Der Aspekt der Klarheit

Ein Beitrag von Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche veröffentlicht in der Ausgabe 2017/4 Erleuchtung unter der Rubrik Erleuchtung.

Versteht man Leerheit ohne Weisheit, kann das zu einem nihilistischen Verständnis führen. Darum gibt es die Lehren zu Buddhanatur. Ein buddhistischer Essay zum Thema Buddhanatur von Dzongsar Khyentse Rinpoche, in dem er erklärt, was es bedeutet, sich der eigenen Buddhanatur gewahr zu sein: „Wir werden nicht auf die Notleidenden herabblicken und denken, sie seien uns unterlegen. Wir werden keine Arroganz hegen noch werden wir uns als minderwertig empfinden, wenn wir einem erhabenen Wesen begegnen – jemandem, der viel erreicht hat. Es gibt keinen Grund, sich minderwertig zu fühlen, wir haben alles, was ein erhabenes Wesen hat. Wir haben nicht mehr und nicht weniger als Shakyamuni Buddha oder irgendeiner der tausend Buddhas.“

© Benjamin Davies, Unsplash

Wenn wir über einen Pfad wie den Buddhismus sprechen, denken wir meist gleichzeitig an die Zielgerade – an eine Art Ergebnis oder Ziel. Aber im Mahayana gibt es kein Ziel. So heißt es im Prajnaparamita-Sutra: „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form. Keine Augen, keine Ohren …“ und so fort. Da gibt es nichts zu erreichen. Und es gibt „kein Nichts“ zu erlangen.

Der Mahayana-Pfad ähnelt dem Abschälen von Schichten oder Schalen – um schließlich herauszufinden, dass es innen gar keine Frucht gibt. Wir müssen uns von diesen Schichten befreien, aber das fällt sehr schwer – wir lieben unsere Häute: In der Kindheit sind uns Sandburgen sehr wichtig. Wenn wir dann 16 Jahre alt sind, ist es das Skateboard, und zu dem Zeitpunkt ist die Sandburg zu einer verrotteten Schale oder Haut geworden. Im Alter von 30 oder 45 Jahren treten Geld, Autos und Beziehungen an die Stelle des Skateboards. All das sind weitere Schalen. Und mehr als das: Selbst die Pfade, die wir praktizieren, machen weitere Schichten aus, mit deren Hilfe wir zu weiteren Schichten vordringen, um sie abzutragen. Die innere Haut hilft uns, über die äußere nachzudenken, und motiviert uns, sie abzuschälen. Aber letztlich sollten wir auf dem Mahayana-Pfad frei sein von allen Systemen, von allen Häuten.

Du kannst dir das Ergebnis des Beseitigens nicht wünschen noch dafür beten, denn es ist bereits da, es setzt sich durch alle Zeit hindurch fort.

Was bleibt übrig?

Was passiert also, wenn all diese Häute abgeschält wurden? Was bleibt übrig? Ist Erleuchtung die totale Verneinung wie das Verlöschen von Feuer oder das Verdunsten von Feuchtigkeit? Ist es damit vergleichbar? Nein, wir sprechen vom Ergebnis des Beseitigens. Wenn zum Beispiel unser Fenster schmutzig ist, putzen wir es, wir waschen den Schmutz ab. In Abwesenheit von Schmutz wird das Fenster als „sauber“ bezeichnet. Es geht um nichts anderes. Das Phänomen, das wir „sauberes Fenster“ nennen, diese Qualität der Abwesenheit von Schmutz, ist nicht etwas, das wir durch das Wegwischen von Schmutz hergestellt haben. Ich glaube nicht einmal, wir sollten es „ein sauberes Fenster“ nennen, da es in seinem ursprünglichen Zustand niemals von den Extremen „schmutzig“ oder „sauber“ befleckt war. Nichtdestotrotz kann der Prozess der Beseitigung von Schmutz als das Auftauchen des sauberen Fensters bezeichnet werden.

