Vom Wert der Lehren und Begriffe
Viele westliche Buddhistinnen und Buddhisten meinen, auf dem spirituellen Weg genüge die Praxis der Meditation, schließlich solle man ja alle Konzepte hinter sich lassen. Ganz so ist es nicht, erklärt Traleg Kyabgon Rinpoche in seinem Buch „Leuchtend klare Glückseligkeit“ über die Philosophie und Praxisformen der Mahamudra-Tradition. Ohne Konzepte geht es nicht, betont der 2012 verstorbene tibetische Meister – doch es kommt auf die richtigen an.
Ohne eine philosophische Orientierung hätten wir keine Vorstellung von dem, was wir erreichen wollen oder was unsere spirituelle Vision ist. Darüber hinaus wären wir blind dafür, wie wir auf dem spirituellen Pfad voranschreiten sollten, wir würden nicht wissen, wie wir unsere persönlichen existenziellen Zwangslagen zu interpretieren hätten, und wir wären den möglichen psychologischen und spirituellen Konflikten, denen wir auf dem Weg begegnen können, ungeschützt ausgesetzt.
Deshalb können wir uns spirituellen Praktiken nicht auf eine autonome Weise nähern, ohne irgendwelche Ansichten zu entwickeln oder Glaubenssysteme zu benutzen, auch wenn es heißt, dass wir zu einem späteren Zeitpunkt auf dem buddhistischen Pfad lernen sollten, unsere Überzeugungen loszulassen.
Buddhistische meditative Praktiken und Erfahrungen werden immer aus einer Perspektive erörtert, die als gültig und wahr angesehen wird – das geht nicht anders. Daraus sollten wir natürlich nicht den Schluss ziehen, dass der buddhistische Weg der einzige Weg ist oder dass seine Sicht allen anderen religiösen oder spirituellen Traditionen überlegen ist. Die buddhistische Herangehensweise zur Verwirklichung der letztendlichen Wahrheit (paramartha-satya) und zur Entdeckung der Heiligkeit der spirituellen Wirklichkeit ist jedoch nur durch die Übernahme der buddhistischen Sicht und dem Folgen des buddhistischen Pfades zugänglich. Als Buddhistinnen und Buddhisten müssen wir uns nicht als alleinige Hüter der letzten Wahrheit betrachten, aber wir müssen uns unserer Meditationspraxis aus buddhistischer Sicht nähern.
DENN DIE FREUDE, DIE WIR GEBEN – Großzügigkeit ist eine grundlegende buddhistische Praxis.
Die BA-Redaktion bemüht sich täglich darum, buddhistische Wortmeldungen und Texte aus allen Traditionen sowohl aus Deutschland wie weltweit wahrzunehmen, zusammenzutragen und für diese Webseiten, auf den Sozialen Medien und in der Print-Ausgabe aufzubereiten und weiterzugeben.
Unser digitales Angebot ist zu einem großen Teil kostenfrei – doch uns kostet es sehr viel Geld. Darum sind wir auf Ihre SPENDE, auf deine GROßZÜGIGKEIT angewiesen – und gerne auch auf ein ABONNEMENT, das uns wertvolle Planungssicherheit liefert.
Denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.
Vielen Dank!
Weg zur Befreiung
Die richtigen Sichtweisen können uns zur Befreiung führen, während die falschen Sichtweisen die Täuschungen unseres Geistes vermehren, indem sie Wut anfachen und unsere Gefühle von Überlegenheit und Stolz vermehren. Gerade durch den Prozess der Verfeinerung unserer Ansichten lernen wir, uns auf dem spirituellen Weg neu zu orientieren und die innige Beziehung zwischen angemessenen Glaubenssystemen und Befreiung zu schätzen.
Buddhistische Lehren betonen nachdrücklich die Notwendigkeit, einen nicht konzeptuellen Weisheitsgeist zu entwickeln, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Viele westliche Buddhistinnen und Buddhisten folgern daraus jedoch, dass wir überhaupt nichts glauben sollten und dass von Anfang an auf alle Formen von Begrifflichkeit verzichtet werden kann. Das ist aber falsch: Es sind nur die falschen Sichtweisen, die wir überwinden müssen. Die richtige und edle Sicht ist mit großer Sorgfalt zu kultivieren.
