Warum … ich der Karmalehre keinen Glauben schenke
„Triffst du Buddha, töte ihn!“, soll ein alter Zen-Spruch lauten. Den hat Sheldon B. Kopp, ein US-amerikanischer Psychotherapeut, aufgegriffen und 1976, in der Hochphase der humanistischen Psychologie und der damaligen gesellschaftspolitischen Revolten, zum Titel eines seiner Bücher gemacht. 2010 hat der Schriftsteller Andreas Altmann ein Buch mit demselben aufmüpfigen Titel geschrieben. Der Untertitel lautet: „Ein Selbstversuch“. Es attackiert den ideologischen Überbau vieler buddhistischer Schulen und setzt leidenschaftlich auf die mühselige und beglückende Selbsterfahrung. Gegen die monokausale Sichtweise der Karmadoktrin führt Andreas Altmann die Chaostheorie und die Erkenntnis an, „dass die Kette von Ursache und Wirkung so aberwitzig lang, so aberwitzig verschlungen ist und von so unzähligen, ja unzähligen Nebenursachen und Nebenwirkungen beeinflusst wird, dass es absolut unmöglich ist, zu sagen, das oder das oder das führe zu – genau – diesem oder jenem Ergebnis.“ Diese Theorie ist nicht neu und sollte gerade Buddhistinnen und Buddhisten vertraut sein, die „Indras Juwelennetz“ kennen. Diese Metapher steht für die Interdependenz aller Phänomene – im Gegensatz zum Karma, das einzelne Ursachen zugrunde legt.

Der Weckruf zum eigenständigen Denken hat inzwischen großen Anklang im säkularen Buddhismus gefunden, zu dessen prägendsten Protagonisten Stephen Batchelor gehört, der sich selbst einmal als „Kind der sechziger Jahre“ bezeichnet hat. Der Autor von „Buddhismus für Ungläubige“ (1998, Theseus Verlag), „After Buddhism“ (2015, Yale University Press) und anderen Büchern bezeichnet sein buddhistisches Verständnis als Buddhismus 2.0. Längst haben sich andere seiner Sichtweise angeschlossen, beispielsweise die in Heidelberg ansässige Buddha-Stiftung[A1] , die ihren Ansatz auf ihrer Webseite wie folgt beschreibt: „Anstatt dogmatischer Glaubensüberzeugungen (z. B. Wiedergeburt) oder fixierter ritueller Praktiken steht die direkte persönliche Erfahrung im Mittelpunkt.“ Die Vorstellung einer Reinkarnation passe, steht hier auch, ebenso wenig zum westlichen wissenschaftlichen Weltbild wie der Gedanke, dass Karma den Kreislauf der Reinkarnationen beeinflusse.
Historisch bedingter Buddhismus
Die säkulare Sichtweise kennenzulernen, hat mich erleichtert und von dem schlechten Gewissen befreit, das mich befallen hatte, weil mich manche Dogmen und Riten, Selbstdarstellungen und Unterwerfungen im Buddhismus befremden, peinlich berühren und – ich muss es gestehen – teils auch amüsieren.
Ich sah mich zudem bestätigt in der historischen Bedingtheit des Buddhismus. Ja, die Reinkarnationslehre samt Karma ist nicht originär buddhistisch, sondern Teil des indisch-brahmanischen Erbes einer Priesterelite, von dem sich Buddha, soweit wir das wissen können, weitestgehend emanzipiert hat. Für damalige Verhältnisse revolutionär! Nach meinen Recherchen ist aus der Quellenlage nicht klar ersichtlich, ob die zum Brahmanismus und Hinduismus gehörenden vielgestaltigen Reinkarnations- und Karmalehren vom Buddhismus zunächst abgelegt und dann später wieder eingeführt worden sind. Darum bleibt es fraglich, inwieweit sie dem Buddhismus eigen sind.
Außer Frage steht dagegen sein Anpassungsvermögen. Der Buddhismus hat im Laufe der Jahrhunderte viele Vorstellungen aus anderen Kulturen, Philosophien und Religionen in sich integriert. Man denke nur an die Bön-Religion und den Schamanismus in Tibet, den Daoismus und Konfuzianismus in China oder den Shintoismus in Japan. Ohne eine gewisse Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse hätte er sich kaum etablieren und die ihm eigene große Vielfalt hervorbringen können. Dabei wurden immer wieder auch Grundsätze aufgegeben teils marginalisiert – und dazu gehört eben auch der Glaube an eine Reinkarnation, der keineswegs von allen Schulen geteilt oder als bedeutsam erachtet wird. Ein Beispiel dafür ist der Zen-Buddhismus, der den Fokus auf direkte Erfahrung und Meditation legt und weniger auf metaphysische Konzepte wie Reinkarnation und Karma.
