Wer das Gegenteil von Frieden persönlich durchlitten hat, für den ist Frieden kein Luxus
Der innere Friede ist die Grundlage des Friedens in der Gesellschaft, betonen asiatische Friedensakteure. Der Religionswissenschaftler Martin Bauschke im Gespräch mit BUDDHISMUS aktuell über sein neues Buch „In den Spuren Buddhas und Gandhis – Friedensengagierte Buddhisten und Hindus“.
Wissen westliche Friedensstifter denn nichts vom inneren Frieden?
Martin Bauschke: Sie wissen es theoretisch, doch in der praktischen persönlichen Umsetzung ist es ihnen kaum vertraut. Im Westen versuchen nicht selten Menschen, die ganz viel Wut und Frust in sich tragen oder vielleicht in ihrer Familie große Probleme haben, in der weiten Welt etwas zu bewirken, was sie in ihrem eigenen Leben nicht auf die Reihe bekommen. Und hier sagen die asiatischen Friedensstifter: Das ist Selbstbetrug. Auch als Friedensakteur sollte ich mich, bevor ich beispielsweise auf eine politische Konferenz gehe, innerlich darauf vorbereiten und kann nicht einfach loslegen.
Hinzu kommt die Kultivierung des Mitgefühls, beispielsweise durch Metta-Meditation. In meinem Buch schildere ich ja ein Beispiel, in welch riesigem Maßstab man das in Asien antreffen kann: Wenn auf Sri Lanka 600 000 oder eine Million Menschen öffentlich Metta-Meditation machen, setzt das eine unglaubliche, spürbare Energie frei. Warum? Natürlich nur deshalb, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diese Meditation nicht zum ersten Mal praktizieren, sondern aus ihrer Kultur schon ganz viel Übung mitbringen.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es in den abrahamitischen Religionen. Ist das so anders?
Kann man Liebe befehlen? Kann ein Gott Liebe befehlen? Das war immer die Frage in der jüdischen, christlichen oder muslimischen Ethik: Wie bringe ich das denn fertig, wie befähige ich mich dazu? Und da hat der Buddhismus oder zumindest die Theravada-Richtung dieses wunderbare Instrument der Metta-Meditation, um die Öffnung des Herzens einzuüben. Ein vergleichbares Instrument gibt es in der Ethik der monotheistischen Religionen nicht. Am ehesten noch bei den Mystikern – aber die sind in ihren Religionen nicht der Mainstream.
Nun könnte man kritisch einwerfen: Wer auf dem Meditationskissen Metta übt, befindet sich noch lange nicht in einem mitfühlenden Handeln.
Die großen buddhistischen Friedensakteure, die ihren inneren Frieden tatsächlich gesellschaftsverändernd nach außen tragen oder getragen haben, kommen nicht aus abstrakten Übungen, sondern sind vom Gegenteil des Friedens – Gewalt und Krieg – auch am stärksten betroffen. Es ist kein Luxus, den sie sich leisten, sondern sie haben selbst am eigenen Körper das gesamte Register des Gegenteils von Frieden erleben müssen: weil sie mitten im Krieg waren, weil sie Angehörige, Freundinnen, Freunde verloren haben und um das nackte Überleben kämpfen mussten. Sie wissen ganz genau, was die Abwesenheit von Frieden bedeutet, und hatten womöglich gar keine andere Wahl, als zu sagen: Entweder ich gehe im Krieg unter, entweder ich beteilige mich als Kämpfer und Krieger, oder ich versuche, meinen inneren Frieden nach außen zu tragen.
Friedensengagierte Buddhistinnen und Buddhisten in den USA haben häufig einen jüdischen Hintergrund. Der Holocaust hat ihre eigene Familie getroffen, darum spüren auch sie die besondere Dringlichkeit, sich für den Frieden einzusetzen. Eine weitere Wurzel des friedensbewegten Buddhismus im Westen sind die Kriegstraumata, die US-Soldaten in Vietnam erlitten haben, ihre persönliche Verwicklung in diesen Krieg. Denken wir an den den Zen-Mönch Claude AnShin Thomas und seine Stiftung – auch sein Engagement ist keine Luxusentscheidung, sondern durchlebt und durchlitten. Aus der persönlichen Traumabewältigung als Veteran entstand bei ihm ein buddhistischer Weg, angeleitet von dem vietnamesischen Zen-Mönch Thich Nhat Hanh, also einem Angehörigen des vormaligen sogenannten „Feindes“.