In den frühen Reden des Buddha über die Vier Edlen Wahrheiten beginnt der Edle Achtfache Pfad mit der Kultivierung der richtigen Sicht. Mit anderen Worten ist sie die Voraussetzung für eine richtige buddhistische Praxis. Das ist nicht ungewöhnlich, denn bei allem, was wir im Leben tun, müssen wir mit einem übernommenen Glaubenspunkt beginnen. Selbst wenn wir nicht die Absicht haben, Buddhistin oder Buddhist zu werden, zeigt zum Beispiel der Wunsch, Meditation zu praktizieren, dass wir unser Leben bereits als unvollständig betrachten und nach Erfüllung in etwas „Spirituellem“ suchen. Diese Art des Denkens setzt tatsächlich einige bereits bestehende Überzeugungen voraus, weshalb es unmöglich ist, die Dinge, an die wir glauben, einfach aufzugeben: Wir sind uns ihrer Machenschaften vielleicht nicht bewusst, aber sie sind da.
Meditationserfahrungen begreifen
Wir können einfach nicht ohne die sinnstiftende Funktion der Ansichten auskommen, die sich auf unsere Glaubenssysteme beziehen. Ohne einen begrifflichen Rahmen wären meditative Erfahrungen selbst unbegreiflich. Unsere Meditationserfahrungen müssen richtig interpretiert und es muss verstanden werden, ob sie von Bedeutung sind oder nicht. Dieser Interpretationsakt erfordert geeignete begriffliche Kategorien und die angemessene Verwendung dieser Kategorien.
Es ist daher äußerst wichtig, zu versuchen, meditative Erfahrungen zu verstehen, indem man die historischen Schriften konsultiert, in denen sie beschrieben werden. Wir sollten versuchen, zu verstehen, welche Arten von Geisteszuständen für meditative Erfahrungen förderlich und welche schädlich sind. Außerdem sollten wir zu einem Verständnis darüber gelangen, welche Art von meditativen Erfahrungen als Bestätigung des spirituellen Fortschritts anzusehen ist, was der Vergewisserung dient, und umgekehrt, welche Art von Erfahrungen als Zeichen der Irreführung oder als reine Schwelgerei in egoistischer Fantasie anzusehen ist.
Einige meditative Erfahrungen mögen den Anschein haben, echt zu sein, aber eigentlich sind sie falsch oder irreführend. Diese Erfahrungen können täuschen und uns die falsche Überzeugung geben, dass wir einen bestimmten meditativen Zustand erreicht haben, während wir in Wahrheit einfach nur in die Irre gegangen oder fantasievollem Denken zum Opfer gefallen sind. In dem Bestreben, herauszufinden, ob etwas Wahrhaftiges passiert ist oder nicht, müssen wir uns begrifflicher Werkzeuge bedienen, die uns in die richtige Richtung lenken. Auf diese Weise können wir unsere spirituelle Praxis durch kritische Untersuchung und Verfeinerung unserer Sichtweisen zielgerichtet fortsetzen.
Gemäß den traditionellen buddhistischen Mahayana-Schriften werden wir zuerst angewiesen, durch Entwicklung der richtigen Sicht transzendentes Wissen zu kultivieren. Dem transzendenten Wissen entspringt dann Weisheit. Um transzendentes Wissen zu kultivieren, sollten wir zuerst die Lehren hören und studieren, dann über die tiefere Bedeutung der Lehren kontemplieren und schließlich über die innere geistige und spirituelle Bedeutung der Lehren meditieren. Begriffliches Verständnis und transzendentes Wissen sind in diesem Zusammenhang untrennbar und immer Voraussetzung für das Erwachen der Weisheit.