Wir sprechen hier von Buddhanatur, und wenn ihr etwas über Buddhanatur wissen wollt, dann solltet ihr Maitreyas Uttaratantra Shastra studieren. Es ist wichtig, die Vorstellung von Buddhanatur sorgfältig zu begründen, weil sie sonst am Ende einer Art atman oder einer wahrhaft existierenden Seele gleichkäme. Die Mahayana-Shastras sprechen über die Qualitäten von Freiheit oder des Beseitigens, wie etwa die Zehn Kräfte, die Vier Furchtlosigkeiten, die 32 Hauptmerkmale oder 80 Nebenmerkmale und so weiter. Wenn wir nicht vorsichtig sind, beginnen wir, uns Buddhanatur in theistischen Begriffen vorzustellen – also mit den Eigenschaften eines ewigen Gottes, einer ewigen Seele oder Essenz. Aber all jene Eigenschaften, von denen in den Mahayana-Shastras die Rede ist, sind schlicht Qualitäten der Abwesenheit von Schmutz.

Es gibt nichts zu beseitigen

Sprechen wir über das Resultat der Beseitigung, denken wir unwillkürlich, es sei etwas, das hinterher geschehe: Zuerst gibt es die Beseitigung und dann folgt deren Wirkung. Aber davon sprechen wir ganz und gar nicht, denn dann würden wir in ein eternalistisches oder theistisches Extrem verfallen. „Beseitigung“ bedeutet, dass es etwas zu beseitigen gibt. Aber durch das Prajnaparamita-Sutra verstehen wir: Es gibt nichts zu beseitigen. Und das ist die große Beseitigung. Das Resultat des Beseitigens wird nicht später erlangt. Es ist schon immer da – weshalb es tantra oder „Kontinuum“ genannt wird. Diese Eigenschaft setzt sich fort durch Grund, Pfad und Frucht oder Resultat. Das Fenster bleibt, es war bereits vor dem Schmutz da und besteht, während der Schmutz entfernt wird und nachdem die Reinigung abgeschlossen worden ist, weiter. Das Fenster war stets frei von den Begriffen von „Schmutz“ und „Freiheit von Schmutz“. Daher heißt es in den Mahayana-Sutras, das Resultat liege jenseits des Bestrebens. Wir können uns das Ergebnis des Beseitigens nicht wünschen oder dafür beten, weil es bereits da ist; es setzt sich die ganze Zeit fort, weshalb es gar nicht nötig ist, es anzustreben.

© Gary Bending, Unsplash

Die Essenz aller Lehren des Buddha ist Leerheit oder Entstehen in wechselseitiger Abhängigkeit. Nichts entsteht, verweilt oder vergeht unabhängig. Daher gibt es nichts Dauerhaftes. Es gibt kein wahrhaft existierendes Selbst. Alles, von dem wir denken, es existiere oder existiere nicht oder beides oder keines von beidem – all dies sind lediglich künstliche Machenschaften unseres Geistes. Wir erfinden sie und werden dann auch noch abhängig von unseren Erfindungen. Aber wir erkennen nicht, dass dies nur unsere eigenen Machenschaften sind. Wir glauben, sie seien real, aber im Grunde ist jede einzelne unserer Vorstellungen und jedes Festhalten eine Art fanatischer Prozess. Die Mahayana-Sutras lehren Leerheit oder shunyata, um uns jenseits all dieser Extreme und geistigen Machenschaften zu führen.

Wenn wir über Leerheit sprechen, über etwas jenseits von Einbildung, denken wir augenblicklich an einen Zustand, der nutzlos ist, wie bei einem Stubenhocker oder einem Stein, aber das ist völlig falsch. Sie ist nicht einfach nur eine Verneinung, Beseitigung oder Leugnung. Sie ist nicht wie das Erlöschen eines Feuers oder das Verdunsten von Wasser. Sie ist vollständig funktionstüchtig und wir nennen dieses Funktionieren Buddha-Aktivität. Dies ist Teil von Buddhanatur und Buddhanatur hat auch einen Aspekt ununterbrochener Weisheit. Darin liegt die Schwierigkeit, denn sobald wir über Weisheit sprechen, denken wir in Begriffen wie Wahrnehmung, Erkenntnis, die Sinne und ihre Objekte. Wir fragen uns, wie wohl ein Buddha die Dinge wahrnimmt. Aber obwohl Buddhanatur scheinbar eine Wahrnehmende ist, hat sie kein Objekt und kann daher auch kein Subjekt sein. Außerdem ist sie weder unbelebt noch belebt im Sinne von etwas Geistigem. Daher ist das Uttaratantra Shastra eine wirkliche Ergänzung zu den Lehren des Mahasandhi (Dzogchen), die stets davon ausgehen, dass Geist und Weisheit sich unterscheiden – der dualistische Geist von Subjekt und Objekt ist etwas ganz anderes als die nichtduale Weisheit, die nichts anderes ist als Buddhanatur.