Der buddhistische Lehrer, der ihm einem Weg aus seinen furchtbaren Verstrickungen in das Töten und Leiden weist, kam ausgerechnet aus demjenigen Volk, dessen Angehörige Claude Thomas massenhaft getötet hatte.
Das ist in der Tat unglaublich beeindruckend. Hier wird das gegenseitige Sichdurchdringen des Lebens so sichtbar, das Thich Nhat Hanh „Intersein“ nennt und das in beide Richtung wirkt: Alles hängt mit allem zusammen – wir können einander das Leben zur Hölle machen oder den Frieden bereiten. Thich Nhat Hanh und seine Weggefährtin Schwester Chan Khong konnten diese Entscheidung keineswegs von heute auf morgen treffen. Sie haben sich jahrelang innerlich damit befasst, bevor sie wirklich dazu bereit und in der Lage waren, mit Meditationskursen und Retreats auf Vietnamkriegsveteranen zuzugehen. Doch sie konnten sehen, wie der Krieg nur formell beendet war, in den Menschen aber weiterging. In den USA haben sich mehr Veteranen nach dem Krieg umgebracht, als in Vietnam als Soldaten gefallen waren. Und viele hatten ja schon Väter und Großväter, die ihrerseits vorher in andere Kriege gezogen waren. In den Familien, in der Erziehung, im Geist der Menschen laufen die Kriege weiter, und erst in den Retreats von Thich Nhat Hanh, die er gemeinsam mit Schwester Chan Khong durchführte, konnten einige dieser Männer das Denken in Freund-Feind-Kategorien überwinden und in eine neue Wahrnehmung hineinwachsen.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über Maha Ghosananda – er ist ja ebenfalls ein großes Vorbild dafür, wie man das Denken in Freund-Feind-Kategorien überwinden kann.
Maha Ghosananda hat Friedensmärsche in Kambodscha ins Leben gerufen – mitten durch die „Killing Fields“ der Roten Khmer. Er befand sich längst im sicheren Exil in Thailand und Indien und kehrte freiwillig zurück, in ein Land, das ein einziges Schlachtfeld war und in dem die Roten Khmer fast den gesamten buddhistischen Sangha ermordet hatten. Es hatten ja nur wenige Hundert von fast 40 000 Nonnen und Mönchen ins Ausland fliehen können. Die Arbeit der Vereinten Nationen in Kambodscha hatte nicht viel bewirkt, aber Maha Ghosananda wurde in seinem Land als „Buddha der Schlachtfelder“ berühmt. Was für ein Mut!
Bei seinen Friedensmärschen von Dorf zu Dorf säumten Tausende von Menschen die Straßen, nur um mit etwas Wasser bespritzt zu werden. Diese Wassersegnungen waren eine symbolische Geste, um die Tränen, das Leid und den Schmerz abzuwaschen und neu anzufangen: im Geiste des Friedens. Es wird berichtet, dass damals sogar Soldaten der Roten Khmer, aber auch der Vereinten Nationen ihre Waffen ablegten und niederknieten, weil sie unbedingt den Segen eines buddhistischen Mönches oder einer buddhistischen Nonne empfangen wollten. Viele von ihnen sind danach aufgestanden und haben die Waffe nicht wieder in die Hand genommen, das ist von Zeitzeugen dokumentiert. Da sieht man, welche entwaffnende Wirkung es hat, wenn jemand seinen Geist transformiert hat und völlig frei von Angst und Freund-Feind-Denken mit Mut und Präsenz durch ein Kriegsgebiet zieht.
Darf man nach Gräueltaten darauf verzichten, Opfer und Täter klar zu benennen?
