Wir müssen einander vertrauen lernen

Ein Interview mit Cara Rasmuß, Helen Birnbaum, Munir Uriell Shohet, Ronny Elli geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2015/1 Gemeinschaft unter der Rubrik Im Gespräch.

Nach einem Retreat im Intersein-Zentrum „Haus Maitreya“ kam auf Initiative der Berlinerin Cara Rasmuß hin eine Gruppe aus der israelischen Thich-Nhat-Hanh-Sangha für einige Tage nach Berlin. Für sie war es sehr faszinierend, eine Stadt zu besuchen, die viele Jahre durch eine Mauer geteilt gewesen war und die dann Schauplatz einer friedlichen Wiedervereinigung wurde. Einen Tag vor ihrer Abreise trafen wir uns zu einem Gespräch über den Buddhismus in Israel und die Herausfor derungen im Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern.

© Cara Rasmuß

Ursula Richard: Hierzulande ist recht wenig über den Buddhismus in Israel bekannt. Können Sie ein bisschen davon erzählen?

Ronny Elli: Der Buddhismus begann, sich in den 70er-Jahren in Israel zu verbreiten. Seit ca. 30 Jahren existieren drei große buddhistische Gruppierungen, die Retreats anbieten sowie Lehrer aus dem Westen und aus Asien einladen. Eine dieser Organisationen ist Tovana, die in der Vipassana-Tradition steht. Eine andere ist The Friends of the Dharma, die tibetisch orientiert ist. Und dann gibt es noch die Community of Mindful Living, die Gruppe um Thich Nhat Hanh. Es gibt mittlerweile aber das ganze Spektrum an Gruppierungen aller buddhistischen Traditionen. Der Buddhismus zieht immer mehr Menschen in Israel an. Besonders die Achtsamkeitskurse stoßen an den Universitäten auf großes Interesse. Auch andere alternative Ansätze, z. B. die traditionelle chinesische Medizin, sind in den letzten Jahren in Tel Aviv und im Norden Israels sehr populär geworden. Es gibt eine Überschneidung der Szenen. Immer mehr Menschen mit Meditationserfahrung beginnen, sich auch philosophisch für den Buddhismus zu interessieren. Das Interesse an Gesundheit und das an Spiritualität verbinden sich.

UR: Sie praktizieren engagierten Buddhismus. Sie erleben große Spannungen im israelischen Alltag. Inwiefern hilft Ihnen die buddhistische Praxis, mit diesen Spannungen umzugehen?

Munir Uriell Shohet: Sicher sprechen Sie den israelisch-palästinensischen Konflikt an. Doch für mich persönlich ist dieser Konflikt nicht erstrangig. Für die meisten Menschen in Israel ist der größte Konflikt der für den Kapitalismus typische Überlebenskampf: erfolgreich sein müssen, Geld verdienen, den Lebensstandard halten usw. Der israelisch-palästinensische Konflikt folgt auf Platz 2 oder 3.

 Helen Birnbaum: Die Anhänger rechter Parteien sind sehr stark. Sie bekämpfen aktiv die Bewegung linker Parteien gegen den Krieg. Sie bedrohen Journalisten und verbreiten Angst. Ich befürchte, nach der nächsten Wahl werden die religiösen Parteien in Israel die Macht ganz an sich reißen. Der Krieg vereint immer wieder alle Israelis. Krieg ist immer der große Gleichmacher. 2011 demonstrierten viele junge Leute in Tel Aviv gegen ihre prekäre ökonomische Situation. Bis zu eine halbe Million Menschen demonstrierten damals und forderten vieles von der Regierung. Doch es passierte nichts. Alles, was geschah, war ein erneuter Krieg in Gaza. Und alle standen wieder hinter der Regierung. Doch immer öfter wird inzwischen die Frage gestellt: Was tun wir hier eigentlich? Gibt es keinen anderen Weg, unsere Probleme zu lösen, als einen Krieg zu führen? Seit Kurzem höre ich zum ersten Mal Menschen sagen: „Wir brauchen Dialog statt Bomben.“ Doch die Bevölkerung ist sehr polarisiert. Inzwischen gibt es einen völligen Vertrauensverlust. Wenn von Waffenstillstand gesprochen wird, geht der Krieg trotzdem weiter. Wir vertrauen ihnen nicht und sie uns nicht. So geht der Konflikt endlos weiter.

