Wie erklärst du Geist und Bewusstsein?

Ein Interview mit Santacitta Bhikkhuni geführt von Irmgard Kirchner veröffentlicht in der 3/2024 Geist unter der Rubrik Fragen an eine buddhistische Nonne.

Fragen an eine buddhistische Nonne

Die Autorin Irmgard Kirchner war schon mit der Ehrwürdigen Santacitta Bhikkhuni befreundet, als diese noch nicht ordiniert war und in Wien am Theater arbeitete. Für das Buch „Fang einfach an“ hat sie die Nonne interviewt, auch zu den Themen Geist und Bewusstsein. 

Irmgard Kirchner: Du hast einmal erwähnt, dass du deine Entscheidung, als Nonne zu leben, mehrmals überdacht und dich immer wieder dafür entschieden hast.

Santacitta Bhikkhuni: Manchmal werde ich gefragt, warum ich ein Leben in Entsagung lebe. Mir erscheint in dieser Hinsicht der Vergleich mit einer Spitzensportlerin passend. Sie hat eine regulierte Diät, trainiert viele Stunden, macht gewisse Sachen nicht und andere wiederum regelmäßig. Anstatt die Muskeln zu trainieren, trainiere ich meinen Geist. Das ist durch und durch freiwillig, kann aber von manchen Leuten, die sich nicht für diese Art von Sport interessieren, als extrem angesehen werden. Die halten jemanden, der so etwas macht, für verrückt. 

Irmgard Kirchner: Was ist der Geist? Kannst du diesen Begriff erklären? 

Santacitta Bhikkhuni: Es gibt Bewusstsein, das kannst du wie jeder Mensch selbst erfahren. Der Geist ist allerdings eines jener Phänomene, die die moderne Wissenschaft immer noch nicht wirklich erklären kann. Was ist der Geist? Wer erzeugt den Geist? Ist es das Gehirn? Man weiß es nicht, aber du erlebst deinen Geist in jedem Moment und kannst ihn beobachten. 

Das Ego ist die Summe der Gedankenmuster, die über unzählige Leben oder zumindest über dieses Leben aufgebaut wurden. Mit fortschreitender buddhistischer Praxis werden diese Muster immer mehr ausgedünnt, bis sie sich völlig aufgelöst haben. Voll erwachte Menschen haben immer noch einen Charakter, sie sind nicht alle gleich, aber es besteht kein Anhaften mehr. 

Für den dualistischen Geist ist es unmöglich, sich vorzustellen, wie das wirklich ist. Eine voll Erwachte wird noch so lange mit ihrem Körper leben, bis dieser stirbt und zu den Elementen zurückkehrt. Sie wird nach dem Erwachen weiterhin essen und trinken, zum Arzt gehen und die Zeitung lesen, aber sie identifiziert sich nicht länger mit diesen Vorgängen. Da sind nur diese beiden Prozesse, der Körper und der Geist, aber es gibt niemanden, dem sie angehören – sie sind einfach Teil der Natur. Es gibt keinen unveränderlichen Kern, der als Zentrum oder Identität erfahren wird. 

Wie kann man dualistisches Denken erklären? 

Sprache ist dualistisch. Du weißt zum Beispiel nur, was gut bedeutet, wenn du weißt, was schlecht bedeutet. Alle Worte haben ein Gegenwort – schwarz und weiß, gut und schlecht, groß und klein. Ich kann nicht absolut sagen: Ich bin klein. Klein im Verhältnis zu was oder wem? Im Verhältnis zu einer bestimmten Frau bin ich groß und im Verhältnis zu einer anderen bin ich klein. Kunst, etwa Poesie, kann sich manchmal über diese Dualismen erheben und hinwegsetzen. Da kommuniziert das, was sozusagen zwischen den Zeilen steht, was man nicht in Worte fassen kann. 

Unser Denken ist geprägt durch die Sprache. Wir denken in Worten. Die Hauptwörter sind dabei das größte Problem. Sie machen uns glauben, dass etwas wirklich ein separates Ding ist, getrennt von allen anderen. Das ist tief in uns eingeprägt. Würden wir über eine Uhr nicht als Uhr sprechen, sondern sagen: „es uhrt“ – also ein Verb verwenden –, käme das dem Momenthaften, dem Prozesshaften der Wirklichkeit auf jeden Fall näher. Sprache und Begriffe haben die Funktion, Komplexität zu reduzieren, damit wir leben und kommunizieren können. Es ist auch eine Reduktion von Komplexität, die Prozessnatur der Phänomene in die Sprache nicht miteinzubeziehen. Würden wir das tun, könnte unsere Welt ganz anders ausschauen. 

Wir haben einen Körper, wir müssen essen. Wir müssen uns in der Gesellschaft bewegen, wir müssen Regeln einhalten. Die Sprache ist dafür keine schlechte Lösung. Aber sie hat den Preis, dass unsere Sicht auf die Realität getrübt ist. Durch die buddhistische Praxis können wir dieser Trübung entgegenwirken. Das ist die Chance der menschlichen Geburt. 

