Wo sollen wir eine Grenze ziehen? Was gehört in diesem Augenblick nicht dazu?

Ein Beitrag von Tatsudo Nicole Baden Roshi veröffentlicht in der Ausgabe 2021/4 Verbundenheit unter der Rubrik Verbundenheit.

Tatsudo Nicole Baden Roshi über eine Weltsicht, die nichts mehr voneinander trennt.

Für die Zen-Praxis ist es am besten, wenn wir bereit sind, eine tiefe Vertrautheit mit uns selbst und der Welt zu entwickeln. Obwohl wir Menschen wunderbare Potenziale haben, nützen große Ambitionen in der Zen-Praxis nichts. Die Meditation entfaltet ihre Kraft, wenn wir für alles, was auftaucht, offen sind. Wir leben unser Leben nicht planlos, aber von Augenblick zu Augenblick. Wir lassen uns zutiefst von den Dingen und anderen Wesen berühren, aber wir wissen, dass sich alles ständig verändert. Wir wissen, dass wir letzten Endes nichts dauerhaft festhalten können, nicht einmal uns selbst.

Zen-Praxis beginnt, wenn wir erkennen, dass unser Erleben der Welt nicht „die eine wahre Welt“ ist, sondern einfach unser eigenes Erleben. Wie und sogar was wir wahrnehmen, wird von unserer Weltsicht gefiltert und gefärbt. Sie zu untersuchen ist ein Weg, auf dem wir, Schritt für Schritt, uns selbst und der Welt näherkommen können.

Ich schreibe „gefiltert“, obwohl dieser Begriff dem tatsächlichen Prozess nicht gerecht wird: In jedem Augenblick, egal wo Sie gerade sind, befinden Sie sich inmitten eines Meeres potenzieller Informationen. Einige davon stehen im Vordergrund Ihres Erlebens. Da Sie jetzt gerade diesen Text lesen, kann ich davon ausgehen, dass all das gerade eine vordergründige Stellung in Ihrem Erleben einnimmt: die geschriebenen Worte, das innere Verstimmlichen dieser Worte, der Prozess des Nachvollziehens und Erfassens, vielleicht der Prozess der Bewertung und Einordnung der erfassten Inhalte, die Art und Weise, wie sich das Buch in Ihren Händen anfühlt. Zwischendurch schießen Ihnen vielleicht Gedanken aus einer vorangehenden oder einer bald folgenden Situation durch den Kopf. Vielleicht juckt es irgendwo, oder Sie bekommen Durst und greifen nach Ihrer Tasse. Kurzzeitig bahnt sich eine neue Information, eine neue Aufforderung, ein neuer Gedanke, ein neues Gefühl oder ein neuer Sinneseindruck den Weg in Ihr bewusstes Erleben. 

Während sich im Vordergrund eine zusammenhängende und beschreibbare Situation abspielt, schlummern und flirren Unmengen potenzieller Informationen im Hintergrund. Einige davon prägen Ihre Stimmung in diesem Augenblick, wie vielleicht die Lichtverhältnisse im Raum oder einsetzender Hunger. Einige kommen aus Ihrem Inneren, andere aus dem sogenannten Außen. Und einige sind vorhanden, obwohl sie für Ihre Sinne nicht wahrnehmbar sind. Funkwellen, zum Beispiel, die Ihr Handy empfängt. Oder Gerüche, auf die Ihr Hund reagiert. 

Wir filtern und trennen Informationen nicht so, wie ein Sieb es tut, sondern eher im Sinne einer dynamischen Organisation: so, wie man in der Kamera eines neueren Smartphones einen Fokus scharf stellen kann, während das Umfeld verschwimmt. Man kann einen Farbfilter über das Bild legen oder Dinge verzerren. Man kann einige Bereiche hell beleuchten, andere verdunkeln. Und abgesehen davon wählt man natürlich, welcher Bildausschnitt fotografiert wird.