 RE: Während des Retreats bei Karl Riedl, jetzt hier in Deutschland, wurden wir vor die Aufgabe gestellt: Vertraut einander! Mehr als 80 Prozent der Teilnehmenden kamen aus Israel. Er forderte uns auf, einander zu vertrauen und daran zu glauben, dass jeder sein Bestes tut. Es geht darum, daran zu glauben, dass alles möglich ist, und diese Überzeugung auf den Konflikt mit den Arabern auszuweiten. Ich habe unweit von Jaffa gelebt. Unsere Nachbarn waren Araber. Wir standen in ständigem Austausch. Heute herrscht allgemeines Misstrauen.

 HB: Misstrauen kann unter den Bedingungen von Krieg nur sehr schwer überwunden werden. Wir bombardieren die Araber. Wie kann uns dann noch ein arabischer Nachbar vertrauen? Unsere Bomben sind immer stärker als ihre Raketen.

 MUS: Das stimmt. Aber trotzdem: Am siebten Tag der Bombardierung und bevor die IDF (die israelische Armee) in Gaza einmarschierte, hatten wir im Haus eines Muslims, der eine Jüdin geheiratet hat, ein Treffen. Er ist sehr aktiv im arabisch-jüdischen Dialog. Viele Menschen, ca. fünfzig, kamen, nachdem sie durch E-Mails und Telefonate vom Treffen erfahren hatten. Über das Internet hatten wir einen Palästinenser in Gaza dazugeschaltet, und wir hörten im Hintergrund die Bombardierung. Auch israelische Araber kamen hinzu. Vor zwei, drei Jahren wäre noch kein Israeli zu solch einem Treffen gekommen. Doch inzwischen ist ein Fortschritt zu beobachten.

UR: Gibt es Araber in Ihren Sanghas?

 HB: Sehr wenige. Es gibt einen aus Bethlehem, wo es eine christlich-arabische Bevölkerungsgruppe gibt. Es gibt viele Friedensgruppen. Wie Bruce Lipton einmal sagte: Menschen machen Frieden, nicht Regierungen. In Israel gibt es rund 100 Gruppen und Organisationen, die für den Frieden tätig sind, und das macht Hoffnung. In Tel Aviv gibt es eine israelisch-arabische Organisation, die in großen Buchstaben den Slogan in der Öffentlichkeit verbreitet hat: „Es wird niemals aufhören, bis wir beginnen, miteinander zu sprechen.“ Die Initiative wurde von arabischen und israelischen Familien getragen, die Familienmitglieder bei terroristischen Anschlägen und in den Kriegen verloren haben. Jeder konnte an ein Mikrofon treten und seine Geschichte erzählen. Ein junger Mann stand auf und begann zu schimpfen: „Wie könnt ihr zu denen sprechen…“ Ein anderer Mann lud ihn ein, ans Mikrofon zu kommen und zu sagen, was immer er wolle. Dann fragte er ihn, ob er sich seine Meinung anhören wolle. Doch er wollte nicht. Andere trauten sich und erzählten von ihrer Angst vor Raketen. Schließlich trat ein Mann vor, der etwas sehr Wahres sagte: „Es gibt etwas, das stärker als unsere Armee und unsere Bomben ist, und das ist die Notwendigkeit der Freiheit.“ Yitzak Rabin kämpfte so sehr für den Frieden. Doch während er für den Frieden arbeitete, explodierten weiter Bomben in unseren Bussen. Er hielt Friedensreden und am nächsten Tag wurden wieder Israelis getötet. So wandten sich die Menschen irgendwann gegen ihn und sagten: „Du bringst uns in Gefahr.“ Es ist wirklich schwierig, Frieden zu schließen, doch es ist so, weil wir nicht die grundlegenden Bedürfnisse der anderen verstehen und sie nur als Bedrohung wahrnehmen.

 RE: Es muss mit Vertrauen beginnen. Ich vertraue Herrn X oder Frau Y. Das öffnet einen Raum für all diejenigen, die nicht so weitermachen wollen. Es bleibt ein Problem, dass der erste, der von einer halb geöffneten Tür profitiert, in der Regel nicht der Friedensstifter, sondern der Terrorist ist. Doch das Problem kann nicht gelöst werden, indem die Tunnel zerstört werden. Es muss durch Dialog angegangen werden.

