Jenseits der Katastrophe – Wie wir durch die Pandemie bessere Menschen werden können
Mir geht’s gut, solange ich nicht genauer hinsehe
Mir geht’s gut, solange ich nicht über den Tellerrand schaueThe Indigo-Girls, Perfect World
Die buddhistische Philosophie macht keine direkten Aussagen über Virologie, öffentliche Gesundheit oder die Behandlung von Atemwegserkrankungen. Sie kann uns aber aufzeigen, wie wir von einer Pandemie lernen können, wie wir in einer Pandemie andere am besten unterstützen können und wie wir Einsicht und moralische Sensibilität entwickeln können, indem wir über die Pandemie und unseren Platz in der Welt, in der sich diese Pandemie entfaltet, nachdenken.
Die erste der vier edlen Wahrheiten, die Allgegenwart des Leidens, ist die Grundlage allen buddhistischen Denkens und Handelns. Anfangs halten viele Menschen den Buddhismus für pessimistisch oder meinen, dass er das Gute und die Schönheit in der Welt verleugnet. Das liegt daran, dass wir unter Leiden oft nur unseren eigenen aktuellen Schmerz oder unsere eigene Not verstehen, also das Leiden, dessen wir uns unmittelbar bewusst sind. Das ist aber eine sehr eingeschränkte Sichtweise dessen, was es heißt zu leiden. Die Reflexion über die Pandemie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die tieferen Dimensionen des Leidens, welches in unserem Leben allgegenwärtig ist.
Wir leiden, weil andere leiden, und wir tun dies entweder, weil wir ihr Leiden erkennen und davon betroffen sind, oder weil wir uns bewusst werden, dass wir das Leiden anderer nicht erkennen und uns nicht davon berühren lassen. Wir erkennen, dass wir absichtlich oder unabsichtlich wegschauen und leiden dann darunter, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Die Aufmerksamkeit für das große Leid, das durch die Pandemie verursacht wird, kann uns inspirieren, diese Einsicht jetzt und nach der Pandemie in unseren Herzen zu behalten.
Wir leiden auch, weil selbst das Glück, das wir genießen, vergänglich ist. Die Gesundheit und der Wohlstand, die wir in einem Augenblick genießen, können uns im nächsten Moment wieder genommen werden. Unser Leben selbst ist vergänglich und kann vorzeitig enden. Diese Vergänglichkeit ist unvermeidlich und das wird durch die Pandemie überdeutlich.
Wir leiden außerdem, weil wir unser Leben und unser Schicksal nicht selbst in der Hand haben; wir können nicht „unabhängig“ sein, auch wenn wir das gerne möchten. Wir leben unser Leben in Abhängigkeit von unzähligen Ursachen und Bedingungen, und Veränderungen derselben können unser Leben jederzeit verändern oder beenden. Die meisten dieser Ursachen und Bedingungen entziehen sich unserer Kontrolle. Die Pandemie macht diesen Mangel an Kontrolle deutlich.
Alle diese Formen des Leidens sind im Leben von jeder und jedem von uns präsent. Manche Menschen haben das Glück, dass dieses allgegenwärtige Leiden in ihrem Leben nicht besonders ausgeprägt ist. Dieses Glück ist ein Segen und ein Fluch. Wir fühlen uns glücklich, aber nur um den Preis, dass wir den Kontakt mit dem Wesen unserer Existenz und mit denen, die uns nahestehen, verlieren. Die Pandemie zwingt uns, uns dieser schwierigen Realität zu stellen und es wäre klug, an dieser Einsicht auch nach dem Ende der Pandemie festzuhalten.
Die buddhistische Philosophie betont die Unbeständigkeit aller Dinge sowie die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge. Auch wenn es bei genauerem Nachdenken offensichtlich erscheint, dass alle Dinge, einschließlich unseres Lebens, vergänglich sind und dass alle Phänomene im Universum kausal voneinander abhängig sind, ist es leicht, diese Tatsachen im Alltag aus den Augen zu verlieren und so zu leben, als ob wir unsterblich wären und als ob Gesundheit und Vergnügen dauerhaft wären.
Und auch hier lenkt die Pandemie wieder unsere Aufmerksamkeit auf diese Tatsachen. Die Zukunftshoffnungen, die Gesundheit und der Wohlstand, die für viele von uns vor einigen Wochen noch selbstverständlich waren, gehen verloren. Unser eigenes Leben wird unvermeidlich durch das Schicksal anderer verändert. Wir können nicht so tun, als sei Gesundheit und Glück normal, solange die Pandemie nicht vorbei ist, nicht nur in unserer eigenen Nachbarschaft, sondern überall auf der Welt. Unbeständigkeit und Interdependenz sind keine bloßen Binsenweisheiten, sondern tiefe, existenzielle Wahrheiten. Wahrheiten, die wir in unseren Herzen bewahren müssen, auch wenn diese Zeit vorüber ist.