Ja, es wird höchste Zeit, dass der Buddhismus endlich auch im Westen ankommt und sich der Aufklärung stellt, sodass er sich mit dem Zeitgeist vereinbaren, also modernisieren lässt. Die Erschütterungen und Gegenreden mögen groß ausfallen, doch das wäre durchaus zu begrüßen. Reibungen schützen den Buddhismus vor Erstarrung und erhalten ihn im jeweiligen kulturellen Kontext am Leben. Angesichts der Flexibilität, die er in den letzten 2 500 Jahren bewiesen hat, können wir gewiss sein, dass er auch diese „Reform“ übersteht oder integriert, ohne an transformatorischer Substanz zu verlieren. Im Gegenteil – er würde, verjüngt, an Relevanz und Zuspruch gewinnen.
BUDDHISMUS TRADITIONSÜBERGREIFEND WERTSCHÄTZEN UND FÖRDERN
Als traditionsübergreifende Zeitschrift weiß sich „BUDDHISMUS aktuell“ sowohl den buddhistischen Schulen mit ihrer teils viele Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte verpflichtet – wie auch jüngeren, westlich-buddhistischen Strömungen.
Die Deutsche Buddhistische Union (DBU) und ihre Zeitschrift „BUDDHISMUS aktuell“ sind einzigartige Projekte im deutschsprachigen Raum: traditionsübergreifend, nicht-kommerziell, allein vom Geist der gegenseitigen Wertschätzung und Großzügigkeit getragen.
Bitte unterstützen Sie uns mit Ihrer SPENDE. Bitte mach unsere Arbeit auch zukünftig möglich mit deinem ABBONNEMENT oder Eintritt in die DBU.
Vielen Dank!
Es geht um Verantwortung
Wie könnte ein modernisiertes Karmaverständnis nun aussehen? In seinem Zentrum könnte der Begriff der Verantwortung stehen – Verantwortung für unser eigenes Denken und Tun, privat wie politisch, gerade in unseren Zeiten, denn selbstverständlich wird die Zukunft von unserem Verhalten beeinflusst werden, denken wir nur an das Klima. Die Idee, dass wir persönlich in wiedergeborener Form im nächsten oder übernächsten Leben ausbaden müssen, was wir jetzt anrichten, liegt mir ausgesprochen fern, beziehungsweise ich lege es „höflich beiseite“, wie Stephen Batchelor seine Ablehnung diskret umschrieben hat. Reicht es nicht, wenn die Generationen unserer Kinder und Enkelkinder von den Fernwirkungen unseres Versagens getroffen werden?
Mich belässt diese Perspektive im Diesseits meiner Verantwortung, die meiner Meinung nach durchaus relativ ist, abhängig von den Bedingungen und Umständen; so viel Differenzierung muss sein. Nein, ich bin nicht verantwortlich für alles, was mir geschieht. Nicht für die Gene, die mir mitgegeben worden sind. Nicht für die Familie, in die ich hineingeboren worden bin. Nicht für die depressive Mutter, den cholerischen Stiefvater, die konkurrierenden Geschwister, meine Krankheiten und auch nicht unbedingt für mein Glück, immer wieder einem Unheil zu entrinnen, wunderbare Menschen kennenzulernen, Freundschaft und Liebe zu erfahren, zu studieren, Privilegien zu genießen – und immer noch zu leben.
Geht es wirklich nicht um Schuld?
Zugegeben: Die Karmadoktrin spricht nicht von Schuld, da sei das Dharma vor, aber doch von „Konsequenzen“, basierend auf Ursache und Wirkung. Ihr zufolge gibt es keinen Zufall, sondern nur das Resultat unserer Taten – und die Ursache liegt in uns; alles andere seien faule Ausreden, die uns nur noch mehr verstricken. Selbst wenn uns nichts einfällt, was wir Schlimmes getan haben könnten, sind wir, so betonen Anhängerinnen und Anhänger einer solchen Karmalehre, niemals frei von Untaten, die wir begangen haben, und sei es eben in früheren Leben. Als einzige Wahl bleibt uns, den Schaden entweder jetzt oder später auszubaden. Wundert sich wirklich jemand, dass sich mir die unrühmlichen Schuldkonzepte des Christentums geradezu aufdrängen, wenn ich so etwas lese oder höre? Für mich stellt die Karmadoktrin ein ideologisches Ungetüm dar, dass der Erbsünde in nichts nachsteht.