Forschung braucht Hypothesen
In der Mahamudra-Tradition sollten wir uns ein richtiges begriffliches Verständnis von Leerheit beziehungsweise der Natur des Geistes aneignen. Wir können nicht einfach meditieren und auf das Beste hoffen. Es muss einen begrifflichen Rahmen geben, in dem wir arbeiten; ein Rahmen, der auf einer richtigen Sicht basiert. Zum Beispiel können Wissenschaftler nicht einfach rausgehen und Experimente durchführen oder planlos Daten sammeln; sie müssen wissenschaftliche Hypothesen verwenden, um die Arbeit zu steuern. Ein Wissenschaftler würde sich auch darum bemühen, diese Hypothesen entweder zu verifizieren oder zu widerlegen. Einfach hinauszugehen und verschiedene Naturphänomene zu beobachten macht keine wissenschaftliche Arbeit aus. Ähnlich müssen wir, wenn wir buddhistische Meditation praktizieren, eine umfassende Sicht unserer menschlichen Natur, unseres Platz in der Ordnung der Dinge und unserer Beziehung zu der Welt, in der wir leben, sowie zu anderen Lebewesen haben. Anstatt zu denken, dass alle Konzepte verunreinigen und somit überwunden werden müssen, sollten wir erkennen, dass wir nur durch das Entwickeln eines Verständnisses bestimmter Wahrheiten Einsicht erlangen können. All diese Überlegungen müssen berücksichtigt werden, wenn wir meditieren, und unsere Praxis sollte sich daran orientieren. Andernfalls könnte unsere Weltanschauung zunehmend fragmentiert und mit unserer eigenen Erfahrung unvereinbar werden; „Nichtkonzeptualität“ zu entwickeln wird dann zu einer zusätzlichen konzeptuellen Last, die unweigerlich zu Verwirrung führt.
Der große Kagyü-Meister Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye (1813–1899 u. Z.) singt:
Derjenige, der ohne die Sicht meditiert,
ist wie ein Blinder, der die Ebenen durchwandert.
Es gibt keinen Bezugspunkt dafür, wo der wahre Pfad ist.
Derjenige, der nicht meditiert, sondern lediglich eine Sichtweise beibehält,
ist wie ein reicher Mann, der durch Geiz gefesselt ist.
Er kann sich selbst und anderen keine wirkliche Erfüllung bringen.
Sicht und Meditation miteinander zu verbinden, ist die heilige Tradition.
Die vier Merkmale buddhistischer Lehren
Nach dem Mahayanuttaratantra, einem berühmten indischen Mahayana-Text von Maitreya (5. Jahrhundert u. Z.) müssen die buddhistischen Lehren vier Merkmale haben. (Anmerkung der BA-Redaktion: Laut traditionellem Verständnis wurde der Text dem indischen buddhistischen Meister Asanga von Bodhisattva Maitreya diktiert. Das Sutra ist häufig auch unter dem Titel Mahayana Uttaratantra Shastra zu finden.)
- Das erste Merkmal ist die Eigenschaft, Lebewesen zur Erleuchtung zu führen.
- Das zweite ist, dass die Worte, die ihre Bedeutung ausdrücken, frei von sprachlichen Unvollkommenheiten sind.
- Das dritte ist, dass sie die Funktion haben, geistige Leiden zu beseitigen.
- Das vierte Merkmal ist, dass ihr Sinn und Zweck in der Befriedung der Leiden aller Lebewesen liegt.
Jegliche Art von Lehren, die diesen Merkmalen nicht entsprechen, werden als Ursache für falsche Sichtweisen angesehen. Wir entwickeln ein richtiges Verständnis, indem wir uns mit den Lehren vertraut machen, die diese vier Merkmale besitzen. Mit Studium und Vertrautheit nehmen wir ihren Inhalt in das Kontinuum unserer eigenen Erfahrung auf, wobei eine Verschmelzung der äußeren Lehren und des inneren Verstehens stattfindet.
Zusammengefasst versuchen Buddhistinnen und Buddhisten eine richtige Sicht zu entwickeln, indem sie sich anhand der drei Arten angesammelten Wissens mit den Lehren vertraut macht. Die erste Art ist Lesen und Lernen, die zweite ist Kontemplation und die dritte ist Meditation. Als Buddhistinnen und Buddhisten sind wir dazu angehalten, das, was wir lesen und hören, zu verdauen und zu reflektieren und selbst festzustellen, ob es Sinn macht oder nicht. Diese Art der Reflexion und ihre Anwendung auf die Meditation ist der wesentliche Weg, um auf dem buddhistischen Pfad Wissen zu erlangen. Gleichzeitig ist es immer vorrangig, dass alles Wissen und Lernen mit Meditation verbunden wird, sonst wird es von sehr geringer Bedeutung sein.
