Die Samen des Glücks gießen

Ein Beitrag von Thich Nhat Hanh übersetzt von Susanne Szabadkai veröffentlicht in der Ausgabe 2021/4 Verbundenheit unter der Rubrik Verbundenheit.

Nicht alle unsere Gewohnheiten sind schlecht. Auch Glücklichsein ist eine Gewohnheit, sagt der Zen-Meister Thich Nhat Hanh und beschreibt, wie wir sie kultivieren können.

Wir alle haben die Fähigkeit, glücklich zu sein. In uns sind Samen des Mitgefühls, des Verstehens und der Liebe. Wir alle verfügen über viele gute Samen des Glücks und der Freude. Doch wir haben auch die Angewohnheit, davor wegzulaufen. Diese rastlose Energie der Unzufriedenheit und des Sichabmühens trennt uns vom gegenwärtigen Moment und von uns selbst.

Zum Teil laufen wir hinter etwas her. Wir glauben, dass es nicht möglich sei, im Hier und Jetzt glücklich zu sein, also versuchen wir, dieses Glück in der Zukunft zu finden. Wir glauben, wenn wir nur genug Macht, Ruhm, Reichtum hätten oder Bewunderung von anderen bekämen, wären wir endlich glücklich. Wir hoffen, dass wir Glück fänden, wenn wir uns nur mehr und energischer um diese Dinge bemühten.

Mit Achtsamkeit und tiefem Schauen können wir die schmerzhafte Gewohnheit des Hinterher- oder Davonlaufens in eine Gewohnheit des Glücks verwandeln.“

Während wir einer Sache hinterherrennen, laufen wir gleichzeitig vor etwas anderem weg. Jede und jeder von uns trägt Leid, Verzweiflung, Wut und Einsamkeit in sich. Wenn wir nicht wissen, wie wir mit diesen starken Gefühlen sein können, wollen wir uns möglichst schnell und möglichst weit von ihnen entfernen.

Weil wir immer auf der Flucht sind, sind wir nicht für uns selbst da. Wir sind so sehr damit beschäftigt, woanders hinzugelangen, dass wir nicht mit uns selbst, so wie wir gerade sind, zusammen sein können. Und wenn wir nicht in der Lage sind, uns um uns selbst zu kümmern, können wir auch nicht für unsere Lieben da sein. Wir laufen also nicht nur vor uns selbst weg, sondern auch vor unserer Familie und unseren Freundinnen und Freunden.

All dieses Davonlaufen ist viel Arbeit. Es ist anstrengend und erzeugt Spannungen in unserem Körper und Geist. Wir tun es, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, aber mit Achtsamkeit und tiefem Schauen können wir diese schmerzhafte Gewohnheit in eine Gewohnheit des Glücklichseins verwandeln.

Die Wurzeln unserer Gewohnheitsenergie

Woher kommt die Energie, die uns dazu treibt, immer wieder davonzurennen? Wenn wir innehalten und tief in die Wurzeln dieser Gewohnheitsenergie blicken, können wir sie verwandeln.

Jede und jeder von uns trägt die Gewohnheitsenergien der eigenen Vorfahren in sich. Unser Bewusstsein hat in hohem Maß die Fähigkeit, Energien von denen, die vor uns da waren, und von den Menschen in unserem Umfeld zu empfangen und aufzunehmen. Diese Energien sind in unserem Bewusstsein als einundfünfzig verschiedene Geistesformationen in Form von Samen (bija in Sanskrit) gespeichert und bewahrt. In jeder und jedem von uns befinden sich Samen der Liebe, des Glücks, des Mitgefühls, der Furcht, des Hasses, der Angst usw.

Der buddhistischen Psychologie zufolge besteht das Bewusstsein aus zwei Teilen. Ein Teil ist das Geistbewusstsein und der andere das Speicherbewusstsein. Das Geistbewusstsein, das in der westlichen Psychologie „Bewusstsein“ genannt wird, ist unsere aktive Bewusstheit. Ihm zugrunde liegt das Speicherbewusstsein, das die Samen der einundfünfzig geistigen Gebilde enthält.

Die ersten fünf werden universelle geistige Gebilde genannt, weil sie in allen anderen geistigen Gebilden vorhanden sind.

Kontakt, Berührung,das erste universelle geistige Gebilde, findet statt, wenn ein Sinnesorgan und ein Objekt zusammentreffen.

Als Nächstes hat das geistige Gebilde Aufmerksamkeit die Funktion, uns für ein bestimmtes Objekt zu interessieren. Hören wir ein Geräusch, ist unsere Aufmerksamkeit auf dieses Geräusch gerichtet. Es gibt angemessene und unangemessene Aufmerksamkeit, und wenn wir achtsam sind, können wir uns dafür entscheiden, unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, das heilsam und nützlich ist.

