Was ist das für ein Frieden, der im stillen Sitzen kommt?

Ein Beitrag von Nikolas Bieleit-Medicus veröffentlicht in der 2/2024 Krieg und Frieden unter der Rubrik Schwerpunkt Krieg und Frieden.

Wofür praktizieren wir? Wofür der meditative Rückzug, wenn unzählige Menschen in Kriegen leiden? Reflexionen eines Zen-Praktizierenden.

Gute Fragen fordern gute Antworten, und gute Antworten sind noch nicht gefunden, wenn wir nur von innerem Frieden und überwundenem Leid sprechen. Unbeantwortet bleibt dann: Wessen Friede, wessen Leid? 

Gerade in intensiver buddhistischer Praxis, in der wir doch versuchen unser Ego zu überwinden, mutet vieles auf den ersten Blick egozentrisch und unpolitisch an. Besonders deutlich wird das im Kloster, im Rückzug und Schweigen. Es scheint, als würde hier dem Leid der Welt der Rücken gekehrt und zugleich noch fast alles aufgegeben, was das Leben schön macht. Und wozu? Achtsam sein, loslassen, nirgends anhaften, nichts ablehnen – dann öffnet sich die Stille und es erblüht der innere Frieden. Das erscheint vielen als der Kern buddhistischer Praxis und oft präsentiert sie sich auch ebenso. 

Wenn es dabei bliebe, dann wären Vorwürfe der Abkehr und Weltverneinung an den Buddhismus berechtigt, und jeder eilige Nachtrag, dass der innere Frieden doch ansteckend sei, hinterließe einen faden Beigeschmack. Steht das Glück der anderen also an zweiter Stelle? Was kann das für ein Frieden sein, der im stillen Sitzen kommt, während so viele, nah und fern, weiter leiden?

Der buddhistische Weg mag durch die Innerlichkeit führen, aber darin enden kann er nicht. Sonst wäre es nicht weit her mit dem buddhistischen Mitgefühl und dem Ideal der Bodhisattvas, die sich dem Wohl aller Wesen verschreiben. Dann kämen wir über das kleine Selbst nicht hinaus und blieben darin verfangen. Wir tun also gut daran, uns zu fragen, wo wir in unserer Praxis stehen und welche Wünsche und Hoffnungen uns motivieren. 

Was ist uns wichtig?

Halten wir einen Moment inne, um uns diese Fragen zu stellen: Welches Leid berührt mich am tiefsten? Ist es denn schon überwunden, sobald ich nur von meinen Anhaftungen loslasse? Wie sieht der Frieden aus, nach dem ich mich sehne? Ist er bereits mit einer inneren Haltung gewonnen? 

Viele von uns werden feststellen: Das, was uns besonders aufwühlt und wonach wir uns sehnen, ist nichts rein Innerliches. Es sind Umstände in der Welt. Stellt nicht das Leid die drängendsten Fragen, das dort herrscht, wo Menschen, ungehört und übersehen, der Möglichkeiten eines guten Lebens beraubt werden? Herrscht es nicht dort, wo Liebende sich immerzu Schmerzen zufügen, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen? Wo Nachbarländer einander bekriegen und die schrecklichen Bilder der Gewalt überall auf der Welt Streit befeuern, zwischen Fremden sowie zwischen Freundinnen und Freunden? Gerade in diesen schwierigen Zeiten sehnen wir uns doch nach Frieden zwischen den Menschen.  

Will unsere Praxis dem gerecht werden, dann muss sie auf leidvolle Interaktionen antworten, nicht nur auf inneres Leid, muss sich dem glücklichen Miteinander vieler widmen. Und die Rede vom inneren Frieden? Sie entpuppt sich dann, im Sinne des Lotos-Sutras, als ein „geschicktes Mittel“, um uns auf den Weg zu bringen, wenn wir unsere Sehnsucht nach Verbundenheit aus dem Blick verloren haben. 

Lernen gemeinsam zu handeln

Wie schon im Jahr zuvor verbrachte ich den vergangenen Spätherbst in der Zen-buddhistischen Dharma Sangha im Schwarzwald. Im steten Wechsel von Regen, Eis und Schnee saßen wir da auch das Rohatsu-Sesshin, das mir einmal mehr zeigte, wie die Praxis auf das Miteinander wirken kann.

Sieben Tage lang ertönt während des Rohatsu in der Dharma Sangha jeden Morgen um 4 Uhr die Weckglocke. Die meiste Zeit wird gemeinsam meditiert, in der Meditationshalle auch gegessen, alles gemäß langwieriger ritueller Formen. Beine und Rücken schmerzen, Pausen gibt es wenige, gesprochen wird nur das Nötigste. Über sechzig Teilnehmende sind dafür gekommen, so viele, wie das Kloster beherbergen kann. Mehrmals täglich stimmen wir das Herzgeist-Sutra an und singen von der Leerheit des Leidens, sechzig Gesichter von ihren eigenen Geschichten bewegt.