Man kann die Wirkungen der Meditation im Gehirn nachweisen. Könnte man umgekehrt einen Bewusstseinswandel auch künstlich herstellen, wie man zum Beispiel eine Festplatte bespielt? 

Eben nicht. Man weiß bis heute nicht, was der Geist wirklich ist. Der Geist sitzt nicht nur im Gehirn, und Bewusstsein ist im ganzen Körper. Man sagt, der Körper sei eigentlich im Geist. Du spürst, dass du da sitzt und rundherum ist unendlicher Raum. Wenn ich hineinhöre in die Stille, öffnet sich mein Geist weit. Es gibt Zustände, in denen sich der Geist, das Bewusstsein oder das Gewahrsein – so kannst du das auch nennen – total weit öffnet. 

Die erste der Drei Zufluchten im Buddhismus bedeutet, in diesem Gewahrsein zu verweilen, anstatt sich auf das zu fokussieren, von dem wir entweder mehr oder weniger wollen. Wir sind angewiesen, uns des Drucks und Drängens von Gier und Aversion bewusst zu werden, ohne sofort mit einer vorschnellen Handlung darauf zu reagieren. Wenn uns etwas ein angenehmes Gefühl verschafft, versuchen wir, es festzuhalten. Wir fangen also an, in den Fluss des Lebens einzugreifen. Und wir greifen oft von einem sehr egoistischen Standpunkt aus ein. Die Klimakrise spiegelt uns das ganz klar wider. 

Es könnte sein, dass Homo sapiens sapiens seinen Lebensraum zerstört und ausstirbt. Bleibt dann unser Bewusstseinsstrom oder das Gewahrsein weiter auf der Erde? 

Es geht nicht nur um die Erde; der ganze Kosmos ist gewahr. Und es ist nicht unser Bewusstseinsstrom, es ist einfach Gewahrsein an sich. Das gehört niemandem. Gewahrsein an sich, was im Vajrayana unter anderem dharmakaya genannt wird oder in der thailändischen Waldtradition buddho, kann nicht verloren gehen. Es hat keinen Anfang und kein Ende. Es gibt viele Namen dafür. Im christlichen Glauben nennt man es zum Beispiel Gott, im Islam Allah und indigene Kulturen nennen es Great Spirit, Großer Geist. 

Ich habe keinen Zweifel, dass alles Existierende eine Form von Intelligenz ist, die wir intellektuell nicht wirklich verstehen oder begreifen können. Aber wir können die Sieben Erwachensfaktoren zum Erblühen bringen und dadurch alle Filter auflösen, die zwischen uns und dem, was man nicht wirklich benennen kann, sind. Das kann man in Momenten erfahren, in denen der Geist frei von allen Wünschen ist und einfach nur als Gewahrsein verweilt. 

Die Ehrwürdige Santacitta Bhikkhuni und Irmgard Kirchner

Ist das eine Sekunde der Erleuchtung? 

Ich sage lieber Erwachen. In diesem Moment sieht man die Dinge, wie sie wirklich sind. Das ist eine Kostprobe von Nirvana, von Nichtbedingtheit und Wunschlosigkeit, ein Moment von Klarsicht, in dem das Erleben nicht durch die eigenen Wünsche und Ängste verzerrt ist. Durch die Praxis der Meditation wird die Kapazität, als Gewahrsein bewusst zu verweilen, immer stärker und das Verweilen länger. 

Diese Art der Verbundenheit, das Sich-eingebunden-Fühlen in etwas Größeres als man selbst, wird als Bereicherung oder Geborgenheit erfahren, die durch Geld nicht erkauft werden kann. Dann wird die ganze Konsumwelt eher als Plage empfunden, man hat Freude an den sogenannten kleinen Dingen und verbringt gerne Zeit in der Natur. Spirituelle Praxis sollte ein Teil der Bildung werden. Wie schreiben und rechnen sollten wir auch lernen, wie wir mit den größeren Zusammenhängen des Daseins kommunizieren können.

Im Buddhismus ist immer wieder von Geistestraining die Rede. Wie kann ich mir das vorstellen? Was wird da konkret trainiert? 

Es werden gewisse Fähigkeiten oder Qualitäten des Geistes trainiert, die als die Sieben Erwachensfaktoren (bojjhanga) bezeichnet werden. Ich nenne sie hier einmal: Achtsamkeit, Interesse oder Wirklichkeitsergründung, Energie, Freude, Ruhe, Sammlung und Ausgeglichenheit. Diese Qualitäten hat jede und jeder rudimentär im eigenen Geist, da sie für jede Fertigkeit, die man erlernen will, gebraucht werden. 

Die kognitiven und emotionalen Schleier, durch die wir die Realität sehen, werden mit der Zeit immer dünner und weniger. Sie werden ausgedünnt und aufgelöst, bis nichts mehr von ihnen da ist. Durch das Nichtvorhandensein dieser Schleier sieht man die Dinge, wie sie wirklich sind. 