Der Aspekt der Klarheit

Man könnte sagen: Wenn Nagarjuna das Prajnaparamita erklärt hat, konzentriert er sich auf den Aspekt der Leere, während Maitreya das gleiche Sujet darlegt, indem er sich mehr auf den Aspekt der „-heit“ konzentriert. Dieses „-heit“ ist Buddhanatur. Nun fragt ihr euch vielleicht, warum Buddha in den Sutras lehrte, dass alle Phänomene den Wolken gleichen – die unstabil und naturgemäß illusorisch und leer sind. Wie kann es sein, dass sie, obwohl wir sie erfahren können, dennoch ohne Essenz sind, wie ein Traum oder eine Luftspiegelung?

Wenn Buddha sagt, es gibt Buddhanatur, meint er nicht, Buddhanatur existiere wirklich. Vielmehr betont er deren Aspekt der Klarheit.

Warum wird all dies in den Lehren zum Madhyamaka und den Prajnaparamita-Sutras als Leerheit bezeichnet? Und wie Mipham Rinpoches Kommentar zum Uttaratantra Shastra fragt: Warum sagt der Buddha im dritten Drehen des Dharmarads, dass Buddhanatur in allen fühlenden Wesen existiert? Ist das kein Widerspruch? Überdies: Da Buddhanatur sehr schwer zu verstehen ist – selbst für erhabene Wesen, die sich auf dem Pfad befinden –, warum wird es hier selbst gewöhnlichen Wesen gelehrt? Lasst uns dazu Maitreyas Text anschauen:

Er hatte an verschiedenen Orten gelehrt, dass jedes erkennbare Ding immer leer ist, wie eine Wolke, ein Traum oder eine Illusion. Warum hat der Buddha dann gesagt, der Kern der Buddhaschaft sei in jedem fühlenden Wesen vorhanden? (Stanza 156)1

Es gibt zunächst keinen Widerspruch zwischen dem zweiten Drehen des Dharmarads, in dem Buddha lehrte, alles ist Leerheit, und dem dritten, in dem er lehrte, alle fühlenden Wesen haben Buddhanatur. In den Prajnaparamita-Sutras des zweiten Drehens betont er, dass nichts wahrhaft existiert. Wenn Buddha hier nun sagt, es gäbe Buddhanatur, meint er nicht, Buddhanatur existiere wahrhaft. Vielmehr betont er deren Aspekt der Klarheit. Sobald wir über die Einheit von Klarheit und Leerheit sprechen, ist es wichtig, beide Aspekte, und nicht nur den der Leerheit, zu verstehen.

© Gerrit Vermeulen, Unsplash

Darüber hinaus beziehen sich Buddhas Lehren zu Buddhanatur auf fünf verschiedene Fehler, denen sie entgegenwirken:

Es gibt fünf Fehler: Feigheit, Verachtung für die mit geringeren Fähigkeiten, Glaube an das Falsche, schlecht über das wahre Wesen zu reden und sich selbst über alles andere zu schätzen. Damit diejenigen, in denen diese vorhanden waren, sie entfernen können, wurde dies so dargestellt. (Stanza 157)

Das Erzeugen des Erleuchtungsgeistes gilt generell als das Wichtigste im gesamten Buddhadharma und speziell im Mahayana. Liest man im Bhadrakalpa-Sutra (dem „Sutra des glücklichen Zeitalters“), erfährt man, wie zu Beginn tausend Buddhas den Erleuchtungsgeist erzeugten. Dieses Erzeugen des Erleuchtungsgeistes ist ein Versprechen oder Gelübde, sich selbst und alle fühlenden Wesen zu erleuchten, und für Praktizierende auf dem Pfad ist es das Wichtigste überhaupt. Wenn wir beispielsweise beten, warum funktioniert das Gebet überhaupt? Es wirkt aufgrund dieser Entschlossenheit: des Gelübdes, allen Wesen zu helfen. Alles beruht darauf. Daher gibt es fünf Gründe, die Buddhanatur zu lehren, jeder einzelne zielt auf einen der fünf Fehler, und sie sind ausschließlich dazu da, uns bei der Erfüllung dieses Gelübdes zu unterstützen.