Die Vielschichtigkeit des eigenen Erlebens studieren

Erst wenn wir unsere Filter identifizieren, können wir uns von ihnen befreien. Sie geben uns vielleicht eine Orientierung, aber sie begrenzen uns auch in unseren Möglichkeiten. Es kann hilfreich sein, die folgenden drei Kategorien voneinander zu unterscheiden: persönlich-biografische Filter, kulturelle Filter und genetisch-biologische Filter.

Der persönlich-biografische Filter. Häufig interpretieren wir Situationen nicht sachlich, sondern eher vor dem Hintergrund unserer biografischen Prägungen. Einige Muster haben sich als tiefe Glaubenssätze in unserem Leben abgesetzt. Beispiele dafür sind innere Überzeugungen, wie „Ich bin nicht gut genug“, „Ich muss stark sein“, „Ich muss es allen recht machen“, „Ich muss mich beweisen“, „Mir geschieht Unrecht“, „Ich weiß es sowieso besser“ und viele mehr. Einige Menschen sind grundsätzlich skeptisch, andere grundsätzlich leichtgläubig. Wir alle tragen unsere ganz persönliche Zusammenstellung von Prägungen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, mehr oder weniger bewusst mit uns herum.

Wenn wir unsere persönlichen Tendenzen und Wahrnehmungsfilter genauer untersuchen, lernen wir uns selbst besser kennen und können beginnen, sie zu durchschauen. Obwohl unsere Wahrnehmung nicht zu „absoluten Wahrheiten“ führt, ist sie dennoch nicht willkürlich. Wenn wir lernen, mit unserer Aufmerksamkeit nah an der sinnlichen Wahrnehmung zu bleiben, Automatismen in unseren Interpretationen und Bewertungen zu unterbinden und durch reflektierte Prozesse zu ersetzen, werden wir spüren, dass unser Denken, Fühlen und Handeln größere Klarheit und Autorität gewinnen. 

Tatsudo Nicole Baden Roshi

Der kulturelle Filter. Unter unseren persönlichen Sichtweisen liegen kulturell geprägte Grundannahmen. Selbst unterschiedliche Strömungen innerhalb einer Kultur mit unterschiedlichen Werten und Überzeugungen teilen normalerweise ein noch grundlegenderes Welt- und Realitätsverständnis. Der kulturelle Filter ist allerdings viel schwieriger zu sehen als der persönlich-biografische, solange wir uns inmitten unserer eigenen Kultur bewegen. Erst wenn wir uns über längere Zeit in eine andere Kultur einleben, können wir Kontraste sehen. In der Zen-Praxis legen wir deshalb Wert auf den Kontakt mit einer Gemeinschaft und einem Praxiszentrum. Der Praxisort kann dann die Funktion einer kleinen Insel inmitten unserer westlichen Kultur einnehmen. Auf dieser Insel können wir eher einen Abstand zu kulturellen Grundannahmen gewinnen und sie neu für uns prüfen.

Der biologisch-genetische Filter. Wir nehmen nur das wahr, was unsere menschlichen Wahrnehmungsorgane verarbeiten können. Alle anderen Informationen liegen jenseits unseres sensorischen Horizonts. Wir erleben eine ausschließlich menschliche Welt. Fledermäuse, Bienen, Falken, Gräser, Tiger, Hunde und Katzen leben mit einem je anderen sensorischen Horizont. Wir wissen nicht, wie komplex und vielschichtig „die Welt“ tatsächlich ist. Wir wissen nur mit Sicherheit, dass sie weit über unseren menschlichen, kulturellen und persönlichen Ausschnitt hinausreicht. Im Hintergrund unserer Wahrnehmung liegen weitere Hintergründe. Sie sind Teil von allem, auch von uns. 

