Warum … wir den Weg der Mitte neu berechnen müssen
Die Menschheit hat sich selbst und den gesamten Planeten an den Rand der Klimakatastrophe manövriert. In einer solchen Situationen stellen sich buddhistisch ganz neue Fragen, erklärt Robert Pauli, Umweltaktivist und engagiert im Jungen Buddhistischen Netzwerk. Was bedeutet es, in einer Welt der Klimakipppunkte den Weg der Mitte zu gehen?

Seit ich denken kann, beschäftige ich mich mit der Geschichte der Erde. Ich habe Fossilien gesammelt und versucht, mit diesen versteinerten Wesen die unermesslichen Zeiträume zu erfassen, die sie in sich tragen. Um die Brisanz der heutigen Klimakrise zu erfassen, reicht es bereits, in die jüngste geologische Vergangenheit zurückzugehen: Das letzte Eiszeitalter hat vor etwa zwei Millionen Jahren begonnen und dauert bis heute an. Es zeichnet sich durch einen permanenten Wechsel von Kalt- und Warmzeiten aus, wobei die Zykluslänge einer Kaltzeit bei etwa 10 000 Jahren, die Warmzeiten bei etwa 50 000 bis 100 000 Jahren liegen. Auch heute leben wir in einer Warmzeit.
Zehntausend Jahre dauerte die Erwärmung um etwa fünf Grad Celsius nach der letzten Kaltzeit – was geologisch betrachtet noch immer sehr kurz ist, für viele Lebewesen allerdings zu schnell, da ihre Klimazone dabei um tausende Kilometer nach Norden oder Süden gewandert oder ganz verschwunden ist. Die derzeitige menschengemachte Klimaerwärmung ereignet sich hundertmal schneller. Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn Kohlenstoffmengen, die über hunderte Millionen Jahre langsam über Fotosynthese und Kohlebildung aus dem aktiven Kreislauf genommen wurden, nun binnen gut eines Jahrhunderts wieder zurückgeblasen werden. Diese Geschwindigkeit stellt die Anpassungsfähigkeit der meisten Ökosysteme und Arten auf eine enorme Probe, was zu einem massiven Verlust der Biodiversität führen wird.

Folgen des Klimawandels
Kipppunkte im Klimasystem zu erkennen und zu verstehen, ist entscheidend für wirksame Klimaschutzmaßnahmen und sinnvolles politisches Handeln. Denn werden die erst einmal überschritten, führen sie zu sich selbst verstärkenden Prozessen, gegen die wir auch mit größter Anstrengung kaum mehr etwas bewirken können. Die Klimaforschung vermutet einige diese Kipppunkte rund um die 1,5-Grad-Grenze, die wir recht sicher noch in diesem Jahrzehnt erreichen werden. Darum drängt die Zeit, da es genau jetzt letzte Gelegenheiten für ein wirkliches Umsteuern gibt, bevor uns das Ruder aus der Hand gerissen wird. Dennoch steigen die Treibhausgasemissionen immer weiter an.
Je länger dieser Trend ungebrochen bleibt, desto schrecklicher wird in der Folge das Leiden sein: Rund um den Äquator wird früher oder später eine Zone entstehen, die menschliches Leben physisch ausschließt. Der steigende Meeresspiegel wird Millionen aus Megacitys an den Küsten der Kontinente vertreiben. Die genaue Zahl der Betroffenen variiert je nach Szenario, aber Schätzungen zufolge werden schon in diesem Jahrhundert Hunderte Millionen bis über eine Milliarde Menschen direkt in ihrer Existenz bedroht sein. Grund für die massiven Wanderungsbewegungen werden unter anderem extreme Wetterereignisse sein, der steigende Meeresspiegel, Dürren, Überflutungen, Nahrungsmangel und zerstörte Lebensräume. Globale Konflikte sowohl in den betroffenen Regionen als auch in den Aufnahmeländern können die Folge sein, was die internationalen Beziehungen weiter belasten würde. Hinzu kommen das Leiden und (Aus‑)Sterben vieler Millionen weiterer fühlender Lebewesen und der Verlust kompletter Ökosysteme.
Alles das notiere ich hier, obwohl die Zusammenhänge den meisten Lesenden sicher bekannt sind. Doch es ist mir schlicht unmöglich, zu begreifen, warum es keinen globalen Aufstand für ein fundamentales Umsteuern gibt. Warum sind wir so leise, während so ziemlich alles auf dem Spiel steht?
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Den Weg der Mitte neu berechnen
Es fällt schwer, sich Buddha auf Barrikaden vorzustellen. Buddhistinnen und Buddhisten meiden das Extreme. Ahimsa, Gewaltlosigkeit, lautet das erste Gebot (sila) im Buddhismus. Es besagt, keine Lebewesen zu töten oder zu verletzen, und ist bis heute eine zentrale Richtschnur für den Umgang miteinander. Der Weg der Mitte wurde von Buddha aus seinen eigenen Erfahrungen entwickelt, nachdem er erkannte hatte, dass ihn weder das Leben im Luxus noch extreme Entsagungen zur Erleuchtung geführt hatten. Darum lehrte er den Weg der Mitte – ein ausgewogenes, mäßiges Leben, das sich auf die Entwicklung von Weisheit, ethischem Verhalten und geistiger Disziplin ausrichtet. Eine große Herausforderung in der heutigen Situation, und so stelle ich mir die Frage: Sollte unser ethisches Navigationssystem den Weg der Mitte neu berechnen?
Was verstehen wir unter „extrem“? Extrem sind für mich nicht die Aktivistinnen und Aktivisten, die für Klimagerechtigkeit kämpfen. Das Stillschweigen oder Einverständnis zu den laufenden Prozessen ist aus meiner Sicht viel extremer, weil es die lebensvernichtenden Folgen des menschengemachten Klimawandels in Kauf nimmt und nicht versucht, sie zu verhindern. Fehlendes Umsteuern heute bedeutet milliardenfaches Leiden und Sterben menschlicher und nicht menschlicher Wesen in der Gegenwart und in der Zukunft – es ist das Gegenteil von Ahimsa. Unter diesen Umständen leite ich aus der ersten Sila die Pflicht ab, sich für eine Abkehr von dem selbst- und weltzerstörerischen Weg einzusetzen, auf dem sich die Menschheit derzeit befindet. Was das konkret heißt, ist eine andere Frage mit vielen möglichen Antworten – mir geht es hier um die grundsätzliche Überlegung, dass Wegsehen keine legitime Option darstellt.

