Für Khenchen Tsultrim Gyamtso Rinpoche

24. Juli 2024

Am 22. Juni 2024 hat Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche, ein bedeutender Lehrer der Karma-Kagyü-Tradition, seinen Form-Kaya verlassen, das berichtete der Vorstand der Karma Kagyü Gemeinschaft in Langenfeld in einem Rundbrief an den Sangha. Er war einer der ersten Lehrer des Kamalashila Instituts im Schloss Wachendorf und lehrte später auch häufig im heutigen Retreat-Zentrum Halscheid. Zahlreiche seiner Schülerinnen und Schüler lernten unter seiner Anleitung Tibetisch und einige von ihnen sind heute Übersetzer:innen und Dharmalehrer:innen. Eine Delegation unter Leitung eines der beiden Residenzlamas des Kamalashila Instituts wird an den Einäscherungszeremonien in Nepal teilnehmen.

Am 22. Juni 2024 ist Khenpo Tsultrim Gyamtso Rinpoche von uns gegangen – Ein Nachruf, der ein Hinruf ist
(English translation as PDF)

Er, der viele Herzen überall in Weisheit tränkte und mit sanfter Macht von Liebe und Humor verzücken konnte, mutig sie den eignen Weg zu Freiheit gehen ließ. Die Rede ist von ihm, von einem der ersten großen, tibetischen Lehrmeister in der Tradition des Buddha, die intensiv und systematisch ihr Wissen und vor allem auch ihre Erfahrung jenseits ihrer Herkunftszone kulturübergreifend mit Menschen in aller Welt zu teilen begannen – von jenem, der im Auftrag des 16. Karmapa, als einer der ersten Lehrer speziell auch westlichen Schülern den Zugang zur Karma Kagyu Tradition öffnen sollte; dem ersten Lehrer im Kamalashila Institut, einst Wachendorf und erster Lehrer auch am selben Ort, der jetzt Klausurzentrum in Halscheidt ist; erster Lehrer war er auch an manchem anderem Orte dieser Welt; – jenem, der als einer der wenigen Großmeister alter Schule verblieben war. Die Rede ist von jenem, der jetzt nach fast 90 Jahren unermüdlichen Wirkens am 22. Juni von uns ging: Khenpo Tsultrim Gyamtso Rinpoche, Dechen Rangdrol, oder unter welch immer anderen Namen er auch bekannt sein mag. 

Zeit, jetzt seines so besonderen Lebens sich zu besinnen. Und bei aller Vielfalt, wenn man bloss durch die Pforte des Erinnerns tritt, beim Sprechen darüber schon bald nicht weiß, wo man beginnen sollte. Erstaunlich, wie bei seiner Bekanntheit, über die tibetischen Kreise weit hinaus in aller Welt, er dennoch lebenslang zu jenen letzten Vertretern zählte, die ausschließlich auf Tibetisch zu lehren pflegten. Nicht, weil er des Lernens anderer Sprachen nicht willens oder fähig gewesen. Indes fasste er frühzeitig den Entschluss, gerade durch diesen Verzicht Menschen anderer Kulturen zur unverstellten Begegnung an die Quellen zu führen. Er lehrte stets mit Übersetzern, was zunächst nicht wundern lässt. Doch waren es derer nicht ein oder zwei, eigens dafür angeheuert, es war eine ganze Übersetzerschar – allesamt zudem durch ihn erst ausgebildet und dazu ermutigt. Er besaß die fast magische Fähigkeit, viele Schüler in seinem Umkreis zum Lernen und auch Sprechen der tibetischen Sprache zu befähigen. Auch ohne jedes Anfangswissen, so wie wenn man von der eigenen Mutter die Sprache aufsaugt und hier das erste Sprechen und erste Deutungen der Welt erlernt. So haben alle, die von ihm lernen wollten, durch ihn die tiefen Sinnfragen des Lebens berührt, Worte, tiefe Bedeutung und die Kunst des klaren Denkens darin aufgesogen, wie Bienen aus jeder Blüte den Nektar trinken und Pollen sammeln um ihn später teilen zu können. 