Das dritte universelle geistige Gebilde, Gefühl, kann angenehm, unangenehm oder neutral sein. Mit Achtsamkeit können wir unangenehme Gefühle in angenehme umwandeln, zum Beispiel in Dankbarkeit. Ist das Gefühl ein angenehmes, können wir alles Denken lassen und uns einfach des Gefühls bewusst werden. Wenn wir aufhören, an dieses oder jenes zu denken, können wir sehr glücklich damit sein, barfuß am Strand spazieren zu gehen und den Sand zwischen den Zehen zu spüren.

Das vierte universelle geistige Gebilde ist die Wahrnehmung. Wenn wir etwas sehen, schmecken, hören oder fühlen, erscheint es in unserem Geist als ein Zeichen, das einen Begriff nahelegt. Sehen wir etwas mit Blütenblättern und einem Stiel, gibt unser Geist ihm den Namen „Blume“. Ist unsere Achtsamkeit nicht bei der Wahrnehmung, merken wir vielleicht nicht, wenn diese falsch ist. Dann könnten wir ein Stück Seil mit einer Schlange verwechseln. Wir glauben vielleicht, eine Person ignoriere uns, obwohl sie in Wirklichkeit taub ist und uns gar nicht hören kann, oder wir sehen etwas und meinen, es sei schmerzhaft, obwohl es uns eigentlich Freude bereiten könnte. Fehlerhafte Wahrnehmung ist immer möglich und kann Angst, Wut und Irritation hervorrufen.

Das fünfte universelle geistige Gebilde ist die Absicht, auch als Willensregung bekannt. Wir sind in Kontakt mit dem Objekt und unserem diesbezüglichen Gefühl und unserer Wahrnehmung, und daraus ergibt sich eine Beziehung zu diesem Objekt. Wir entscheiden, ob wir es besitzen oder weghaben wollen. Das fünfte geistige Gebilde ist unsere Entscheidung, ob wir ein Objekt annehmen oder ablehnen.

Gewohnheitsenergien verwandeln 

Unsere Gewohnheitsenergien entspringen diesen geistigen Gebilden. Deren Samen bilden die neuronalen Verschaltungen, die entweder zu Leid oder zu Glück führen.

Jeder Samen, der sich in unserem Geistbewusstsein manifestiert, kehrt gestärkt in unser Speicherbewusstsein zurück. Wenn wir zum Beispiel mit etwas in Berührung kommen, das in uns ein Gefühl der Wut auslöst, wird die Wut durch das häufige Durchlaufen dieser neuronalen Verschaltung zu einer Gewohnheit. Doch mithilfe der Achtsamkeit können wir diese „negative“ Verschaltung schwächen, und schließlich stirbt sie ab und es können sich andere bilden, die zu Verstehen und Glück führen.

Unsere Depressionen, Ängste, Eifersucht, unsere Verzweiflung und unsere inneren Konflikte sind allesamt negative geistige Gebilde, die zu unserer Gewohnheit des Davonlaufens beitragen. Haben Sie aber keine Angst vor ihnen. Wenn sie sich in uns zeigen wollen, dann sollten wir das zulassen, sie erkennen und annehmen.

„Achtsamkeit hilft uns, die Gewohnheitsenergie des Davonlaufens zu erkennen.“

Wir können Gewohnheitsenergien nicht einfach durch unser analytisches Denken verwandeln noch durch den bloßen Wunsch, das zu tun. Wir brauchen eine gewisse Einsicht, und Einsicht entsteht durch tiefes Schauen. Die einzige Möglichkeit, Gewohnheitsenergien zu transformieren, besteht darin, sie zu erkennen, sie mit Achtsamkeit anzunehmen und sich darin zu üben, positive Samen einzuladen, um positive Gewohnheitsenergien zu schaffen.

Achtsamkeit hilft uns, die Gewohnheitsenergie des Davonlaufens zu erkennen. Wenn wir merken, dass sie da ist, lächeln wir ihr zu und dann sind wir frei von ihr. Erkennen wir die Gewohnheitsenergie des Davonlaufens, verliert sie ihre Macht über uns und kann uns nicht mehr zum Weglaufen zwingen. Dann können wir die Anspannung in unserem Körper leicht auflösen.

Manche Gewohnheitsenergien sind sehr schwer zu verwandeln. Wenn wir ein Blatt Papier zerknüllen, ist es schwierig, es wieder zu glätten. Es hat die Gewohnheitsenergie, zerknittert zu sein. So ist es auch bei uns. Aber auch Glücklichsein kann zu einer Gewohnheitsenergie werden. Die Praxis der Achtsamkeit ermöglicht es uns, neue, besser funktionierende Gewohnheitsenergien zu schaffen.

Angenommen, Sie ziehen jedes Mal eine Grimasse, wenn Sie einen bestimmten Satz hören. Das geschieht nicht, weil Sie eine Grimasse schneiden wollen; es geschieht einfach automatisch. Um diese alte Gewohnheitsenergie durch eine neue zu ersetzen, können Sie jedes Mal, wenn Sie den entsprechenden Satz hören, mit Achtsamkeit atmen. Anfangs mag Ihnen das bewusste Atmen noch Mühe bereiten, weil es sich nicht natürlich anfühlt. Wenn Sie sich darin jedoch weiter üben, wird das bewusste Atmen zu einer neuen und positiven Gewohnheitsenergie.