An diesen Einsichten festzuhalten, bedeutet nicht, sich dem Pessimismus oder der Depression zu überlassen. Es bedeutet, unsere Herzen für die Menschen um uns herum zu öffnen, zu erkennen, dass alle an dieser Erfahrung des Leidens teilhaben. Es bedeutet, anderen mit Freundschaft und Fürsorge zu begegnen, ganz gleich, wer sie sind, und es bedeutet, Charaktereigenschaften zu kultivieren, die es uns ermöglichen, das Leid anderer und unser eigenes Leid zu verringern. Shantideva, ein buddhistische Philosoph des 9. Jahrhunderts, erinnert uns weise daran, dass wir, auch wenn die Welt mit Steinen und Dornen bedeckt ist, nicht alles mit Leder bedecken müssen; wir können ein Paar Sandalen anziehen, um uns zu schützen. Indem wir unseren eigenen Geist, unsere Einstellungen und unser Verhalten verändern, können wir dazu beitragen, das Leiden zu verringern, anstatt selbst Teil des Problems zu sein.
Aber was sollen wir tun? Wie könnten wir diese traurige Situation nutzen, um uns zu verändern? Eine Methode besteht darin, das zu kultivieren, was in der buddhistischen Ethik die „sechs Vollkommenheiten“ genannt wird. Dabei handelt es sich um Charaktereigenschaften oder Geistesgewohnheiten, die uns selbst und anderen zugutekommen. Diese versetzen uns in die Lage, moralisch zu handeln und offener und vernünftiger auf unsere Mitmenschen zu reagieren.
Wir beginnen mit Großzügigkeit. Es ist an der Zeit, den Menschen um uns herum materielle, emotionale und soziale Hilfe zu leisten. Indem wir Familien, Nachbarn, Gemeinden und Institutionen helfen, die sich in Not befinden, lindern wir das Leid um uns herum und bestätigen unsere Teilhabe in diesen Netzwerken, die unser eigenes Leben und das Leben anderer bestimmen. Wir können gewissenhaft Achtsamkeitfür die Bedürfnisse anderer, für unsere eigenen Reaktionen auf diese Bedürfnisse und für unsere eigenen emotionalen Zustände und unsere Absichten kultivieren. Zustände und Absichten, die entweder zum Leiden beitragen oder es lindern können. Wir können uns auf unser besseres Selbst besinnen. Indem wir uns daran erinnern, wer wir sind und wer wir werden wollen und indem wir ein offenes Bewusstsein für die Situation um uns herum entwickeln, erlauben wir uns, handlungsfähiger und weniger reaktiv zu werden, und zwar zum Nutzen aller und nicht zum Schaden.
Indem wir Geduld kultivieren, verringern wir unsere Neigung zu Wut oder Verzweiflung und ermöglichen es uns, ruhig zu arbeiten und wirkungsvoll auf die Bedürfnisse um uns herum einzugehen. Das verringert einerseits unser eigenes Leiden und macht uns andererseits zu wirksameren Akteuren zum Wohle anderer. Und indem wir eine Entschlossenheit entwickeln, die ernsthafte Bemühungen ermöglicht, stellen wir sicher, dass wir weder die Hoffnung noch den Mut verlieren.
Buddhistische Ethiker erinnern uns auch daran, dass es wichtig ist, sich Zeit zur Ruhe und Kontemplation zu nehmen. Wir brauchen keine disziplinierte Meditationspraxis, aber jeder von uns braucht Zeit am Tag, um nachzudenken, unsere Gedanken zu sammeln, unsere Entschlossenheit zu bekräftigen und uns daran zu erinnern, wer wir sind und wozu wir uns verpflichtet haben. Dies wiederum erlaubt uns, die Weisheit zu entwickeln, für uns selbst und für andere hilfreich zu sein.
Die Entwicklung von Großzügigkeit, Achtsamkeit, Geduld, Entschlossenheit, Ruhe und Weisheit ermöglicht persönliches Wachstum und hilft uns gleichzeitig, mit der Pandemie fertig zu werden. Sie befähigt uns, bessere Freunde füreinander zu werden, füreinander zu sorgen, die Interessen anderer als unsere eigenen zu betrachten und auch über ihr Glück Glück zu erfahren. Das wiederum befähigt uns, an der Überwindung des Leidens zu arbeiten und das Glück in der Welt zu fördern. Eine Pandemie ist eine schreckliche Sache, aber wenn wir weise damit umgehen, können wir sie nutzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Wir werden eine Welle im Wasser sein
Wir werden ein Stein sein, der geworfen wirdThe Indigo Girls, Perfect World
Jay L. Garfield
ist Gastprofessor für buddhistische Philosophie an der Harvard Divinity School, Direktor des Programms für Logik und buddhistische Studien am Smith College und Autor von „Engaging Buddhism: Why it Matters to Philosophy“.