Vom Wert des Zölibats
Gehört Sex unbedingt zum Leben? Kann man darauf verzichten, ohne sich zu schaden, und ist solch ein Verzicht sinnvoll? Lässt sich sagen: Das Zölibat ist Buddhas Dhamma? Eine Betrachtung von Ayya Phalanyani.
Das Wort Zölibat bedeutet sexuelle Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit und ist den meisten Menschen im Westen aus dem Christentum gut vertraut. Den Ursprung findet man jedoch viel früher, nämlich in den Anweisungen und Ordensregeln des Buddha, die er im vinaya, dem Verhaltenskodex für Ordinierte, festgelegt hat.
Selbstverständlich bin ich nicht als Nonne zur Welt gekommen. Ein ganz normales, weltliches Leben mit allem, was dazugehört, ist mir also nicht fremd. Auf dieser Grundlage kann ich sagen: Ein Leben im Zölibat anzunehmen war eine der besten Entscheidungen meines gegenwärtigen Daseins. In diesem Beitrag geht es mir nicht darum, die alte Diskussion neu zu entfachen, ob es in der Meditationspraxis Zustände gibt, die besser und befriedigender sind als das Erleben durch sexuelle Aktivität. Das lässt sich nicht diskutieren, sondern nur beantworten mit ehipassiko – komm und sieh selbst. Ich habe für mich gesehen: Das spirituelle Leben bietet Erfahrungen inklusive Freuden, mit denen die sinnlichen Befriedigungen des weltlichen Lebens einfach nicht mithalten können. Wie sich die Entscheidung für ein zölibatäres Leben buddhistisch begründen lässt und warum sie einen so großen Wert hat – davon möchte ich hier erzählen.
Eine freiwillige Entscheidung
Im Zölibat zu leben, muss nicht allen Menschen gefallen, und es wäre wahrscheinlich auch nicht für alle gut. Glücklicherweise ist es heute eine freiwillige Entscheidung; denn alles, was mit Sex zu tun hat, sollte unbedingt auf dem Konsensprinzip beruhen. Was Menschen in ihrem Intimleben tun und lassen, sollten sie unbedrängt und unbeeinflusst von anderen tun und lassen können.
In den vielen Jahren, die ich nun schon als Ordinierte lebe, habe ich mir aus der Distanz einer Nonne über das „Leben im Haushalt“ – also das Leben ohne das Gelübde des Zölibats – Gedanken machen können. Dieses Leben ist oftmals begleitet von der Suche nach Befriedigung auf sinnlicher Ebene. Wenn Wünsche sich erfüllen, kommt Freude auf. Wenn sie sich nicht erfüllen, entsteht Enttäuschung. Viele Menschen, so habe ich beobachtet, stecken in die Suche nach Sinnesbefriedigung eine enorme Menge Energie, Entschlusskraft, Aufmerksamkeit und Zeit. Sex ist nur ein Aspekt dieser Suche, der aber besonders viel Zeit und Aufmerksamkeit erfährt. Oft richten Menschen ihr gesamtes Leben daran aus, suchen jahrelang, oft bis weit über die Pubertät hinaus, nach der eigenen sexuellen Identität, identifizieren sich dann damit, halten sie für wichtig und bereiten anderen und sich selbst durch die damit verbundene Unruhe und Ich-Zentriertheit Unfrieden oder sogar Leid.
Nicht selten bleibt die eigene Persönlichkeitsentwicklung irgendwo zwischen Entfaltung und Reife stecken. Die wenigsten Menschen schließen ihre Identitätsbildung so ab, dass sie dann mit ihrem Liebesleben weitestgehend glücklich, zufrieden und voller Zuversicht sind. Selbst wer die eigene Identität nicht in einem unheilsamen Umfeld, vielleicht geprägt durch Missbrauch, Alkohol oder Schläge, hat aufbauen müssen, ist oft hochgradig unzufrieden mit sich. Abertausende finden sich von der Jugend bis ins hohe Alter zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu was auch immer und somit für potenzielle Sexualpartner:innen nicht attraktiv. Das negative Selbstbild, mit dem viele Menschen sich identifizieren, bestimmt ihr ganzes Leben – ihre Partnerschaften, ihre sexuelle Ausrichtung, ihre ständige Suche nach dem einen Menschen, der endlich zu ihnen passt, einfach alles. Ständig mit einem negativen Selbstbild kämpfen und dem gerecht werden zu müssen, was wir zu sein glauben, bedarf einer ungeheuren Kraft und eines riesigen Aufwands.
Im Zölibat lassen sich die viele Zeit und Energie auf bessere Weise nutzen.