Wie eine Goldmünze im Kehricht

Erstens: Würde die Buddhanatur nicht betont, könnte ein Bodhisattva auf dem Pfad entmutigt werden, denn der Weg ist lang, rau und schier endlos. Man könnte sich auch selbst gering schätzen und denken: Wie kann jemand, der so unrein und nutzlos ist wie ich, überhaupt Erleuchtung erlangen? Bodhichitta, der Wunsch, alle fühlenden Wesen zu erleuchten, wird nicht in Menschen entstehen können, die so entmutigt sind und sich selbst gering schätzen.

Wenn wir wissen, dass Buddhanatur in uns steckt, so wie eine Goldmünze im Kehricht verborgen bleiben kann, ermutigt uns das sehr. Wir wissen dann, dass Erleuchtung möglich ist, weil Buddhanatur in uns ist. Das vermittelt uns Freude auf dem Pfad. Wüssten wir nicht, dass in einer Gussform eine golden Statue steckt, hätten wir keine Freude daran, die Form aufzubrechen. Wenn wir das jedoch wissen, wird der Wunsch, die Statue darin zu finden, so stark, dass wir den Prozess des Aufbrechens der Form gar nicht bemerken, was dem Erzeugen des Erleuchtungsgeistes gleichkommt.  

Zweitens sollten wir als Bodhisattvas allen fühlenden Wesen von Nutzen sein. Wenn wir nicht wissen, dass Buddhanatur jedem innewohnt, wäre es möglich, dass wir andere Wesen nicht respektierten. Wir könnten uns als Bodhisattvas sogar besonders großartig finden und andere fühlende Wesen verachten. Das könnte sich zu einem großen Problem auswachsen und uns daran hindern, anderen zu nutzen.

Stell dir vor, du glaubest, du seist ein Bodhisattva, der Buddhanatur besitzt, und alle anderen fühlenden Wesen hätten keine Buddhanatur und bräuchten daher deine Hilfe. Du stellst dir vor, du müsstest irgendwie den Buddha in sie einsetzen. Das wäre ein sehr großer Fehler. Wir nennen das Übertreibung oder Unterstellung. Aus buddhistischer Sicht hat jeder Buddhanatur. Das wird sich nicht ändern. Niemand, kein Guru, kein Buddha kann sie dir zukommen lassen. Alles was man tun kann, ist selbst zu einer Art Pfad zu werden, der es den Menschen ermöglicht, sie eigenständig zu erkennen und zu verwirklichen.

Zwei Arten von Hindernissen

Der dritte Grund, warum Buddhanatur gelehrt wird, ist das Vertreiben der Hindernisse, die uns daran hindern, prajna zu entwickeln. Es gibt zwei Arten solcher Hindernisse. Die erste ist eine Unterstellung. Obwohl es keine wahrhaft existierende Buddhanatur gibt, unterstellen wir eine oder stellen uns deren Existenz vor, indem wir denken, all diese Buddhaqualitäten würden wirklich existieren – so wie die ushnisha, jene Wölbung auf Buddhas Kopf, die seine großartige Weisheit und die Erleuchtung symbolisiert. Aber sie existieren nicht.

Wir müssen auch das zweite Hindernis zum Erkennen der Weisheit überwinden: zu denken, die Buddhaqualitäten existierten nicht oder dass es in uns keine Buddhaqualitäten gäbe, was einem Bemängeln gleichkommt. Dies ist der vierte Grund, warum Buddhanatur gelehrt wird.

© Erik Lucatero, Unsplash

Der fünfte Grund ist schließlich, das Hindernis zu vertreiben, das uns davon abhält, einzusehen, dass wir und andere gleich sind. Wenn wir nicht wissen, dass Buddhanatur gleichermaßen in allen Wesen existiert, dann haben wir wahrscheinlich mehr Anhaftung an uns selbst und mehr Abneigung gegenüber anderen.

Dies sind die fünf Gründe, warum Buddhanatur gelehrt wird.

Emotionen sind vorübergehend, weshalb das Handeln traumgleich ist, und daher sind die Anhäufungen2 – das Resultat von Emotionen und Handlung – wie eine Luftspiegelung.

Buddhanatur ist rein und frei von jeglichen zusammengesetzten Erscheinungen, und zwar seit uranfänglicher Zeit.