In ihren Vorträgen spricht Tatsudo Nicole Baden Roshi, die Dharmalehrerin, viel von der grundlegenden Akzeptanz für alles, was ist, und insbesondere für das, was wir selbst mitbringen. Die Kraft unserer Praxis liege darin, sagt sie, einen Raum zu schaffen, „in dem alles sein darf und nichts muss“. Viele von uns können diese Kraft ganz direkt spüren, an diesem Ort im Schwarzwald, und sich, verweilend, tief von ihr berühren lassen. 

Aber Nicole betont noch etwas anderes: Ein Kloster habe vor allem die Aufgabe, Situationen zu schaffen, die uns auffordern, ganz genau hinzuhören: Worum geht es hier und was kann ich einbringen? Ich denke mir: Im Kloster und in intensiver Praxis lernen wir zu handeln. 

Das rechte Handeln (samma kammanta) und die sich darin zeigende Einsicht sind von zentraler Bedeutung im Buddhismus. Auf das Ideal eines Handelns, das das Miteinander stärkt, können wir uns ausrichten. Wenn wir uns hingegen in die Meditation zurückziehen, um persönliches Glück und inneren Frieden zu suchen, dann trennen wir uns immer weiter ab – und leiden letztlich noch mehr an unserem abgetrennten Ich. 

Das Herzgeist-Sutra erinnert uns, dass Leid und Glück so leer sind wie alles andere auch. Der Weg zu ihnen hin und durch sie hindurch führt also mitten in die gegenseitige Verbundenheit – und zu Handlungen, die diese Verbundenheit zum Ausdruck bringen. In Worten des Zen-Lehrers Thich Nhat Hanh: „Meine Taten sind mein einzig wirklicher Besitz … Meine Taten sind der Boden, auf dem ich stehe.“  

Still und feinhörig

Ein Sesshin wie das Rohatsu lädt uns dazu ein, ganz und gar in unserer Aktivität aufzugehen, im Atmen, Essen, Singen, Verbeugen und eben Sitzen – und das in der Taktung des gemeinsamen Rhythmus. An diesem immergleichen Rhythmus lernen wir den ständigen Wandel unserer Gemütsregungen kennen, lernen mit unseren Gefühlen zu sein, ohne uns unmittelbar von ihnen bestimmen zu lassen – und ist das nicht eine Voraussetzung jedes Friedens zwischen Menschen? Erst wenn wir erkennen, wie unser Erleben unsere Ansichten bedingt, werden wir uns auch der Grenzen unserer Ansichten bewusst. Und erst dann beginnen wir, den Möglichkeitsraum jenseits davon zu erahnen. 

Im Daoismus bezeichnet Wuwei das (Nicht-)Handeln aus dem Nicht-Selbst heraus, also das Handeln als das größere Ganze. Dieser Gedanke hat auch den Zen-Buddhismus geprägt: Es geht darum, sich ganz nach der Situation zu richten, frei von schwankenden Absichten und der Eigendynamik der Geschichten, die wir uns über die Geschehnisse und uns selbst erzählen. Um solch ein Handeln möglich zu machen, üben wir uns darin, immer erst einmal zu akzeptieren, was gegeben ist und worauf wir antworten müssen. Diese Akzeptanz macht uns still und feinhörig. Im Zhuangzi, einem der wichtigsten daoistischen Texte, heißt es: „Licht erscheint, wo sich leere Räume öffnen, und alles Verheißungsvolle wächst nur in der Stille.“

Wofür also praktizieren wir? In ihrem abschließenden Vortrag am siebten Tag des Rohatsu fasst Nicole es in diese Worte: „Als Praktizierende entscheiden wir uns, alles dafür zu tun, das von uns geerbte Leid bei uns enden zu lassen und es nicht weiterzugeben.“ Wann immer wir das schaffen, kehren wir Prozesse der Trennung um und tragen zu einem inklusiven und inspirierenden Miteinander bei. Das kann er also sein, der Frieden, der im stillen Sitzen kommt: ein Anfang und eine sich öffnende Weite, neuer Raum für bewegende Begegnung. 

Weitere Informationen

Dharma-sangha.de

Nikolas Bieleit-Medicus

Nikolas Bieleit-Medicus ist studierter Psychologe und Philosoph, mit Expertise für existenzielle Phänomenologie (wie der von Martin Heidegger), Zen und Daoismus. Er praktiziert Zen-Buddhismus und arbeitet als Prozessbegleiter und Therapeut.

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