Den Geist auf Reinigung ausrichten
Die buddhistischen Lehren führen aus, dass alle Menschen, ausgenommen arahants, die zum Erwachen gelangt sind, den Trieben, asavas, unterworfen sind. Die vier üblichsten sind der Sinnlichkeitstrieb – kamasava, der Daseinstrieb – bhavasava, der Ansichtstrieb – ditthasava und der Unwissenheitstrieb – avijjasava. Die Triebe haben ihre Wurzel in lobha, dosa und moha, also Gier, Hass und Verblendung. Diese Triebe und ihre Wurzeln wirken auf uns Menschen in jedem Moment. Sie treiben das Selbst um, für das wir uns halten. Menschen lieben, hassen, wollen, suchen, verzweifeln, hoffen und hören nicht auf, sich mit dem, was passiert, zu identifizieren. Und sie denken an Sex: Eine Untersuchung der Universität von Ohio hat 2012 ermittelt, dass männliche Studienteilnehmer dies bis zu 388-mal am Tag taten, Studienteilnehmerinnen bis zu 140-mal.
Mit dem Zölibat, als Mönch oder Nonne, bhikkhu und bhikkhuni, lebend, kann und soll man all das abgeben. Man ist kein Objekt der Begierde mehr und sucht keine Objekte mehr. Der Geist und das Herz werden auf parisuddhi, Reinigung, ausgerichtet. Die Suche aufzugeben, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg. Der Buddha beschreibt in der Sammlung der mittellangen Lehrreden (Majjhima Nikaya, MN 26) im Ariyapariyesana-Sutta, wie er die so genannte unedle Suche – also die nach Sinnesvergnügen, inklusive der nach einer Sexualpartnerin – aufgab, um die edle Suche zu beginnen, die Suche, die zu nibbana führt, dem Loslassen aller Anhaftungen.
Oft höre ich von Menschen, die ein Leben im Haushalt führen, man könne auch in einem solchen Leben all diese Grundsätze praktizieren. Ja, ich denke, sie haben Recht, das könnte man! Und meine aufrichtige Hochachtung gilt allen, die das schaffen! Doch es ist im Kloster und in einer sich gegenseitig unterstützenden, im Zölibat lebenden Gemeinschaft unendlich viel leichter, den ganzen Tag über so achtsam zu sein, dass man weiß, was man denkt, dass man Herzenszustände, Fantasien und unheilsame Gedanken rasch bemerkt und sie zur Stillung bringen kann. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, den Geist tatsächlich so ausrichten und in Achtsamkeit üben zu wollen, was vielleicht nicht auf alle Ordinierten zutrifft.
Das Zölibat beschützt die Meditationspraxis
Konkrete Anweisungen für Bhikkhus und Bhikkhunis finden sich in den Sutten zahlreich. Ihre Aussagen ließen sich so zusammenfassen: Setz dich zur Meditation hin und tu, was getan werden muss, damit Nibbana, die Befreiung von Leid, erfahren wird.
In den Sutten taucht immer wieder das Paliwort visuddhi auf; im Deutschen üblicherweise mit Reinheit übersetzt. Die Sammlung der längeren Lehrreden (Digha Nikaya 34) listet neun Arten der Reinheit auf. Die erste Reinheit ist silavisuddhi, die Reinheit der Tugenden. Für Ordinierte oder solche, die mit den acht Trainingsregeln (auch im Haushalt) leben, heißt das: kein Sex. Für Buddhistinnen und Buddhisten, die die fünf Trainingsregeln mit Zuflucht zu Buddha, Dhamma und Sangha angenommen haben, bedeutet Silavisuddhi, in der Sexualität kein Fehlverhalten zu begehen und weder anderen noch sich selbst zu schaden. Cittavissuddhi ist die Reinheit des Geistes oder Herzens. Das Bemühen um Reinheit auf all diesen Ebenen führt zu innerer Stille, denn der Geist, das Herz wird nicht mehr von permanentem Wünschen und Ablehnen in Unruhe versetzt. Ein Mensch, der das Zölibat richtig nutzt, kann mit seiner Hilfe tiefe, friedvolle Stille erfahren.
Immer wieder weisen uns die Sutten darauf hin, dass wir jeden Moment mit klarem Bewusstsein das Entstehen und Vergehen betrachten sollen, indem wir uns auf eines der vier satipatthana, der Grundlagen der Achtsamkeit, oder alle vier ausrichten: kaya – Körper, vedana – Gefühl, citta – Gemüt und die dhammas, womit in diesem Zusammenhang gedankliche Formationen gemeint sind. Unsere Ausrichtung sollte in stiller Sammlung geschehen, sodass uns kein einziger Moment entgeht und keine unheilsamen Gedanken, Worte und Taten verborgen bleiben. Das Zölibat bietet einen Schutz für diese Meditationspraxis, die auf Nibbana ausgerichtet ist und dazu führt, die Triebe zum Erlöschen zu bringen, die Wurzel für diese Triebe zu entfernen und den Reinheitswandel zu leben.
