich könnte doch süchtig werden nach der Stille hier draußen, der windverwöhnten. Nach dem großen Himmel, dem Schrei von Raubvogel, Kranich, Wildgans und Käuzchen, dem Fluss mit den hell glänzenden Spiegelungen der Nachmittagssonne, die sich gestern tausendfach in den Rippelwellen brach, welche der Wind aufwarf.
„Dass ich dies leben kann, diese relative Leichtigkeit des Seins, diese von äußerer Not freie innere Suche, verdanke ich den unendlich vielen, die vor und mit mir nicht nur durch Seligkeiten, sondern alle Höllen gegangen sind, die Menschen sich auf Erden schaffen können.“
Diesen Satz habe ich heute Morgen nach dem Sitzen aufgeschrieben. In manchen Augenblicken ist mir, was ich da aufschrieb, so stark bewusst, dass ich mich vor „den unendlich vielen vor und mit mir“ dankbar verneige.
Berlin, den 3. September
Sitzen in Stille am Morgen. Ein leiser Aufruhr, weil – zurück in der Stadt – alles so anders ist.
Sitzen in Stille – Wer schaut? Vor dem Fenster verblasste Hortensienblüten, das gleichmäßige Dröhnen der Stadtautobahn. Ein Hubschrauber knattert so nahe vorbei, dass die Bäume im Garten rauschen. Das Altvertraute ist so anders geworden, dass ich lächeln muss. Die Gedanken wollen ordnen, klären, planen, was alles zu tun ist heute, an meinem ersten Arbeitstag. Stopp!
Sitzen in Stille, das Vibrieren der Stadt in den Blutbahnen spüren, diese Verdichtung unzähliger lebendiger, kreativer, freudiger, müder, widerspenstiger, träger, begeisterter, aggressiver, gleichgültiger Kräfte auf engstem Raum, die dazu beitragen, dass dieser eine Tag in der Großstadt Berlin Gestalt annimmt und die grundlegenden Lebensbedürfnisse wie die exzentrischen Gelüste von Millionen von Menschen befriedigt werden.
Mich verneigen vor dem Augenblick, aufstehen, die Kerze löschen, das Fenster zum Garten schließen und fortfahren mit meinem Alltag, der ebenso begonnen hat, wie in den letzten vier Wochen jeder Tag auf dem Hof der Stille begann.
Berlin, den 15. Oktober
Auch wenn ich grundsätzlich der Meinung bin, dass die eigentliche Bewährungsprobe für das Meditieren der Alltag ist, und diesen als Ernstfall und jenes als Übungsfeld betrachte, stimmt das nur bedingt. Das stille Sitzen ist auch als solches ein „Ernstfall“.
Im besten Falle sind wir Meditierenden der E i n atem im ständigen A u s atem der Welt – kleine Inseln rebellischen stillen Innehaltens im rasenden, lärmenden menschlichen Getriebe auf diesem Planeten. Im besten Falle sind wir über diesen Erdball verstreute Funkstationen, die über die Satellitenbahnen der Herzensverbindungen Botschaften in Umlauf bringen. Und inzwischen lassen sich die Inhalte dieser Botschaften wie Dankbarkeit, Verbundenheit, Umsicht, Achtsamkeit, die Steuerung von Emotionen und weitere praktische Nutzwerte für ein lebenswertes Leben auf dieser Erde sogar mit wissenschaftlichen Messinstrumenten erfassen. (1)
Möglicherweise funktioniert dieser Einfluss wie Rupert Sheldrakes „morphogenetische Felder“, die bewirken, dass sich das Lernen auf der einen Hälfte der Erdkugel auf der anderen, von dieser abgewandten, fortsetzt, ohne dass die Kunde davon auf sichtbaren Wegen dort hingelangt wäre. (2)
„Produktivität ist ein zu enger Maßstab für Nützlichkeit“, schreibt der wunderbare Mensch, jungianische Psychoanalytiker und Philosoph James Hillman. Eine alte Frau tut vielleicht nichts anderes, als wie ein Stein auf dem Grunde eines Flusses „still zu sein und auf dem Boden zu bleiben, aber der Fluss muss sie berücksichtigen und anders fließen, weil sie da ist.“ (3)
Ich m ö c h t e, dass es so ist! Ich möchte von ganzem Herzen, dass die Botschaft dieser wenigen Minuten am Morgen in meinem Leben und dem Leben anderer Menschen um sich greift wie ein Lauffeuer! Ich möchte es, weil ich mir selbst nicht genüge und nicht genügen will.
Anmerkungen:
- Siehe zum Beispiel: Tania Singer, Matthias Bolz: Mitgefühl. In Alltag und Forschung, Kostenloses E-Book zum herunterladen unter www.compassion-training.org
- Rupert Sheldrake: Das schöpferische Universum. Die Theorie des morphogenetischen Feldes, Ullstein-Verlag 2008.
- James Hillman: Vom Sinn des langen Lebens. Wir werden, was wir sind, Kösel Verlag 2001, S. 54.
Karin Petersen
Karin Petersen lebt als Autorin, Übersetzerin (unter anderem der drei letzten auf Deutsch erschienenen Bücher von Ken Wilber) und Dozentin für kreatives Schreiben und Achtsamkeit in Berlin. In ihrem 2013 erschienenen Roman „Der Fluss, die Berge – die Berge, der Fluss“, erschienen im Berliner Transit-Verlag, macht die Ich-Erzählerin sich angesichts des Sterbens ihrer Eltern ein neues Bild von ihnen als junge Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Ihr aktuelles Buchprojekt trägt den Arbeitstitel: „Tagebuch der Stille. Vom alltäglichen Leben mit Meditation.“