ESSAY: Trump, Putin, Erdogan, Orban – Was hilft in Zeiten der Krise?

Ein Beitrag von Sylvia Wetzel veröffentlicht in der Ausgabe 2017/1 Vertrauen unter der Rubrik Krisen als Chance.
Demonstrationsplakat „Krise“ | © Neil Cummings

Was hilft in Zeiten des Umbruchs, wenn vertraute Hoffnungen, Ansichten und Meinungen erschüttert werden? Großzügigkeit, Ethik, Geduld, Ausdauer, auch Humor können uns die Last der Überforderung durch die postmoderne Unsicherheit erleichtern, sagt Sylvia Wetzel in ihrem Essay. Auf verschiedene Weise sorgen sie für jene Distanz, die wir brauchen, um nicht in unüberprüften Ansichten und aufgewühlten Emotionen zu versinken, sondern das Beste aus einer Situation zu machen. Doch was ist das Beste? In der buddhistischen Übung helfen der Dharma-Lehrerin in diesen Tagen vor allem zweierlei: Achtsamkeit und die fünf Bodhisattva-Gelübde.

Ein Alptraum…

 Es ist wie es ist. Manchmal kann ich nur hinzufügen: leider. „Möge es sein, wie es ist“ – das ist harter Dharma-Tobak, aber eine solche Haltung hilft vielleicht, nicht unter der Last der Ent-Täuschung über das, was geschieht, zusammenzubrechen.

Was hilft? Was hilft mir an Tagen wie diesen? Sicherlich nicht Unendlichkeit, sondern die Hoffnung auf schnellen Wandel. Ich will aus dem Alptraum aufwachen, denn ich muss wohl träumen: Trump, Putin, Erdogan, Orban, Duterte in den Philippinen, China und so viele Länder mehr. Was ist aus der Zuversicht der 1970er Jahre, aus dem Fall der Mauer, dem Zeichen der Hoffnung namens Obama, dem Einsatz für Inklusion aller in die Vision einer freieren und gerechteren Welt geworden? Ein Alptraum aus wütenden Menschen, vor allem Männern, die sich zurücksehnen in die scheinbar heile Welt der Stammesgemeinschaft, heute auch Nation genannt, mit gemeinsamen Werten, starken mutigen Männern und liebevoll dienenden Weibchen mit braven Kindern.

“God bless America and all failing states“, „ Heilige Maria, Mutter Gottes, beschütze uns vor dem wütenden Mob und vor verunsicherten Menschen. Und führe uns nicht in Versuchung, gleiches mit gleichem zu vergelten“. Beten hilft. Auch solche Gebete. Manchmal.

Trump-Plakat am nächtlichen Straßenrand | © Tony Webster

Achtsamkeit

 Bemerken, was geschieht. Ich bemerke: Ärger, Wut, Ohnmacht, Unruhe, Aufregung, Hilflosigkeit. Ich spüre sie im Körper und sie aktivieren Überlebenstriebe: Angriff, Flucht, Totstellen, Augen zu und nichts wie weg. Und sie aktivieren starke Abneigungen und Vorlieben: Trump ist verabscheuungswürdig, alle Amerikaner sind dumm, ebenso die vielen wütenden vormodernen Männer (und Frauen). Ich will, dass wir alle lieb und nett zueinander sind. Jetzt sofort. Auch wenn ich nicht weiß, wie das gehen soll.

Viele Gedanken tauchen auf. Einige verstärken und rationalisieren meine Überlebensängste, meine Vorlieben und Abneigungen. Und ich bemerke eine Haltung: alle unangenehmen Gefühle möglichst schnell wegmeditieren zu wollen. Wozu meditiere ich denn sonst? Soll Meditation denn nicht beruhigen und Harmonie schenken? 

Erinnern, was heilt

Körperliche Empfindungen, Gefühle und emotionale Reaktionen spüren und für eine Weile aushalten, nicht leugnen oder verdrängen, sie aber auch nicht  nähren und dramatisieren. Grundstimmungen als Stimmungen erkennen: Angst, Ohnmacht, Unruhe, Unsicherheit. Gedanken als Gedanken erkennen. Stimmungen und Gedanken entstehen in mir – und sie haben auch jetzt, auch in dieser politischen Lage, etwas mit meiner persönlichen Biografie und meinen persönlichen Gewohnheiten zu tun.

Erinnern, was heilt: Wenn ich aufgeregt bin, will ich nicht Öl ins Feuer gießen, sondern bemerken, was geschieht, ohne es zu wegzuschieben, zu ignorieren oder zu dramatisieren. Und mich dann beruhigen, denn mit unruhigem Körper und Geist und mit aufgewühlten Emotionen kann ich nicht das Beste aus der Situation machen.