Ein Tsunami in Zeitlupe
Buddhistinnen und Buddhisten sind in mehrfacher Hinsicht gut gerüstet, so meine ich, um hinzuschauen und aktiv zu werden. Wer meditiert, hat Übung darin, genau dann achtsam zu bleiben, wenn es unangenehm wird, und nicht Ablenkungen oder verführerischen, angeblich einfachen Lösungen zu folgen. Auch eine gesunde Distanz zu den übertakteten Diskursen und dem medialen Buhlen um Aufmerksamkeit kann den Blick frei machen für die wesentlicheren Fragen unserer Zeit und die subtileren, langsameren Signale der Welt. Die Klimakrise wurde schon als „Tsunami in Zeitlupe“ beschrieben: so langsam, dass viele die Gefahr nicht zu erkennen vermögen – aber nicht mehr aufzuhalten, wenn sich die Katastrophe schließlich Bahn bricht. Sind „buddhistische Antennen“ für Zeitlupenkatastrophen besser geeignet? Das hoffe ich sehr.
Zudem habe ich die Hoffnung, dass im Buddhismus ein Fundament für bleibende Handlungsfähigkeit auch im Angesicht von Leid und Scheitern liegt. Die grundsätzliche Akzeptanz des Leidens im Leben könnte vor jener Resignation bewahren, die ich bei vielen Aktivistinnen und Aktivisten leider beobachte. Wenn wir tun wollten, was eigentlich nötig wäre, müssten wir im Grunde in die Vergangenheit reisen. Daher gilt es, nicht zu verzweifeln, obgleich keine guten, rundum utopischen Zukünfte in Aussicht stehen, für die sich streiten ließe. Es wird eine harte Aufgabe, alles zu geben, wenn das beste Ziel lediglich das weniger schreckliche Szenario unter schrecklichen Szenarien ist. In Anbetracht dessen müssen wir unsere Handlungen als Teil eines größeren Ganzen begreifen und uns von der Vorstellung lösen, dass individuelle Aktionen sofort spürbare Auswirkungen haben müssen.
Barrikaden würde der Buddha wohl auch heute nicht bauen. Auch kann ich mir schwer vorstellen, dass große Gruppen Ordinierter in wogenden Roben die Tagebaue stürmen und die Kohlebagger besetzen. Ich denke, dass unser achtsames Ass im Ärmel nicht in Krawall und Lautstärke liegt, sondern viel schlichter im Unterbrechen. Versuchen Sie einmal, eine Gehmeditation mitten in der Hauptstadt zu machen – ich durfte es mit den Aktivist:innen von Extinction Rebellion Buddhists erleben. Die Wirkung war verblüffend: Passantinnen und Passanten blieben stehen, fragten nach, kamen untereinander ins Gespräch, während die Reihe der Meditierenden weiterzog – verglichen mit dem Berliner Standardhetztempo in geradezu plattentektonischer Langsamkeit. Man kann die eigene Stimme eben auch mit „aktivem Schweigen“ erheben und wirksam werden lassen.
Buddha lebte in einer Zeit, in der die Menschheit noch nicht begonnen hatte, ihre eigene Lebensgrundlage und die unzähliger Mitwesen zu zerstören. Ist es da nicht vielleicht sogar unsere Pflicht, den Weg der Mitte weiterzuentwickeln, als Gesellschaft und als Einzelne, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen? Wir können uns bei der Frage, wie Buddhistinnen und Buddhisten in Zeiten der Klimakrise handeln sollten, nicht allein auf jahrtausendealte Gedanken und Texte stützen. Ja, sie formen unsere Wertebasis – doch wir leben heute, und was heute als ethisch gut gelten kann, müssen wir selbst neu ableiten.
Es gibt keine Blaupause für die Zeit der Kipppunkte.
Weitere Informationen
buddhismus-deutschland.de/ag-umwelt
buddhismus-deutschland.de/buddhistische-jugend
Dieser Text mag irritierend, alarmierend oder provozierend wirken. Das wäre gut. Schlecht wäre, wenn Sie ihn beiseitelegen: „Es ist ja bekannt, und es ist schlimm, aber was soll man machen?“ Genau diese (verständliche) Überforderung kann uns zum Verhängnis werden. Darum die Bitte: Wenn es Sie berührt, Gedanken anstößt, Ideen hervorbringt, Fragen hochholt, behalten Sie es nicht für sich. Gehen Sie in den Austausch mit ihrem Umfeld. Diskutieren Sie in Ihrer Sangha. Und melden Sie sich gern – dies darf der Aufschlag zum gemeinsamen Handeln werden.

Robert Pauli
Robert Pauli hat in Jena Biologie und Geografie studiert und ist seit 2019 in der Klimagerechtigkeitsbewegung engagiert, unter anderem bei Fridays for Future und dem Bürgerbegehren Klimaentscheid Jena. Er begeistert sich für das Unterwegssein und die Musik und ist im Jungen Buddhistischen Netzwerk der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) aktiv.