Regeln zur Enthaltsamkeit
Inwieweit äußern sich buddhistische Regelwerke zum Thema des sexuell enthaltsamen Lebens? Gleich die erste Regel des monastischen Regelwerks Patimokkha ist dem Zölibat gewidmet. Sie besagt, dass jeder Mönch, der Geschlechtsverkehr ausübt, umgehend, das heißt bereits in dem Moment, in dem er den Akt ausführt, seinen Status als Mönch verliert und nie wieder ein Mönch werden kann. Mönch kann jemand nur dann wieder werden, wenn er vor dem Akt offiziell die Roben abgegeben und unter Zeugen in den Laienstand zurückgekehrt ist. Für Nonnen gilt die gleiche Regel mit der kleinen Änderung, dass sie den Status als Nonne nur dann verliert, wenn sie willentlich den Geschlechtsakt ausübt und nicht etwa unwillentlich, zum Beispiel weil sie vergewaltigt wird.
Die Regel, dass Mönche und Nonnen umgehend ihren Status verlieren, wenn sie den Geschlechtsakt ausüben, gehört zu den drastischsten im Regelwerk und sie steht gleich an erster Stelle. Das zeigt, wie ernst es dem Buddha mit dem Zölibat als Voraussetzung für den Reinheitswandel war.
Nibbana ist vollständige Trieberlöschung. Auch wenn wir die Regeln für Ordinierte einmal beiseitelegen und uns nur auf Dhamma beziehen, wird das schnell klar, denn viele Sutten erläutern es. So heißt es in der Sammlung der mittellangen Lehrreden (MN 112, Die sechsfache Reinheit):
Ihr Bhikkhus, ein Bhikkhu ist einer mit vernichteten Trieben, der das heilige Leben gelebt hat, der getan hat, was getan werden musste, die Bürde abgelegt hat, das wahre Ziel erreicht hat, die Fesseln des Werdens zerstört hat und durch letztendliche Erkenntnis vollständig befreit ist.
An derselben Stelle führt der Buddha auch auf, wie ein Mensch wahrheitsgemäß antworten würde, wenn er gefragt wird, ob er einer der Arahants sei. Er würde sagen:
„Ich enthielt mich davon, das zu nehmen, was mir nicht gegeben wurde, indem ich es aufgegeben hatte zu nehmen, was nicht gegeben wurde; indem ich nur nahm, was gegeben wurde, nur erwartete, was gegeben wurde, indem ich nicht stahl, weilte ich in Reinheit. Indem ich die Unkeuschheit aufgegeben hatte, lebte ich in Keuschheit, lebte ich losgelöst von der gewöhnlichen Praxis des Geschlechtsverkehrs und ich enthielt mich davon … Freunde, mit der Vernichtung, der Lossagung, dem Aufhören, dem Aufgeben und Loslassen der Gier, der Begierde, des Entzückens, des Begehrens, der Anziehungskraft und des Anhaftens sowie mit dem Loslassen der inneren Standpunkte, des Anklammerns und der Neigungen … habe ich verstanden, dass mein Geist befreit ist … Als mein konzentrierter Geist auf solche Weise geläutert, klar, makellos, der Unvollkommenheit ledig, gefügig, nutzbar, stetig und unerschütterlich war, richtete ich ihn auf das Wissen von der Vernichtung der Triebe.“
Das Beste für mein Leben
Triebfreiheit ist ein Synonym für Arahantschaft, die Befreiung vom Leid. Wenn ich den Weg dahin ebne, indem ich Sinnesvergnügen loslasse und Triebe auflöse, dann ist das Leben im Zölibat kein Zwang, den ich mir antue, sondern das Beste, was ich mir für mein Leben vorstellen kann.
Wir können die fundamentale Kraft und Bedeutung des Zölibats für die spirituelle Entwicklung nicht aus dem Buddhismus wegdiskutieren, indem wir sagen, es passe nicht in die heutige Zeit. Buddhistische Ordinierte können in jedem Moment frei entscheiden, die Roben abzulegen und nicht mehr im Zölibat zu leben. Das Zölibat, so wie ich es in diesem Beitrag beschrieben habe, ist jedoch für Einzelne und die Gemeinschaft ebenso wertvoll wie es die bunte und vielfältige Mischung der unterschiedlichsten sexuellen Ausrichtungen ist. Vor allem aber ist es ein Weg, den der Buddha für diejenigen, die ihn gehen wollen, aufzeigt. Darum muss das sexuell enthaltsame Leben im Buddhismus als Weg weiterhin Bestand haben.
Für welchen Weg auch immer wir uns entscheiden: Wichtig ist, die Entscheidungen anderer zu verstehen, zu respektieren und sie vielleicht sogar darin zu unterstützen.
Ayya Phalanyani
Ayya Phalanyani ging nach einer Karriere als Bühnenschauspielerin und Comedian und nach Jahren der Zen-Praxis 2007 nach Thailand, wo sie 2008 die erste Weihe und den Namen Phalanyani erhalten hat. 2010 ist sie als Bhikkhuni ordiniert worden und leitet seit 2018 das Nonnenkloster Anenja Vihara im Allgäu.