Nichtdenken und neue Nervenbahnen

Das Geheimnis beim Schaffen neuer Gewohnheiten liegt in der Praxis des Nichtdenkens. Wenn wir uns in Gedanken verfangen, verlieren wir die unmittelbare Kontakterfahrung und gehen zu den anderen geistigen Gebilden über. Das nimmt uns die Möglichkeit, im Hier und Jetzt zu sein, mit dem in Berührung zu kommen, was im Körper und um uns herum geschieht. Werden Sie sich also einfach des Kontakts und der Gefühle bewusst. Auf diese Weise können Sie mit den nährenden und heilenden Elementen in Ihrem Körper und Ihrer Umgebung in Berührung kommen, sowohl körperlich als auch geistig.

„Wenn man nur ein oder zwei Sekunden lang hinschaut und das Leiden in der anderen Person erkennt, entsteht Mitgefühl.“

Mithilfe der Achtsamkeit können wir „negative“ Verbindungen zwischen Nervenzellen schwächen und schließlich absterben lassen und dafür werden sich andere bilden, die zu Verstehen und Glück führen.

Nehmen wir an, dass Sie jedes Mal, wenn Sie besorgt, ängstlich oder gereizt sind, nach einem großen Stück Kuchen greifen, um dieses Gefühl zu überdecken. Das wird zu einer Gewohnheit, denn in Ihrem Gehirn entwickelt sich dafür eine neue Verschaltung. Halten Sie dagegen inne, bevor Sie nach dem Stück Kuchen greifen, werden Sie sowohl das Muster als auch die anderen Empfindungen in Ihrem Geist und Körper erkennen. Vielleicht bemerken Sie, dass Sie nicht wirklich hungrig sind, sondern eher traurig oder müde. Die Gewohnheit, bewusst zu atmen und Ihre Traurigkeit wahrzunehmen, wird Ihr Leiden wirksamer lindern als der Kuchen, und Sie werden nicht noch darunter leiden, übermäßig satt und schlecht gelaunt zu sein.

Wenn Achtsamkeit und Konzentration in den Wahrnehmungsprozess eingreifen, können neue neuronale Verschaltungen entstehen, die nicht zu Leiden führen, sondern zu Verstehen, Mitgefühl, Glück und Heilung. Unser Gehirn hat die Kraft der Neuroplastizität, es vermag sich durch Training zu verändern.

Nehmen wir an, jemand sagt etwas, das Sie verärgert. Ihrer alten Gewohnheit zufolge wollen Sie etwas sagen, um die Person zu bestrafen. Aber das macht Sie zu einem Opfer Ihrer Gewohnheitsenergie. Stattdessen können Sie innehalten, den Ärger und die Irritation in sich akzeptieren und ihnen zulächeln. Mit Achtsamkeit schauen Sie auf die andere Person und sehen deren inneres Leiden. Vielleicht hat sie so gesprochen, um sich besser zu fühlen. Sie glaubte vielleicht, sie müsse weniger leiden, wenn sie so spricht, aber in Wirklichkeit wird ihr Leiden zunehmen.

Wenn wir nur ein oder zwei Sekunden hinschauen und das Leiden eines anderen Menschen sehen, entsteht Mitgefühl in uns. Und dann leiden wir nicht länger, sondern finden vielleicht sogar Worte, die dem oder der anderen helfen. Wenn wir uns darin üben, werden sich immer wieder neue Verschaltungen bilden. Werden sie stärker, nennen wir sie die Gewohnheit des Glücklichseins.

Wenn wir die Gewohnheit entwickeln, glücklich zu sein, dann tun wir alles, was wir tun, zum Beispiel uns eine Tasse Tee zubereiten, so, dass es uns Freude macht und Glück bringt.

Wir üben uns in Achtsamkeit, um mit der angemessenen Aufmerksamkeit in Berührung zu kommen, in unserem Denken innezuhalten und das Gefühl zu genießen, das im Hier und Jetzt möglich ist. Wir erkennen die vielen Bedingungen des Glücks, die es hier gibt und die viel zahlreicher sind, als wir es uns überhaupt vorstellen können. Das ist möglich. Während wir das tun, findet Heilung statt. Wir müssen uns nicht mehr anstrengen, denn wir haben die Gewohnheit des Glücklichseins entwickelt.

Thich Nhat Hanh,

mit freundlicher Genehmigung der Plum Village Community of Engaged Buddhism

Übersetzung: Susanne Szabadkai 

Überarbeitung: Ursula Richard

Der Text ist auf Englisch am 13. April 2021 erschienen auf: 
www.lionsroar.com/watering-the-seeds-of-happiness

Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh, 11.10.1926–22.1.2022 Buddhistischer Mönch, Dharmalehrer, Schriftsteller

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