Welche Sichtweisen und Grundannahmen sind nun besonders förderlich, wenn wir die Praxis der Meditation kultivieren möchten? Dazu möchte ich unsere gegenwärtige westliche mit einer „yogischen“ Weltsicht vergleichen – Yoga im Sinne seiner Wortherkunft als „Bund“ und „verbunden“ verstanden. Dabei geht es mir darum, die Konturen sichtbar zu machen, sodass wir wie bei einem Kippbild von der einen in die andere Weltsicht „hineinkippen“ können. Denn die Meditationspraxis im Sinne der ostasiatischen Lehren entfaltet sich anders und kraftvoller in einem Geist, der entsprechend der yogischen Sichtweisen strukturiert ist. Die Meditation basiert auf den yogischen Annahmen und führt uns gleichzeitig auch in die yogische Welt hinein, ist also zugleich der Samen und die Frucht dieser Welt.

Raum, Zeit und Kausalität in der westlichen Kultur

In der westlichen Kultur behandeln wir Raum wie einen Container. Dinge sind im Raum. Der Raum selbst ist leer und bleibt derselbe, unabhängig davon, welche Dinge ihn bevölkern. In unserer Vorstellung bleibt der Raum, in dem wir uns gerade befinden, derselbe, auch wenn wir aufstehen und ihn verlassen. 

Zeit ist in unserem Weltbild die chronologische, lineare, mit der Uhr messbare Zeit. Sie verläuft von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, und selbstverständlich ist sie nicht umkehrbar. 

Raum und Zeit empfinden wir als zwei unterschiedliche Dinge. So ist Aktivität auch nicht Teil des Raumes, sondern etwas, was im Raum geschieht, während der Raum unberührt davon derselbe bleibt.

Was die Kausalität betrifft, so hat die Metapher des Universums als großes Uhrenwerk noch immer einen recht großen Einfluss auf unsere Denkstrukturen. Auch wenn wir wissen, dass die meisten Dinge mehr als eine Ursache haben, glauben wir doch, dass es so etwas gibt wie eine Hauptursache. Wir fragen: „Warum?“, und geben uns meist mit einemguten Grund zufrieden. 

Egal wo Sie nun sitzen, während Sie diesen Text lesen: Können Sie dieses Raum-Zeit-Kausalitätsverständnis nachempfinden? Wenn ja, dann können Sie nun schauen, ob die folgenden Ideen einen spürbaren Unterschied in Ihrem Erleben hervorrufen.

Raum, Zeit und Kausalität in einer yogischen Kultur

Ich bin Raum. Alle Dinge sind Raum. Raum ist nicht getrennt von den Dingen, sondern die Dinge schaffen den Raum. Was jetzt hier geschieht, ist Raum.

Jeder Augenblick dieses Jetzt-hier-Seins ist einzigartig und wird niemals wiederkehren. Zeit ist die Aktivität des Raumes. Zeit, Raum und mein Jetzt-hier-Sein sind die einzige Realität, die es gibt. Es gibt nichts außerhalb dieses Augenblicks.

Und: Alle Dinge haben zusammengewirkt, um diesen Moment hervorzubringen. Meine Eltern, meine Großeltern, meine Freundinnen und Freunde, mein gesamtes Leben hat mich hervorgebracht, so wie ich jetzt hier bin. Das Papier ist nicht getrennt von den Bäumen, aus denen es hergestellt worden ist, und nicht getrennt von der Aktivität der Menschen, die es hergestellt haben. Die Bäume enthalten die Sonnenstrahlen, den Regen, den Boden und alles andere, was sie hat wachsen lassen … Wo sollen wir eine Grenze ziehen? Was gehört in diesem Augenblick nicht dazu? 

In diesem Weltbild gibt es keine Grenzen. Mit jedem Atemzug, zum Beispiel, atmen wir ein Molekül von Cäsars letztem Atemzug ein – falls es stimmt, dass dieser sich in den vergangen zweitausend Jahren gleichmäßig über den Planeten verteilt hat. Auch wenn wir diese Moleküle nicht wahrnehmen können, sind sie doch Teil dieses Augenblicks. Wir müssen etwas nicht identifizieren können, damit es Teil sein kann. Es genügt, wenn wir in unserem Empfinden keine Grenzen ziehen. 