Viele Menschen, dazu zähle auch ich, brauchen Zeit und Raum, um die vielen unangenehmen Gefühle genauer zu spüren. Mich persönlich drängen meine Muster zu schneller Beruhigung mit klugen Gedanken. Beides ist nötig, aber zu rechten Zeit. Zuerst spüren, bemerken, was geschieht – das ist der erste Schritt, der lange dauern kann. Manche brauchen sogar sehr viel Beruhigung, da ihre Muster sie dazu drängen, ihr Leid zu dramatisieren. Was ist das Beste? Das hängt von vielen Faktoren ab. Wir brauchen Zeit, um sie zu erkennen. Das Beste ist meist nicht der schnellste Weg.

„Unsicherheit“ steht auf diesem T-Shirt | © bass nroll

Das Ende der Gewalt ist der Bodhisattva-Weg

Mich inspirieren die Bodhisattva-Lehren sehr, denn ich bin fest davon überzeugt, dass das Ende der Gewalt der Bodhisattva-Weg ist. Nicht das Ende aller Gewalt überall, aber ein Faktor dieses komplexen Prozesses. Es gehören auch Regeln dazu und Gesetze, Höflichkeit und Rücksicht, Zuhören und Vergeben – und all das braucht Verstehen. Ich muss verstehen, was in Menschen, die sich populistischen rechten Bewegungen zuwenden, vor sich geht. Welche ihrer Bedürfnisse wurden und werden nicht erfüllt? Offensichtlich werden in diesen Tagen: die Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung, materiell und emotional, geistig und spirituell.
 
Ich möchte hier die fünf Bodhisattva-Gelübde einmal in diesem aktuellen Kontext interpretieren. Sie sind Teil der 16 Bodhisattva-Gelübde im Zen. Dazu gehören die drei Gelübde aller Buddhas: Tu Gutes, meide das Böse und zähme deinen (bedingten) Geist (und erkenne seine Tiefendimension, Buddha-Natur). Es gehören dazu die dreifache Zuflucht und die fünf Silas der Laien: Vermeide Töten, Stehlen, Lügen, sexuelle Gewalt, Drogen und Alkohol und übe dich stattdessen im Schutz des Lebens, in Großzügigkeit und Einfachheit, achte Beziehungen, sage die Wahrheit und kläre deinen Geist durch Meditation.

Schon diese elf Silas (3+3+5) sind eine wunderbare Orientierung, allerdings nur für uns selbst. Wir können sie anderen zwar vorleben und sie dazu inspirieren, aber niemanden dazu vergattern. Das ist ein Teil des Problems mit Gewalt und Dummheit in der Welt: Wir können anderen Menschen nicht vorschreiben, sich zu reifen, rücksichtsvollen Erwachsenen zu entwickeln, die einander in ihrer Unterschiedlichkeit respektieren und bereit sind, Konflikte mit Argumenten und Verhandeln zu lösen statt mit Gewalt; wir können sie nur dazu inspirieren.  

Bodhisattvas üben sich in weiteren fünf Haltungen und hoffentlich auch bald Handlungen:

1. Sprich nicht über die Fehler anderer, sondern erkenne deine Kleshas
2. Lobe dich nicht, indem du andere herabsetzt und abwertest
3. Sei großzügig und nicht geizig
4. Agiere Ärger und Wut nicht aus
5. Nimm immer wieder Zuflucht zu den Drei Juwelen

Die innere Verfasstheit klären in der Meditation | © Mitchell Joyce

1. Sprich nicht über die Fehler anderer, sondern erkenne deine eigenen Kleshas

Das versuche ich – auch in Bezug auf meine Einschätzung politischer Einstellungen. Das fällt mir oft schwer und ich muss zunächst bemerken, was sich in mir abspielt, nämlich arrogantes Schimpfen über das, was all die populistischen Dummköpfe sagen und tun. Es ist kein Problem und sogar wichtig, ihr Verhalten als falsch zu kritisieren, doch ich darf sie als Menschen nicht aufgeben. Und das gelingt mir nur, wenn ich ansatzweise verstehe, warum sie etwas tun oder sagen. Über die Fehler anderer zu lästern, bedeutet schlicht, sie nicht zu verstehen.

Ich glaube, dass Populisten, die zurück zur guten alten Zeit wollen (welche sie genau meinen, hängt ab von Geschlecht, Schicht und Kultur) oder zum Stammesleben (wahlweise Nation, Rasse, Klasse) nicht einfach nur dumm und rückständig sind, sondern gründlich überfordert durch den modernen Universalismus und das postmoderne „Anything goes“. Und wohlmeinende und gute Menschen, die ihnen dann Universalismus, Humanität und politisch korrektes Verhalten predigen, schauen oft nicht genau hin, ob die, denen sie das predigen, das auch hören können. Gut gemeint ist in diesem Fall oft nicht gut gemacht. Und darauf macht uns die Rechtsdrift in Europa, in den USA und anderswo vielleicht endlich aufmerksam. Wer die AfD auf Ewiggestrige reduziert, versteht nicht, was schief läuft in der westlichen Welt. Neben der sozialen Ungerechtigkeit geht es eben auch um die Inklusion der vormodernen Menschen. Inklusion sollte nicht nur für Minderheiten gelten, sondern auch für die Menschen, die von der Moderne und Postmoderne überfordert sind. Das scheint mir zumindest die zunehmende Polarisierung in den westlichen Gesellschaften derzeit am besten zu erklären. 