UR: Worauf hoffen Sie?

 HB: Ich vertraue den jungen Menschen. Immer noch gibt es viele junge Männer, die sich den Kampfeinheiten der Armee an – schließen. Aber es gibt auch diejenigen, die den Militärdienst verweigern und dafür ins Gefängnis gehen. Ich glaube an die jungen Menschen. Sie erkennen die Verlogenheit der politisch Verantwortlichen. Aber es wird vielleicht länger als eine Generation dauern, bis wir lernen, Frieden zu schließen ohne Krieg.

 MUS: Ich hoffe, nicht. Ich erlebte kürzlich während des Treffens in Jaffa, über das ich bereits sprach, etwas Hoffnungsvolles. Es gibt, jenseits der grünen Linie, unter den Siedlern eine Gemeinschaft um den jüngst verstorben Rabbi Furman, der die Idee propagierte, dass Israelis mit Arabern zusammenleben sollten. Er etablierte eine von beiden Seiten gelebte und anerkannte Gemeinschaft von Israelis und Arabern. Während unseres Treffens trat ein junger Mann auf, den ich dem äußersten rechten Spektrum zuordnete, der sich jedoch als Anhänger der Furman-Gemeinschaft zu erkennen gab. Gerade waren drei israelische Studenten verschleppt und getötet worden und im Gegenzug war ein arabischer Jugendlicher entführt und getötet worden. Der junge Mann sagte: „Das ist nicht die Art, in der wir miteinander umgehen wollen. Wir wollen uns mit Arabern treffen, um miteinander zu reden.“ Er steht für eine Haltung, die die eigene Religion bewahren und gleichzeitig mit anderen in den Dialog treten möchte. Er hat mich sehr berührt.

 RE: Doch diese Gruppe und ihre Mitglieder sind leider eine kleine Minderheit. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Friedensprozess ein sehr langer Weg ist.

 MUS: Doch es kann auch so schnell geschehen, wie die Mauer in Deutschland gefallen ist.

 UR: Ja, auch in Deutschland sind Veränderungen geschehen, wie wir sie niemals für möglich gehalten hätten.

 MUS: Ich war 17 Jahre alt, als der Sechs-Tage-Krieg ausbrach. Dieser Krieg war der Beginn der Okkupation. 1973 war ich gerade in der Armee. In der Westbank und in Gaza begann zu dieser Zeit die Vermischung der israelischen und arabischen Bevölkerung. Die Ökonomie wurde von beiden Bevölkerungsteilen bestimmt. Israelis und Araber arbeiteten zusammen. Als mein Vater starb, übernahm ich sein Geschäft. Ich hatte einen arabischen Angestellten, der die Schlüssel zur Kasse hatte. Manchmal kam er zu mir nach Hause und übernachtete auch bei uns. Das war die Normalität, wie ich sie jahrelang erlebte. Wir müssen zu dieser Normalität zurückfinden.

UR: Wie können Sie persönlich die buddhistischen Lehren in Ihrem Alltag lebendig erhalten? Was können Sie für sich tun?

 HB: Ich versuche, ein menschliches Wesen zu bleiben. Meine Antwort auf die Situation um mich herum ist, alle, sowohl Juden als auch Araber, respekt- und würdevoll zu behandeln.

 RE: Ich versuche, im Hier und Jetzt zu sein, Frieden in mir zu schaffen und Liebe zu geben. Auf diesem Weg möchte ich weitergehen.

 MUS: Für mich ist der Gedanke entscheidend, dass ich selbst ein menschliches Wesen bin und darin allen anderen Menschen gleiche. Also kann ich die gleiche Menschlichkeit von mir wie von anderen erwarten. Daraus entsteht Vertrauen in die Menschlichkeit.

 Cara Rasmuß: Wichtig ist mir auch der Gedanke, dass niemand Recht hat, sondern dass es verschiedene Wege gibt, ein Ziel zu erreichen.

Cara Rasmuß

Cara Rasmuß ist Therapeutin für Chinesische Medizin in Berlin und Autorin. Seit 2011 ist sie oft in Israel/Palästina unterwegs und unterstützt u. a. die Friedensarbeit von Eid Hathaleen aus Palästina und Eyal Shani aus Israel. Sie prak-tiziert in der Tradition von Thich Nhat Hanh.

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