In einer yogischen Weltsicht gibt es das Bild von „Indras Netz“: Das gesamte Universum ist, davon erzählt die indische Mythologie, ein riesiges Netz. In jedem Knotenpunkt sitzt ein glasklares Juwel, das jedes andere Juwel des Netzes spiegelt. Wenn sich an einem Ort des Netzes etwas verändert, dann verändert sich alles – zumindest ein bisschen. 

Dieses Weltbild ist geprägt von Komplexität und Unvorhersehbarkeit.

Wir können uns in dieses Weltbild „hineinkippen“, wenn wir zum Beispiel mit Wendesätzen arbeiten wie „Raum verbindet“ – statt die Vorstellung zu pflegen, dass Raum die Dinge voneinander trennt. Wenn wir auf dem Weg zur Arbeit bemerken, dass wir den Augenblick als „Noch-nicht-da-Sein“ empfinden, können wir uns daran erinnern, dass wir gleichzeitig auch jetzt hier sind. Statt in die Zukunft zu gehen (lineare Zeit), können wir die Zukunft in ihrer Unvorhersehbarkeit auf uns zukommen lassen (yogische Raum-Zeit). 

Im Raum unserer Potenziale leben 

Die Kippbewegung in die yogische Weltsicht hat vielschichtige Auswirkungen. Welche Weltsichten wir kultivieren, ist vielleicht eine der grundlegendsten Entscheidung unseres Lebens. Doch woran können wir uns in unserer Entwicklung orientieren? In der Zen-buddhistischen Praxis und mit meinem Lehrer Zentatsu Baker Roshi antworten wir darauf mit den vier wichtigsten Potenzialen der menschlichen Existenz:

  1. Erwachen – und damit die tiefgreifende Veränderung der eigenen Strukturen – ist möglich. Wenn wir an diese Möglichkeit nicht wirklich glauben, für uns selbst und für andere, können wir die vielen kleinen Momente, in denen sich Veränderung zeigt, nicht sehen.
  2. Es ist möglich, frei von geistigem und emotionalem Leiden zu sein. Körperlicher Schmerz, Alter und Tod sind unausweichlich. Doch es ist möglich, einen Geist zu entwickeln, der mit allem was geschieht, umgehen kann.
  3. Es ist möglich, die eigene Aktivität kontinuierlich am Wohle aller auszurichten. Es ist nicht möglich, niemals einem Lebewesen Schaden zuzufügen. Das geschieht allein schon beim Zähneputzen. Doch als Intention ist die Haltung „nichts und niemandem Schaden zuzufügen“ ein Potenzial, das wir verwirklichen können.
  4. Es ist möglich, die eigene Aktivität daran auszurichten, wie wir und die Welt tatsächlich existieren. Wir wissen nicht, wie die Welt tatsächlich existiert. Aber wir können die Filter unseres Erlebens bemerken und studieren. Wenn wir das tun, wird sich ein klarerer Blick entwickeln, und diese Klarheit werden wir spüren.

Diese vier Punkte sind eine Vision für uns Menschen und unser Handeln in der Welt. Aus Zen-buddhistischer Sicht haben wir alle dieses Potenzial. Als Praktizierende verbinden wir uns mit unseren eigenen Potenzialen und den Potenzialen anderer, und wir geloben, damit niemals aufzuhören.

Mit tiefem Dank an meinen Lehrer Zentatsu Baker Roshi und meinen Mentor Peter Gottwald.

Literaturhinweis

Der Beitrag beruht auf einem etwas längeren Beitrag von Tatsudo Nicole Baden Roshi in dem Buch „Meditation und die Zukunft der Bildung – Spiritualität und Wissenschaft“, herausgegeben von Reiner Frey, Beltz Juventa 2020.

Tatsudo Nicole Baden Roshi

geboren 1981, ist Dharma-Nachfolgerin von Zentatsu Baker Roshi. Sie hat Psychologie an der Universität Oldenburg studiert, lebte vier Jahre im Crestone Mountain Zen Center in Colorado, USA, und ist aktuell im Zen Buddhistischen Zentrum Schwarzwald als Direktorin für die organisatorische Leitung zuständig.

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