Für die westliche Sicht scheint der Unterschied zwischen den Guten und den Bösen fundamental: Wir wollen die Schuldigen ausfindig machen und an den Pranger stellen, damit sie nicht länger für Unruhe sorgen. Darauf zu verzichten, wird sogar als unmoralisch betrachtet, möglicherweise vor dem Hintergrund des Monotheismus: Darin legt ein absoluter Gott eindeutig fest, was gut und was böse ist. Die buddhistischen und viele von Gandhi beeinflusste hinduistische Friedensstifterinnen und Friedensstifter denken da viel radikaler. Als Mediatoren versuchen sie so neutral zu sein, dass sie überhaupt nicht mehr bewerten und einordnen. Sie nennen das „Tugend des Nichtwissens“, denn nur so kann man sich auf eine Konfliktsituation zutiefst einlassen. Ja, die buddhistische Friedensbewegung in Vietnam war deshalb mit Vorwürfen konfrontiert. Weder die Kriegsparteien noch viele Friedensbewegte konnten an ihre Neutralität glauben. Die eine Seite sagte, die Buddhisten seien heimliche Kommunisten, die anderen hielten sie für heimliche Kapitalisten. Nicht mehr von gut und böse zu sprechen – das ist wahrscheinlich nur möglich, wenn man auch sich selbst nicht mehr auf den Sockel hebt oder anklagt. Aber wer einen inneren Richter in sich trägt, der wird auch im Außen richten.
Muss man nicht auch mal eine Grenze ziehen können?
Es gibt die Verantwortung für das eigene Handeln, das betonen auch die buddhistischen Friedensaktivisten. Doch wenn alle Wesen ein unendliches Netzwerk bilden, sind wir auch alle – in unterschiedlichem Maße – mit verwickelt. Thich Nhat Hanh sagte das oft in seinen Retreats zu Vietnamkriegsveteranen: „Euch Veteranen schiebt die amerikanische Gesellschaft die Schuld in die Schuhe und erklärt euch zu Mördern und zu Vergewaltigern. Ja, ihr habt Schreckliches getan, doch diejenigen, die euch in diesen Krieg geschickt haben, sind mindestens genauso verantwortlich.“
Thich Nhat Hanh ging es überhaupt nicht mehr um Schuldzuschreibungen, sondern darum, sich gegenseitig zuzuhören und überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Genau das war ja nie geschehen. Freund-Feind-Schemata beiseitezulegen, heißt ja nicht, über das Furchtbare nicht mehr zu sprechen, sondern zusammenzukommen und zu verstehen: Warum denkt oder redet die andere Person so, wie sie es tut? Immer gibt es eine Geschichte dahinter, vielleicht eine Beteiligung, vielleicht eine Mitverwicklung, vielleicht eine Angst. Geschulte Friedensstifterinnen und Friedensstifter fragen danach und möchten das wissen – darum sind sie dafür auch viel besser geeignet als Friedensschlichter, die an der Oberfläche bleiben und die Geschichten hinter einem Konflikt am liebsten ungehört begraben würden.
Was ist in Myanmar los, wo muslimische Bevölkerungsgruppen mit Gewalt vertrieben werden. Wie kann der buddhistische Sangha dort so versagen, dass er in Teilen diese Gewalt befürwortet?
Nach meiner Einschätzung gibt es unter den Buddhistinnen und Buddhisten in Südostasien die wachsende Angst, ihnen könnte ein ähnliches Schicksal drohen wie den indischen Buddhisten im Mittelalter. Damals wehrten sich die Hindus gegen den expandierenden Islam und überlebten. Die Buddhisten wehrten sich nicht und wurden größtenteils eliminiert. Wenn man dann noch die Taliban vor Augen hat, die buddhistische Statuen zerstören, und wenn man weiß, dass die britische Kolonialmacht durch ihren Import indisch-muslimischer Verwaltungsbeamter nach „Burma“ in der dortigen Bevölkerung antiislamische Ressentiments geschürt hat – dann versteht man die Ursachen dieser Angst.