Das ist es, was ich nicht fassen kann: dass es in dieser Sichtweise nur Täterinnen und Täter gibt und keine Opfer. Es mag sein, dass sich manche Leserinnen und Leser dieses Beitrags zutiefst getroffen fühlen, wenn ich zentrale Botschaften des Buddhismus so „missverstehe“ – doch ich bin zutiefst erschüttert und empört über eine selbstzentrierte, individualisierte Sichtweise, die den gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ökologischen Verhältnissen und ihren prägenden Einflüssen auf unser persönliches Leben keinerlei Rechnung trägt.
Als deklinierten die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen diese Einflüsse nicht seit Jahrzehnten im Detail durch, wird in manchen buddhistischen Kreisen weiterhin davon ausgegangen, dass Menschen für ihr Schicksal vollumfänglich individuell verantwortlich und zur Rechenschaft zu ziehen seien.
How dare you?
Dagegen setze ich die Frage: Kann es wirklich sein, dass die gesellschaftliche Ungleichheit, die Aufstiegschancen verhindert, Wohlstand erschwert und Gesundheit gefährdet, karmisch bedingt ist?
Liegt es wirklich am Karma, dass sich eine alleinerziehende Mutter und ein Rentner, die von Armut bedroht sind, von der Tafel ernähren müssen?
Dass Katrin mit acht Jahren an Polio erkrankt ist und seitdem im Rollstuhl sitzt?
Dass ihr Bruder, der den Holocaust überlebt hat, zeitlebens traumatisiert ist?
Dass es überhaupt einen Holocaust gegeben hat, der sechs Millionen Jüdinnen und Juden und Hunderttausende Roma und Sinti, Homosexuelle, politische Dissidenten, psychisch Kranke und Unangepasste aller Art das Leben gekostet hat und bis heute nachwirkt?
Dass Zehntausende von Menschen im Nahostkonflikt sterben mussten, darunter furchtbar viele Kinder?
Dass möglicherweise schon eine Million Menschen dem schrecklichen Ukrainekrieg zum Opfer gefallen sind und ein Ende nicht abzusehen ist?
Dass sich weltweit Abermillionen Menschen auf der Flucht befinden und ein Großteil von ihnen elendig auf der Strecke bleibt?
Allen, die angesichts dieser maßlosen Ungerechtigkeiten und unfassbaren Gräuel allen Ernstes behaupten, es sei dies das verdiente Karma der unzähligen Opfer, möchte ich mit Greta Thunberg empört zurufen: How dare you?!

Herbeifantasierte Omnipotenz
Diesen Einwand bekomme ich auf meine Kritik oft zu hören: Wer, wenn nicht wir selbst, soll denn verantwortlich sein? Eine übergeordnete Instanz, ein Gott, der Zufall? Ich finde ihn hochinteressant, verweist er doch auf die eigentliche Funktion der Karmalehre, nämlich die Betonung der Selbstbestimmung über unser Leben. Würden Götter oder Zufälle über unser Schicksal bestimmen, hätten wir schließlich keinen Einfluss auf unser Leben jetzt und in der Zukunft. Die traditionelle Auslegung der Karmadoktrin freilich erkauft die Selbstbestimmung um den immensen Preis einer totalen Selbstverschuldung.
Leider schützt uns die herbeifantasierte Omnipotenz über unser Leben nicht vor äußeren Einflüssen, die sich oft als weitaus wirksamer als unser eigenes Tun erweisen. Ironischerweise wird unsere Einflusslosigkeit besonders gravierend, wenn wir uns der karmischen Vereinzelung und Individualisierung ergeben, anstatt uns in einen gesellschaftlichen und geopolitischen Zusammenhang zu stellen und gemeinschaftlich gegen Missstände aktiv zu werden. Wie, wenn nicht gemeinschaftlich, wollen wir uns denn aus der gegenwärtigen globalen Misere befreien?
Deshalb lautet mein Fazit: Die Karmadoktrin zieht sich ohne Zweifel durch die Geschichte des Buddhismus und hat allein deshalb Beachtung und vielleicht auch Respekt verdient. Aber sie bleibt Glaubenssache und verliert zumindest meinen Respekt, wenn sie die Opfer dieser Welt zu Täterinnen und Tätern ihres unfreien Lebens erklärt. Das ist inhuman.
Darum schenke ich der tradierten Karmalehre keinen Glauben.

Peter Sander
ist gelernter Kartograf und hat Germanistik, Biologie und Psychologie studiert. Er ist akkreditierter Psychotherapeut und Supervisor. Mit dem Buddhismus beschäftigt er sich seit 50 Jahren: Bogenschießen bei Kurt Österle, Zen bei Rolf Drosten und Willigis Jäger, MBSR bei Linda Lehrhaupt.