Bald schon wurde spürbar, für jene, die ihm begegnen konnten, wie sehr er authentisches Erleben einer anderen, freien Welterfahrung verkörperte und zugleich an dieser Tiefe des Erlebens Anteil haben ließ. Und mehr noch aus der verfügbaren Weite des Überlieferungsstroms konnte er jene Worte und Einsichten des Buddha und in dessen Folge der indischen und tibetischen Weisen und Siddhas bereitstellen, die helfen, solche tiefen Erfahrungen zu erschließen und dann teilen zu können. So hat er jene, die von ihm lernen durften, vom Meer des Dharma in Wort und Erleben kosten lassen, sie genährt mit dem Vertrauen, wie auch in ihnen jene Fähigkeit zu erwecken ist – nicht als blindes Hoffen, sondern wohl begründet Zuversicht. Mit solcher, warmherzig heiteren Dringlichkeit, als gälte es die Herzen aller Mitbewohner dieser schwierigen Welt zu verzücken. Mit Weisheit. Mit jener Weisheitsbegabung, die uns allen zu Verfügung steht, wenn wir sie denn nutzen wollten. So war er für die, die ihm nahe sein wollten, alles in einem, die freie Heiterkeit eines ungebundenen Wander-Yogis, ein Konzentrat weiten und tiefen Wissens, ein weiser, humorvoll warmherziger Lehrer, der die nötige Strenge und Klarheit mit rückhaltlos, frei strömender Zuversicht verband. Sein warmherziges, zutiefst entwaffnendes Lachen war wie ein mächtiges Donnerbeben, das den Boden wegzog und doch schweben ließ. Wie so viele andere große Lehrer, wurde Khenpo Rinpoche im Osten Tibets, in der Region Kham geboren. Schon als Kind nahm ihn seine Mutter mit, auf weite, mehrmonatige Fussmärsche zu den wichtigsten Pilgerorten Tibets. Und ebenfalls in noch sehr jungen Jahren fand er in Gebirgeshöhe einen in schlichter Einsiedelei lebenden, großartigen Siddha-Yogi als ersten Lehrmeister. Weitere Ausbildung erfuhr er im berühmten Dilyak-Kloster, um dann als Wanderyogi und auf Leichenäckern sich übender Chöd-Praktizierender durch die Bergwelt Tibets zu streifen. Dieser Weg führte ihn auch auf den berühmten Leichenort im Tsurphu-Tal und zur Begegnung mit dem 16. Gyalwang Karmapa, eine Begegnung tief transformierender Art, so wird berichtet. In der nahegelegenen Gegend von Nyemo im Distrikt Tsang, Herkunft großer Yogis und Übersetzer, zog er sich zu mehrjähriger, strikter Einzelklausur zurück. Jung an Jahren zwar, empfanden die Menschen vor Ort doch eine Hochachtung, die sie ihn als ihren Lehrer ansehen ließ. So kam es, als nach dem Einmarsch der Chinesen sich die Kunde von der Flucht des Dalai Lama und auch des 16. Karmapa verbreitete und auch er sich entschloss, ihnen nach Indien zu folgen, dass die Dorfbewohner ihn baten, viele ihrer Töchter, als junge Nonnen, mit auf den Weg nach Indien zu führen und dort weiter zu unterrichten. Mit über zwanzig von ihnen unter seiner Führung bewältigten sie den langen, gefährlichen Fussmarsch bis in die indische Tiefebene. 

Es folgten Jahre in einem tibetischen Flüchtlingslager, wo auch viele Grössen all der bekannten Lehrrichtungen im Zusammenleben begannen von einander zu lernen, ihre Traditionen auszutauschen und sich gegenseitig zu bereichern. In dieser Zeit war es, dass er von der Notwendigkeit berührt, dieses Wissen mit der modernen Welt zu teilen, sich zur intensiven Schulung in Logik und Debatte entschloss, eine Ausbildung, die er mit dem höchsten Grad der Gelehrsamkeit, dem eines Geshe Lharampa abschloss, so berichten seine Nonnen. Einer Einladung des dortigen Königs folgend, nahm der 16. Karmapa ihn mit auf eine Reise nach Bhutan, wo ihm nahe eines Bergdorfes ein Ort zur Bleibe für sich und die Nonnen angeboten wurde. Heute ist dieser Ort ein blühendes Ausbildungs- und Klausurzentrum, eines der immer noch seltenen Lehrstätten für Nonnen. Wie er überhaupt im Rahmen der tibetischen Kultur einer der wenigen Lehrer war, die auch Nonnen den gesamten Bildungsweg eröffneten. Im Jahre 1977, auf seiner zweiten Reise in den Westen, kam der 16. Gyalwang Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje, auch nach Europa. Außer einer Gruppe erfahrener Mönche für das Durchführen von Ritualen und Zeremonien, hatte er nur zwei Dharma-Lehrer in seiner Begleitung: Den 3. Jamgon Kongtrul Rinpoche und Khenpo Tsultrim Gyamtso. An den Stationen seines längeren Aufenthalts, in Kopenhagen, Dänemark, Dordogne, Frankreich und Samye Ling in Schottland ließ er diese beiden an seiner Statt Dharma unterrichten. Und auf Wunsch des Karmapa war es auch, dass Khenpo Rinpoche, wie ihn seine Schüler bald nannten, begann eine Gruppe von Interessierten in dem grundlegenden Lehrwerk der Dagpo Kagyü Überlieferung zu unterweisen. Der “Juwelenschmuck der Freiheit”, verfasst von Dagpo Rinpoche oder Gampopa, der als Hauptschüler des grossen Yogis Tibets, Milarepa, zum Namensgeber und Gründer dieser Tradition wurde. Karmapa betraute Khenpo Rinpoche mit der Aufgabe, im Westen zu verbleiben, hier zu unterrichten, beginnend mit einem sechsmonatigen Kurs im Süden Frankreichs. Ungefähr dreißig Interessierte aus vielen Ländern folgten diesem Aufruf und kamen in den Genuss dieses Vorgeschmacks einer gründlichen Ausbildung – und was es bedeutet, ausschließlich in tibetischer Sprache diese Grundlagentexte nicht nur im Original zu lesen, sondern sie auch in Übung und Erläuterung als zutiefst lebenspraktische Weisheit zu schätzen. Über fast ein Jahrzehnt lang lehrte Khenpo Rinpoche in Europa, zumeist in mehrmonatigen Sommerkursen und dann auch in vielen Ländern, nur unterbrochen von Aufenthalten in Bhutan und Indien. Dort war er, durch den Gyalwang Karmapa berufen, als Hauptlehrer für die neubegründete Shedra, die buddhistische Lehrstätte in Rumtek am Sitz des Karmapa. Es wurde zu seiner Aufgabe, nach dem Vorbild der früheren Karmapas, die besondere Lehr-und Lerntradition der Karma-Kagyu-Überlieferung wiederzubeleben. Viele der großen Lehrer und Tulkus dieser Tradition waren in jenem historischen ersten Jahrgang der Universität, den er dort persönlich unterwies. Schon früh im Laufe dieser ersten Jahre brachte er seine Schüler aus Ost und West zusammen. Besonders die Letzteren nahm er auch mit auf Reisen nach Indien, für viele Monate des Lernens und Übens in den Ausläufern des Himalaya. 