2. Lobe dich nicht, indem du andere herabsetzt und abwertest.

Auch das kann ich nicht aus dem Stand heraus. Ich finde meine Vision einer gerechten und toleranten Welt, mit humanitären und universalistischen Werten, mit Gleichberechtigung aller noch so unterschiedlichen Menschen eindeutig sinnvoller, gerechter und politisch weiser. Die Gegner dieser Vision halte ich nicht selten für beschränkt, rückständig und engstirnig. Doch wenn ich das bemerke, erinnere ich mich daran, dass Bodhisattvas etwas anderes üben: andere nicht herabzusetzen oder abzuwerten und sie nicht aufzugeben. Das ist eine Übung und keine Vorschrift. Ich übe das. Mit Geduld und Ausdauer seit knapp vierzig Jahren. Es fällt mir nicht leicht. Vor allem dann nicht, wenn ich Verhaltensweisen oder Ansichten beobachte, die „objektiv“ schockierend sind.

Bodhisattva tut Gutes mit allen Händen | © Wee Viraporn

3. Sei großzügig und nicht geizig

Das gelingt mir persönlich am besten und es hilft, wenn ich in der rechten Stimmung dazu bin. Aber was bedeutet Großzügigkeit in Bezug auf meine materiellen Möglichkeiten? Darüber denke ich nach. Und spreche darüber auch mit anderen. Und spende für humanitäre Projekte, die ich für sinnvoll und nachhaltig halte. 

4. Agiere Ärger und Wut nicht aus

Dieses Gelübde ist sehr mächtig. Was mich daran so sehr inspiriert, ist der Hinweis auf das Ausagieren. Das Gelübde verlangt nichts Unmögliches. Es verlangt nicht, dass wir nie mehr wütend und ärgerlich sein dürfen. Wir dürfen sogar mit Tara und Buddha schimpfen und ihnen vorwerfen, dass sie nicht mehr tun, um die Menschen in dieser Welt und uns selbst zur Räson zu bringen. Wir dürfen uns ärgern. Aber die Empfehlung zur Übung lautet: Agiere deinen Ärger nicht aus.

Das schließt allerdings nicht aus, dass wir, wenn wir jemanden oder eine Gruppe durch kraftvolles Auftreten von unheilsamen Handlungen abhalten können, das auch tun. Nur segnet es keine Gewalt gegen Personen oder Sachen ab und billigt keine Terrorakte zum Wohle des eigenen Stammes oder der eigenen Gruppe. Dieses Gelübde finde ich sehr hilfreich. Auch wenn mir manchmal dämmert, dass ich es auch als Schutz vor Streit benutze. Nun denn. Ich übe noch. 

5. Nimm immer wieder Zuflucht zu den Drei Juwelen

Das ist die Grundlage der freundlichen Einstellung aller Bodhisattvas. Sie wollen ihr Leben und Handeln dem Wohle aller Wesen widmen. Das können sie, wenn sie nicht nur auf ihre eigene Kraft und die anderer wohlmeinender Menschen vertrauen, sondern auf das Heilsame in allen und allem. Wir nehmen daher Zuflucht im Außen: zu Buddha, Dharma und Sangha, die uns durch ihr Vorbild und ihre Weisheit inspirieren. Wir nehmen Zuflucht in uns selbst: in die Möglichkeit, zu erwachen und selbst Sangha zu werden. Und schließlich finden wir unerschütterliches Vertrauen in das Leben, in das Große Ganze, wenn wir geheime Zuflucht nehmen und die unfassbare Zuflucht entdecken – zu dem was größer ist als wir und alle Menschen.
 
Emaho
Om tare
Sarva mangalam

Sylvia Wetzel

Sylvia Wetzel befasst sich seit 1968 mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Sie unterrichtet seit 1986 Entspannung, Meditation und Buddhismus im deutschsprachigen Raum und in Spanien. Ihr besonderes Interesse gilt der Reflexion von kulturellen Bedingungen und Geschlechterrollen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher. Sylvia Wetzel ist auch Ehrenrätin der Deutschen Buddhistischen Union, in deren Rat sie 15 Jahre aktiv mitgearbeitet hat, davon 9 Jahre im Vorstand. Sie ist Mitbegründerin und war zwölf Jahre Redakteurin der Zeitschrift „Lotusblätter“, die später in BUDDHISMUS aktuell umbenannt wurde.

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