Der Buddha sagt, dass die Lehren wie ein Floß für das Überqueren eines Flusses seien, und wir das Floß nicht weitertragen müssten, sobald wir das andere Ufer erreicht haben. Es gibt auch die bekannte Zen-Geschichte, die darauf hindeutet, dass die Lehren wie ein Finger sind, der auf den Mond zeigt, und dass wir, sobald wir den Mond sehen, nicht länger auf den Finger schauen müssen. Diese Metaphern werden leider oft missverstanden und so gedeutet, als sollten buddhistische Praktizierende der Meditation alle Glaubenssysteme ablehnen. Der Sinn dieser beiden Geschichten ist, dass das Floß und der Finger von Anfang an eine Notwendigkeit sind und sowohl das spirituelle Fahrzeug als auch die Richtung vorgeben, die wir dringend brauchen. Ohne sie ertrinken wir in den turbulenten und trüben Gewässern von Samsara. Erst wenn der Inhalt und die Bedeutung der Lehren in unserem Wesen vollständig aufgenommen worden sind und die Verbindung der äußeren und inneren Lehren stattgefunden hat, können wir unser konzeptuelles Verständnis loslassen. Wenn es keine Trennung zwischen den Lehren und uns gibt, brauchen wir die konzeptuellen Werkzeuge, die für uns bereitgestellt worden sind, nicht mehr.
Ohne Floß keine Flussüberquerung
Auf dem heutigen „spirituellen Marktplatz“ behaupten viele, wir würden nur durch Meditation Erleuchtung erlangen und intellektuelles Wissen sei keine Hilfe und sogar das größte Hindernis auf dem Pfad. Es scheint mir, dies ist nichts anderes als pure Trägheit und intellektuelle Faulheit. Es gibt innerhalb der buddhistischen Tradition – sei es Theravada, Zen, tibetischer Buddhismus oder Mahayana-Buddhismus – keinerlei Unterstützung für diese Behauptung. Sie wird in der Tat widerlegt durch die umfangreichen Texte und Lehren, die in jeder dieser Traditionen existieren. Es ist ganz gleich, welche Erkenntnisstufe wir erreicht haben: Bis wir Erleuchtung erlangen, ist es notwendig, uns auf die nützlichen konzeptuellen Werkzeuge zu verlassen, die in den Lehren bereitgestellt werden. Diese Werkzeuge sind ebenso unentbehrlich, wie es unerlässlich ist, ein Floß zu haben, um einen Fluss zu überqueren.
Das Verständnis, das wir durch die Verinnerlichung der Lehren entwickeln, ist an sich befreiend. Es ist nicht wahr, dass wir zuerst die Lehren verstehen müssen, dann bestimmte Praktiken ausführen und erst dann Befreiung finden. Die Verinnerlichung der Lehren ist bereits das Gleiche wie Befreiung, denn wenn sie vollständig verstanden worden sind, bleiben sie nicht einfach auf einer konzeptuellen Ebene, sondern werden in tiefe spirituelle Verwirklichungen umgewandelt. Sie sind verinnerlicht und werden so ein Teil unseres Wesens, sodass die Lehren jetzt untrennbar von uns sind. Dies ist die leuchtende Glückseligkeit der Erleuchtung, und das ist das Ziel des spirituellen Pfades.
Literaturhinweis
Der Text stammt aus Traleg Kyabgons Buch „Leuchtend klare Glückseligkeit“, Manjughosha Edition 2020, und wurde von der Redaktion für den Abdruck leicht gekürzt.
Traleg Kyabgon Rinpoche
Traleg Kyabgon Rinpoche, neunter Traleg Tulku,war Abt des Thrangu-Klosters, lernte bei bedeutenden Lehrern der Kagyü- und der Nyingma-Tradition, studierte in Australien Religionswissenschaft und Philosophie, gründete buddhistische Zentren, lehrte auch in Europa, Autor buddhistischer Bücher. Er starb 2012.