Das letztgültige wahre Wesen ist stets frei von jeglichem zusammengesetzten Ding, deshalb heißt es, dass Verblendungen, Karma und deren Reifen wie eine Wolke und so weiter sind. (Stanza 158)

Daher ist Buddhanatur frei von den drei Emotionsarten: Begierde, Aggression und Eifersucht. Sie ist frei von den Emotionen der karmischen Formationen, sowohl von tugendhaften als auch untugendhaften Handlungen. Und sie ist frei vom Resultat der Emotionen, den fünf Anhäufungen oder Daseinsfaktoren. Daher sind Emotionen wie Wolken.

Die Verblendungen, sagt man, sind wie Wolken, Karma wird mit der Erfahrung in Träumen verglichen und die volle Reife von Karma und Verblendungen – die Daseinsfaktoren – werden mit Luftspiegelungen verglichen. (Stanza 159)

Die Wolken sind niemals der Himmel

Die Natur der Wesen ist ursprünglich rein; daher nennen wir sie Buddhanatur. Obwohl die Emotionen scheinbar offensichtlich sind und scheinbar hartnäckig, scheinbar wie eine zweite Natur, gibt es diese zweite Natur niemals wirklich. Sie sind wie Wolken – sie sind zufällig und kein echter Teil von uns. Dieser Punkt ist ziemlich wichtig. Im Buddhismus kommen wir stets zu dem Schluss, dass diese Emotionen und Verblendungen vorübergehend sind. Wenn wir einen grauen, bewölkten Himmel betrachten, können wir ihn einen bewölkten Himmel nennen, aber er ist nicht wirklich ein bewölkter Himmel. Die Wolken sind niemals der Himmel. Die Wolken sind vorübergehend und zufällig.

Der nächste Teil ist entscheidend für unser Verständnis von Karma. Da Emotionen vorübergehend sind, ist das sogenannte Karma oder die Handlung wie ein Traum. Das ist wichtig, weil viele Menschen im Karma fast so etwas wie einen Gottesersatz sehen. Sie denken, es wäre wie jemand, der uns bestraft, belohnt und über unser Schicksal entscheidet. Aber so ist das im Buddhismus ganz und gar nicht. Karma ist eigentlich wie ein Traum. In einem Traum mag man alle möglichen Arten von Ekstase erleben, aber ganz gleich wie viel du keuchst und schwitzt, ist es doch nur ein Traum.

Wenn wir sagen: „Das ist nur ein Traum!“, ist da manchmal ein Beigeschmack von Geringschätzung, weil es nicht real ist. Aber so funktioniert es wiederum auch nicht. Wenn wir uns in einen Traumelefanten verlieben, dann durchlaufen wir im Traum das Entzücken, den Elefanten zu treffen, die Traurigkeit, ihn zu vermissen und schließlich die Qual, keinen Elefanten mehr zu haben. So funktioniert Karma.

In dieser Strophe liegt eine großartige Zusammenfassung des Buddhismus. Emotionen sind vorübergehend, weshalb das Handeln wie ein Traum ist, und daher sind die Anhäufungen – das Resultat von Emotionen und Handlung – wie eine Luftspiegelung und je näher du ihnen kommst, umso nichtiger und substanzloser werden sie. Wir bemühen uns so sehr, dem Elefanten nahezukommen, aber selbst wenn es zu einer Verlobung kommt, Ringe getauscht werden, eine Hochzeitszeremonie stattfindet oder was auch immer – der Elefant bleibt eine Luftspiegelung.

Um dies deutlich zu machen, lehrte der Buddha in den frühen Drehungen des Dharmarads Leerheit. Im Prajnaparamita-Sutra sagt er zum Beispiel: „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“, und alles sei wie eine Luftspiegelung oder ein Traum und so weiter. Danach, im dritten Drehen des Dharmarads, lehrte er Buddhanatur, um die fünf Arten von Hindernissen oder Verfehlungen zu vertreiben.

Es gibt keinen Grund, sich minderwertig zu fühlen; wir haben alles, was ein erhabenes Wesen auch hat.