Während dieser immer intensiveren Lehrtätigkeit in Europa wies Khenpo Rinpoche jeden Versuch zurück, ihm für sich und seine Schüler einen Ort und Gebäude zu schenken, zur ständigen Bleibe. Es sei viel hilfreicher, sagte er, die bereits bestehenden Zentren zu bereisen, um dort auf Einladung hin Kurse anzubieten. Besitz und Habe führe nur zu Anhaften und Streit. Ohne nennenswerten eigenen Besitz pflegte er durch die Welt zu reisen und gab, was immer ihm geschenkt, an Projekte und andere zur Unterstützung des Lernens und Übens weiter. Die späteren Jahre seines Wirkens zogen den Radius weiter und verlagerten den Schwerpunkt seiner Lehrreisen nach Nordamerika. Er folgte Einladungen für viele längere Kurse mit Hunderten an Teilnehmern in den Zentren der Shambhala-Tradition und Dutzenden anderen Zentren, in großen und kleinsten Zentren dort, aber auch in anderen Teilen der Welt, um nur Malaysia, Singapore und Taiwan zu nennen. In diese Zeit fällt auch das, was vielen heute am meisten als augenfällig, oder ohrgefällig gegenwärtig ist: Seine Anregung, die tiefe Botschaft der spontanen Lehrgesänge Milarepas in westliche Sprachen als singbare Anleitung zu übersetzen – diese Melodien und Texte schwingen weiter in vielen Herzen über diese Welt verteilt. Und ebenso darunter fällt Lüjong, jene Kunst der kontemplativen Körperübungen, die er speziell als modernen Zugang für Schüler erschuf. Dann kam, von ihm selbst lange angekündigt, die Zeit, nicht alles stets von neuem zu erzählen. Die Zeit für ein Zeichen, dass Wissen ohne übendes Erleben ist, wie am gedeckten Tische zu verhungern. Die Zeit der überwiegend schweigenden Gegenwart, zuletzt im Nonnen-Kloster in Kathmandu, fühlbare Präsenz, ohne Wort und Zeichen. Zeit aber auch, seine sprühende Lehrtätigkeit zu vermissen und sich mit Eigenverantwortung vertraut zu machen. Am Beispiel Dzogchen Paltrul Rinpoches war ihm niemals die Anzahl der Schüler wichtig, einzig die Qualität und Tiefe des Lernens. In schlichter Lebensführung tadellos, den Geist des Wander-Yogis frisch erhalten, war er ein freier, unabhängiger Denker ohne Scheu und Voreingenommenheit, ein fürsorgender, höchst humorvoller Lehrmeister mit dem nötigen Maß an herzlicher Strenge und Klarheit. Erwachte Bewusstheit in Menschenkörper. Vorbild und zugänglich für alle, die sich verbunden fühlen und danach sehnen. Wo sein Körper von uns ging, bleibt sein Atem der heiteren Weisheit in uns – zeitlos, als Herausforderung und Ansporn, die Täuschung des Alltags zu durchdringen, um die eingeborene Fähigkeit zur Freiheit zu wecken, sie teilbar zu machen mit allen. Und dafür, unsere Zeit zu nutzen. Sein Gehen zeigt den Schmerz der Dringlichkeit. 

ein nahestehender Schüler

Link zur Nachricht vom Parinirvana von Khenchen Tsultrim Gyamtso Rinpoche

nalandabodhi.org/2024/06/25/the-parinirvaṇa-of-khenchen-tsultrim-gyamtso-rinpoche

English version of the message as PDF: Tribute-to-KTGR-English-translation