Selbstverständlich müssen Buddhisten und Muslime miteinander ins Gespräch kommen. Und beide Seiten müssen mit den Falken in ihren eigenen Reihen ins Gespräch kommen. Bei den Muslimen sind das die salafistischen und wahhabitischen Kreise, die überall in der Welt von Saudi-Arabien aus gesteuert werden. Doch man muss mit ihnen sprechen: Wovor habt ihr Angst, was bewegt euch wirklich, wenn ihr eure Botschaften verbreitet? Wenn man ihnen nur unterstellt, brutale Fanatiker zu sein, ist jedes Gespräch zu Ende, bevor es begonnen hat.
Es gab aus westlich-buddhistischen Kreisen offene Briefe und Appelle an Aung San Suu Kyi. Ist das eine sinnvolle Reaktion auf die Krise in Myanmar?
Ich bin kein Myanmar-Experte, doch bei Aung San Suu Kyi sehe ich ein grundsätzliches Problem, dessen sich auch viele Friedensstifter bewusst sind: Eine zu große Nähe zum Establishment birgt die Gefahr, Teil derer zu werden, die zumindest strukturelle Gewalt ausüben. Das ist so in Thailand und auf Sri Lanka, wo der buddhistische Sangha zum religiösen Establishment gehört und dem politischen nahesteht. Das ist so in Indien, wo sich ein nationalistisches hinduistisch-religiöses Establishment herausgebildet hat. Und das ist es, was wir meines Erachtens auch bei Aung San Suu Kyi und ihrer Demokratiebewegung beobachten können: Sie sind inzwischen ein neuer identitätsstiftender Teil des politischen Regierungssystems geworden. Ihr Gerechtigkeits- und Friedenspotenzial machte Aung San Suu Kyi bekannt, führte sie an die Spitze ihres Landes und bis zum Friedensnobelpreis. Doch nun ist es erstarrt in einem Setting von Macht, struktureller Gewalt und möglicherweise auch Gier.
Religiöse Friedensstifter stehen nicht von ungefähr als Teil der Zivilgesellschaft immer auch in Opposition zum Establishment – fast durchweg. Es ist kein Zufall, dass sie fast alle entweder zeitweise im Gefängnis saßen, ins Exil gezwungen wurden oder in den Untergrund flüchten mussten. Friedensstifterinnen und Friedensstifter sind unbequeme Leute! Von daher befürchte ich, dass jemand wie Aung San Suu Kyi nicht mehr sehr viel bewirken wird. Gleichzeitig ist es nicht so, dass in Myanmar an der Basis nichts geschieht: In den größeren Städten, bei den Frauen und bei den ganz jungen Menschen, ist die Sehnsucht nach Frieden groß. Dort wird auch so etwas wie interreligiöser Friedensdialog praktiziert, das beschreibe ich in meinem Buch, auch wenn es derzeit schwierig ist, zuverlässige Informationen aus Myanmar zu recherchieren. Doch sicher ist: In den Städten gibt es Menschen an der Basis, die sich sehr für Frieden und Dialog einsetzen. Was kann man also vom Westen aus tun? Meines Erachtens sollte man immer auf die Karte der Zivilgesellschaft setzen – nicht auf die Karte der Regierung.
Ende des ersten Teils des Interviews.
Das Gespräch führte Susanne Billig.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe im zweiten Teil des Interviews: Warum sich religiöse Friedensstifter immer auch mit ihren Traditionen anlegen – Die bedeutende Rolle der Frauen in religiösen Friedensbewegungen – Buddhistische Friedensstifter in Japan – Warum erhalten Buddhistinnen und Buddhisten so selten den Friedensnobelpreis? – Kann der Waffenexporteur Deutschland ausländische Friedensbewegungen glaubwürdig unterstützen?
Dr. Martin Bauschke
Dr. Martin Bauschke ist Religionswissenschaftler und Theologe. Er arbeitet als Religionslehrer und freiberuflicher Bildungsreferent in der Erwachsenenbildung, war langjähriger Leiter des Berliner Büros der Stiftung Weltethos und hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter „Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln“ (2010), „Der Sohn Marias: Jesus im Koran“ (2013), „Der Freund Gottes: Abraham im Islam“ (2014).