© Pandu Ior, Unsplash

Was haben wir nun davon, etwas über Buddhanatur zu hören? Wenn wir etwas über Buddhanatur hören, erfahren wir Freude oder Enthusiasmus für den Pfad, weil wir wissen, dass Erleuchtung möglich ist. Selbst ein Hund ist aufgrund seiner Buddhanatur würdig, geehrt zu werden. Ganz gleich wie viele Emotionen aus uns herausbrechen, wir wissen, dass sie beseitigt werden können. Das ist Weisheit. Gleichzeitig wissen wir, dass all die Qualitäten des Buddha in uns vorhanden sind – das ist ursprüngliche Weisheit.

Wenn wir also nun von erstaunlichen Buddhaqualitäten hören, lesen oder sie sehen, werden wir sie nicht als getrennt von uns behandeln und denken: „Nun ja, da geht es um sie, aber ich bin anders.“ So etwas werden wir nicht mehr denken, denn wir wissen, dass die Qualitäten eines Buddha, bis hin zu der jeder einzelnen seiner Haarsträhnen, auch in uns vorhanden sind. Es gibt da nichts, auf was man eifersüchtig sein oder um was man ihn beneiden könnte, denn wir haben das auch alles. Und wenn wir wissen, dass alle Buddhanatur haben, wird unsere liebende Güte wachsen. Könnt ihr jetzt sehen, dass Leerheit allein uns nicht erlaubt, all diese Dinge zu erkennen und umzusetzen?

Wir sind wie die tausend Buddhas

Was ist nun das Ergebnis des Wissens um diese großartigen Qualitäten in uns? Wenn wir Zuversicht haben, wird die Negativität – wörtlich: „die unaussprechlichen negativen Handlungen“ – uns nicht mehr leicht überwältigen können. Wir werden uns von der Negativität entfremden, und wenn man sich fremd ist, gibt einem das eine gewisse Erhabenheit. Wenn du ein Fremder bist, haben andere keinen Zugang zu dir. Die kommen nicht einfach nah heran und fühlen sich dir vertraut, denn du bist mutig. Die zweite Auswirkung des Wissens um Buddhanatur ist, dass wir nicht auf die Notleidenden herabblicken und denken werden, sie seien uns unterlegen. Wir werden keine Arroganz hegen noch werden wir uns als minderwertig empfinden, wenn wir einem erhabenen Wesen begegnen – jemandem, der viel erreicht hat. Es gibt keinen Grund, sich minderwertig zu fühlen, wir haben alles, was ein erhabenes Wesen hat. Wir haben nicht mehr und nicht weniger als Shakyamuni Buddha oder irgendeiner der tausend Buddhas. Wegen Buddhanatur gibt es im Grunde weder einen Minderwertigkeitskomplex noch das Gefühl, anderen überlegen zu sein.

Wenn Negativität auftaucht, werden wir wissen, dass sie nicht wirklich existiert. Wenn gute Dinge, wie kleine Anzeichen für erleuchtete Qualitäten, sich zeigen, werden wir uns nicht aufregen, weil wir wissen, dass sie bereits Teil von uns sind. Dann entsteht liebende Güte. Mit alldem werden wir rasch Erleuchtung erlangen. 

Dieser Artikel wurde zuerst in der US-Zeitschrift Buddhadharma (Ausgabe vom Sommer 2017) veröffentlicht und erschien am 5. Juni 2017 unter www.lionsroar.com/the-clarity-aspect/ auch im Internet.

Deutsche Übersetzung: Doris Wolter, mit Genehmigung des Verfassers und der Zeitschrift Buddhadharma.

Anmerkungen

  1.  Die Übersetzung der Stanzas wurde übernommen aus: Buddha-Natur, Mahayana Uttaratantra-Shastra von Arya Maitreya mit Kommentaren von Dzongsar Khyentse Rinpoche, Berlin: Manjughosha Edition 2015, S. 115 ff.; in diesem Fall gehen die Zitate auf eine deutsche Übersetzung des englischen Textes The Changeless Nature von Ken und Katia Holmes zurück.
  2. Sanskrit: skandhas, im Englischen oft mit „aggregates“ übersetzt, im Deutschen auch mit „Daseinsfaktoren“.

Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche

Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche,1961 in Bhutan geboren und von S. H. Sakya Trizin als Emanation von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö (1894–1959) anerkannt, erhielt Einweihungen und Unterweisungen von Meistern aller vier Traditionsrichtungen des tibetischen Buddhismus. Er ist buddhistischer Lehrer, Autor und Filmregisseur.

Alle Beiträge Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche