Zenfluencer Muho

Ein Interview mit Muho Noelke geführt von Bernhard Kleinschmidt veröffentlicht in der 3-2025 Computerwelten unter der Rubrik Schwerpunkt Computerwelten.

Der 57-jährige Zen-Priester Muho leitete viele Jahre das kleine Kloster Antaiji in einer abgelegenen Bergregion Japans. Heute lebt er mit seiner Familie in der Millionenstadt Osaka, schreibt Bücher, hält Vorträge und macht Youtube-Videos zu Zen-buddhistischen Themen. Mit mehr als 17 000 Abonnenten auf seinem Kanal gehört er zu den erfolgreichsten deutschsprachigen „Zenfluencern“. Bernhard Kleinschmidt traf ihn zum Interview. 

Porträt Muhio in traditionellem Gewand


Bernhard Kleinschmidt: Wie bist du zur Zen-Praxis gekommen?
Muho Nölke: Ausgelöst durch den Tod meiner Mutter, als ich sieben Jahre alt war, kam in mir die existentielle Frage auf, welchen Sinn das Leben hat, wenn wir doch am Ende ohnehin sterben. Weder mein Vater noch mein Lehrer in der Grundschule konnten mir diese Frage beantworten. Mit 16 Jahren probierte ich die Zen-Meditation aus und machte eine Entdeckung: Ich habe einen Körper. Das weiß zwar jedes Kind, aber ich habe diesen Körper damals zum ersten Mal als einen Teil von mir gespürt und mich darin zu Hause gefühlt. Es hat mich überrascht, dass ich 16 Jahre lang geatmet hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein. Meine zweite Entdeckung war Shakyamuni, der seinen Palast verließ, weil er erkannt hatte, dass das Leben Leiden ist, oder genauer gesagt dukkha – unzufriedenstellend. Er sprach mir aus der Seele: Endlich sagt mal jemand, was ich die ganze Zeit gespürt hatte. Da begann bei mir das Feuer zu brennen und ich wusste, ich möchte Buddhist werden und das Satori, die Erleuchtung, erleben. Nach dem Abitur wollte ich daher direkt nach Japan auswandern und Zen-Mönch werden. Aber ich habe zunächst noch Japanologie, Philosophie und Physik an der Freien Universität Berlin studiert. Danach wurde ich Mönch und später auch Abt des Klosters Antaiji. Ich glaube heute, dass ich ohne die frühe Begegnung mit dem Tod meinen Weg wahrscheinlich nicht so konsequent verfolgt hätte. 

Muho unterrichtet bei einem Yoga-Event in der Präfektur Iwate. Er sitzt vor einer Holzwand im Schneidersitz.
Muho unterrichtet bei einem Yoga-Event in der Präfektur Iwate


 
Du hast schon im Antaiji-Kloster gefilmt, wie ihr meditiert oder auf den Feldern arbeitet. Doch dann hast du angefangen, regelmäßig Videos auf Youtube zu veröffentlichen. Wie kam es dazu?
Das war 2020, als ich eine dreiwöchige Vortragsreise nach Deutschland wegen des Corona-Lockdowns absagen musste. Da habe ich extra für die Menschen, die zu den Vorträgen hatten kommen wollen, drei Wochen lang jeden Tag ein Video aufgenommen – damit sie nicht so enttäuscht wären. Ich setzte mich dazu in meine japanische Wohnküche, im T-Shirt, mit Toaster und Bügelbrett im Hintergrund, und nahm mit einer kleinen Canon-Kamera 12-minütige Videos auf. Recht bald begannen Leute in der Kommentarspalte darauf zu reagieren und Fragen zu stellen. Die lieferten mir jeden Tag ein neues Thema, über das ich sprechen konnte – zum Beispiel habe ich das Herz-Sutra erklärt, einen Text von Dogen besprochen und einen alten chinesischen Zen-Text erläutert. Es begann mir Spaß zu machen. Inzwischen poste ich zwar nicht mehr täglich, aber immer noch vier- bis fünfmal pro Woche. 
 


Heute hast du auf deinem Youtube-Kanal über 17 000 Follower:innen. Manche tragen persönliche Probleme und tiefgehende Lebensfragen vor. Wie gehst du mit der Verantwortung um, den Menschen zu antworten und ihnen oft auch einen Rat zu geben?
Natürlich trage ich die Verantwortung für die Inhalte auf meinem Youtube-Kanal, aber ich bin kein Psychotherapeut. Das betone ich auch immer wieder: Youtube kann keine Sangha und keinen Meister ersetzen, und nur weil ihr täglich meine Videos anschaut, seid ihr dadurch nicht automatisch Schülerinnen oder Schüler von mir. 
In meinen Videos spreche beispielsweise auch über Suizid, und man könnte in Sorge sein, ob das traumatisierend wirken kann. Aber es wird schwierig, noch irgendetwas zu sagen, wenn man auf alles Rücksicht nehmen soll, was jemanden stören oder verletzen könnte. Man kann nie wissen, was man bei den Zuhörenden ins Rollen bringt – bei hundert Menschen werden das hundert verschiedene Prozesse sein. Ich kann nur versuchen, die Wahrheit zu sagen und so authentisch wie möglich zu sein – und hoffen, dass es bei den Menschen mehr Positives als Negatives bewirkt.
 
Unter den Zuschauer:innen sind auch immer wieder Menschen, die dich und deine Aussagen kritisieren oder provozieren. Anstatt sie zu ignorieren oder zu blockieren, gehst du auch auf diese Leute ein. Warum?
Manche Leute suchen einfach nach Aufmerksamkeit oder Auseinandersetzung – zum Beispiel diskutiere ich oft mit emeritierten Professoren, die meinen, viel mehr Ahnung von Philosophie zu haben als ich. Und es gibt diese „Trolle“, die bewusst ärgern und die Kommentarspalte mit Provokationen aufmischen. Das nervt schon sehr. Ein anderes Thema ist LGBTQ+, da bin ich in einige Fettnäpfchen getreten. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass man mir eine Art Falle stellen will. Wahrscheinlich müsste ich nicht auf alles eingehen, aber wenn eine Frage etwas in mir anspricht, versuche ich eben, darauf zu reagieren. Beispielsweise gab es zur Corona-Zeit Fragen, ob ich geimpft sei oder ob ich auch einer von diesen „Sklavenwindelträgern“ sei. Wenn ich dann in meinen Videos darauf eingegangen bin, merkten wieder andere kritisch an, dass ich solchen Menschen keine Plattform geben
 solle. Ich fand es in Ordnung, diese Kommentare vorzulesen und etwas dazu zu sagen. Ich dachte, dass sie wahrscheinlich genauso wenig wie ich wissen, ob wir diese Maske wirklich brauchen oder man sich jetzt impfen lassen sollte oder nicht. Ich habe mich impfen lassen, aber ich habe eben auch Kommentare von Leuten vorgelesen, die sich nicht impfen lassen wollten. 
Einmal habe ich auch die Frage einer AfD-Wählerin erhalten, wie ich als Zen-Mönch dazu stehe, dass in Deutschland angeblich so viele Ausländer den deutschen Sozialstaat ausnutzen. Ich glaube nicht, dass man diesen Leuten das Gespräch verweigern sollte, und bin gerne bereit, auch mit Menschen zu diskutieren, die AfD-Thesen vertreten. Natürlich stelle ich dann meine linksliberale Sichtweise dar und erkläre, warum ich das anders sehe. Aber Angst, mit solchen
 zu sprechen, habe ich nicht. 

Muho in seinem YouTube-Video #Häppchen 1164 in einem weissen T-Shirt und mit einer Brille in der Hand.
Muho in seinem YouTube-Video #Häppchen 1164.


 
Ein Journalist hat einmal über dich gesagt, du habest ein starkes Sendungsbewusstsein. Stimmt das – und betreibst du deshalb diesen Youtube-Kanal?
Ja, das stimmt. Tatsächlich bin ich ein eher introvertierter Typ und nicht gern ständig mit Menschen zusammen. Aber wenn man lieber allein in seinem Zimmer ist, hat man wenig Gelegenheit zu „senden“ – außer eben über Youtube. Hier brauche ich nur Internet und eine Kamera und kann die ganze Welt „beglücken“. Vielleicht war ich schon immer so. Auch in der Schule habe ich den Klassenkasper gespielt und an der Video-AG teilgenommen. Es freut mich, wenn ich morgens aufstehe und sehe, wie viele sich das Video vom Vortag angesehen haben. Aber wenn nach einer Buchlesung all die Menschen zu mir kommen zum Signieren und mit mir reden möchten, kann ich das nur wenig genießen. Youtube ist ein ideales Medium für mich – da kann ich sein, wie ich bin. 
Es ist ja nicht so, dass ich die Menschheit zum Zen bekehren möchte. Mein Standpunkt ist einfach: Wer sich mit mir hinsetzen möchte, ist willkommen. Und wer sagt, das ist nichts für mich – auch gut. Es ist eher, das muss ich ehrlich sagen, meine narzisstische Seite: Ich möchte gesehen werden. Das widerspricht natürlich dem, was Zen eigentlich ist. Denn im Zen gibt es kein Ich, das gesehen werden kann. Und trotzdem: Ein Teil von mir freut sich, wenn ich sichtbar  bin[1] .

Muho in Karuizawa, im Garten des Prince Hotel. Er sitzt auf der Wiese am Fluss. Ihm gegenüber sitzen ungefähr 15 Personen im Schneidersitz unter Bäumen.
Muho in Karuizawa, im Garten des Prince Hotel


Aber es geht dir durchaus darum, bestimmte Inhalte zu vermitteln.
Ja, das stimmt. Ich sage immer wieder, Zen ist zu nichts gut, aber genau deshalb ist es wichtig, dass man es macht. Das Leben hat keinen Sinn, aber genau deshalb ist es schön. Aber im Grunde hat der Kanal keinen besonderen Sinn, außer dass es mir Spaß macht und meinen Zuschauerinnen und Zuschauern wahrscheinlich auch, sonst wären sie nicht immer noch dabei.
 
In deinem neuen, eher praxisorientierten Buch spielt das Thema Loslassen eine wichtige Rolle. Welche Technik zum Loslassen empfiehlst du?
Wenn Menschen davon sprechen, dass sie Gedanken loslassen wollen, meinen sie meistens, dass sie die Gedanken abschalten wollen. Sie glauben, Zazen würde bedeuten, alles Denken und den ganzen Stress loszuwerden. Je mehr man jedoch versucht etwas abzuschalten, desto stärker meldet es sich. Daher bedeutet Loslassen,
 die Dinge zuzulassen. In dem Kontext verwende ich gern das Bild von einem Topf mit etwas Unangenehmem darin, dessen Deckel man abnimmt. Es stinkt dann erst einmal. Aber Loslassen bedeutet, genau diesen Gestank, die vorhandenen Gedanken und Emotionen, zuzulassen. Loslassen und Annehmen gehören zusammen.
Zulassen bedeutet dabei aber nicht, sich von dem, was man denkt, mitnehmen zu lassen. Man kann es damit vergleichen, eine Wolke am Himmel einfach treiben zu lassen oder sich auf dieser Wolke treiben zu lassen. Beim Zazen treibt man oft mit einer Wolke mit, ist in Gedanken und erkennt die Gedanken nicht als Gedanken. Bemerkt man dann, dass man abgedriftet ist, kritisiert man sich dafür. Aber tatsächlich ist der Moment dieses Erkennens fast schon ein kleines Satori: Man hat den Gedanken als Gedanken erkannt, und in dem Moment ist man wieder da. Die Gedanken treiben zu lassen, ohne selbst mitzutreiben – das ist für mich Loslassen und Annehmen. Das ist die Praxis, um die es 
geht. 
 
Eine Gedankenart, die du ansprichst, ist der Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“.
Auch das ist lediglich ein Gedanke. Es bedeutet nicht, dass du wirklich nicht gut genug bist. Es geht weniger darum, wie du bist, sondern das Wichtigste ist: Du bist. Das klingt vielleicht trivial, ist aber etwas, das wir oft vergessen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat es ähnlich formuliert: Nicht wie die Welt ist, sondern dass sie ist, ist das Mysterium. Und was er über die Welt sagt, gilt letztlich auch für uns selbst. Es ist nicht das Wie meines Seins, das mich besonders macht, sondern schlicht, dass ich bin. Darum geht es im Kern. 
Aber es ist  schon auch wichtig zu erkennen, wenn man selbst vielleicht nicht so gut ist, wie man es gerne hätte. Niemand ist frei von Fehlern. Die unangenehmsten Menschen sind für mich diejenigen, die nie auf die Idee kommen, dass sie vielleicht nicht so gut sind, wie sie glauben. Ein Beispiel dafür ist Donald Trump – jemand, der sein Verhalten offenbar sehr selten hinterfragt. Scham und Schuld sind Gefühle, über die ich oft spreche, weil sie in unserer Gesellschaft häufig verteufelt werden. Viele wollen sich für nichts schämen müssen. Aber warum eigentlich? Scham kann eine wertvolle Gelegenheit sein, Demut zu üben. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht perfekt sind, und macht uns zu angenehmeren, mitfühlenderen Menschen.


Tatsächlich wissen wir oft nicht, ob wir wirklich okay sind. Vielleicht hat der kleine Olaf immer noch Angst vor dem Tod. Doch anstatt zu sagen: „Das geht nicht, du praktizierst doch Zen, solche Gedanken darfst du nicht mehr haben“, wird, in dem Moment, wo wir das anerkennen, jener Teil von uns präsent, der einfach nur ist, der in sich ruht und in seinem Zuhause angekommen ist. Im Zen wird er manchmal als „Elterngeist“ bezeichnet. Dieser Geist lässt auch die ängstlichen Gedanken zu. Sie sitzen auf seinem Schoß und er weiß: Allein, dass ich bin, reicht aus. Ich muss nicht gut sein, nicht besser, nicht gleich gut. Wenn ich die inneren Kinder annehme und liebevoll auf meinen Schoß setze, entsteht in mir ein neuer Raum.
 
Vielen Dank für das Gespräch! 
 

Muho Nölke, geboren 1968 in Berlin als Jens Olaf Christian Nölke, ist einer der bekanntesten deutschen Zen-Meister der Gegenwart. Er wurde in der Sōtō-Zen-Tradition im japanischen Kloster Antaiji zum Mönch ordiniert und war von 2002 bis 2020 als erster und bislang einziger deutscher Abt dieses traditionsreichen Klosters tätig. Nach seiner Zeit als Abt lebt er heute mit seiner Familie in Osaka, wo er eine kleine Zen- und Studiengruppe leitet. Als Autor hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch, „Alles, was du denkst, sind nur Gedanken: Ballast loswerden und im Jetzt ankommen“, erschien im Mai 2025 bei O.W. Barth.

Weitere Informationen

Youtube-Kanal von Muho: youtube.com/@muho
Aktuelle Termine in Deutschland mit Muho: muhode.hatenablog.com 
 
 
FÜR DIE AUTORENSEITE
Bernhard Kleinschmidt praktiziert Zen und Vipassana, geleitet von Jeff Shore, James Baraz und Muho. Er hat fünf Jahre in Japan gelebt, ist Lehrer für Awakening Joy und im Hauptberuf Literaturübersetzer.
 
 
 
 
 

Sehr schön, diese Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis!

Muho Noelke

geboren 1968 in Berlin als Jens Olaf Christian Nölke, ist einer der bekanntesten deutschen Zen-Meister der Gegenwart. Er wurde in der Soto-Zen-Tradition im japanischen Kloster Antaiji zum Mönch ordiniert und war von 2002 bis 2020 als erster und bislang einziger deutscher Abt dieses traditionsreichen Klosters tätig. Nach seiner Zeit als Abt lebt er heute mit seiner Familie in Osaka, wo er eine kleine Zen- und Studiengruppe leitet. Als Autor hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch, „Alles, was du denkst, sind nur Gedanken – Ballast loswerden und im Jetzt ankommen“, ist im Mai 2025 bei O.W. Barth erschienen.

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