Wie geht man im Geistestraining mit Emotionen um? 

Es ist wichtig, sich seine Emotionen wirklich mit Interesse anzuschauen. Sich selbst dieses Wohlwollen entgegenzubringen und diesen Raum zu geben, damit sich zeigt, welche zum Teil unbewussten Tendenzen im Geist angelegt sind. Wenn man diesen Selbstheilungsprozess zulässt, werden sich Lösungen von selbst finden. Körper und Geist wissen, wie es geht, aber ohne Gewahrsein und Raum wird die Transformation nicht stattfinden können.

Starke Emotionen, insbesondere solche, die man nicht haben will, können zu Wegweisern werden. Sie zeigen dir, wo du stehst. Du kannst viel lernen, wenn du dich diesen Verstrickungen mit Wohlwollen zuwendest, ohne den Wunsch, schon woanders zu sein, nämlich da, wo diese Emotionen nicht mehr sind. Eine emotional unangenehme Situation kann zur Chance werden, die Vergangenheit abzustreifen, anstatt sie endlos zu wiederholen. Das Wichtigste ist, diese Empfindungen nicht zu unterdrücken und sie einfach da sein zu lassen. Beeinflussen kann man nur, wie man sich auf die momentane Erfahrung bezieht. Und Emotionen sind – wie alles – vergänglich. 

Wenn ich dich um deinen Rat frage, wie ich mit der buddhistischen Praxis beginnen soll, was würdest du empfehlen?

Fang einfach an! Durch das Anfangen hast du die persönliche Erfahrung, die in dir Kraft freisetzt, und dadurch geht es immer irgendwie weiter. Die Drei Zufluchten sind eine Art Navigationssystem. Wenn du keine Ideale, keine Vision und keine Ziele hast, verlierst du dich und gehst im Kreis. Gleichzeitig musst du aber auch immer wieder auf den Boden deines Weges schauen, ob da ein Loch oder irgendein anderes Hindernis auftaucht. Du musst immer beides im Auge haben. Das ist der Mittlere Weg. 

Viele Menschen, so wie ich, fangen an zu meditieren, fallen dann für lange Phasen raus, fangen wieder an. Gibt es in so einem Fall Fortschritte oder ist die ganze Bemühung vergeblich, wenn ich nicht wirklich konsequent regelmäßig praktiziere? 

Es ist nie vergeblich. Aber allgemein lässt sich das schwer sagen. Deine spirituelle Entwicklung hängt nicht nur davon ab, wie viel Energie du in diesem Leben in die Praxis steckst. Sie hängt auch davon ab, wie viel Verdienst du in früheren Leben bereits angesammelt hast, mit welchen Qualitäten des Geistes und des Herzens du dieses Mal geboren wurdest. 

Wir fangen also nie bei null an? 

Nein, wir stehen nicht als unbeschriebene Blätter gleich an der Startline. Es kann sein, dass jemand fünfmal meditiert und dann gleich in den Strom eintritt. Ich habe öfters von Lehrern gehört, dass Menschen in Asien viel mehr Glauben und Vertrauen in die Lehre haben. Und es gibt dort allgemein kulturell bedingt großen Respekt vor dem buddhistischen Klerus, speziell bei ganz einfachen Menschen auf dem Land. Wenn zum Beispiel ein Reisbauer zu einem Lehrer geht und der sagt ihm: Hör auf zu denken und schau nur auf deinen Atem! Dann macht der das einfach. Während ein anderer, zum Beispiel ein Universitätsprofessor aus den USA, der alle buddhistischen Bücher auswendig kennt, sich hinsetzt und an seinem komplexen Geist verzweifelt. Und irgendwann gibt er auf und vielleicht passiert es dann. Aber der Reisbauer ist dann unter Umständen schon hundertmal weiter. Er zweifelt nicht an den Anweisungen und setzt sie eins zu eins um. Man weiß nie, welche Türen sich einem öffnen. Auf jeden Fall ist es sehr hilfreich, mit jemandem Zeit zu verbringen, der schon weiter voraus ist. 

BUCHCOVER

Irmgard Kirchner, Santacitta Bhikkhuni: „Fang einfach an! Wie mir meine Freundin den Buddhismus erklärt“, mit einem Vorwort von Jetsunma Tenzin Palmo, edition steinrich 2024

 

Santacitta Bhikkhuni

stammt aus Österreich und studierte Kulturanthropologie mit Schwerpunkt Tanz, Theater und Ritual in Wien. Eine Begegnung mit Ajahn Buddhadasa 1988 in Südthailand weckte ihr Interesse am Klosterleben und 1993 begann ihr Nonnentraining in England und Asien, vor allem in der Traditionslinie von Ajahn Chah. Seit 2002 empfängt sie auch Unterweisungen in der Traditionslinie von Dilgo Khyentse Rinpoche. Ayya Santacitta ist Mitbegründerin von Aloka Vihara Forest Monastery (alokavihara.org/deutsch) in Kalifornien und wurde 2011 als Bhikkhuni ordiniert.

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