Vom Meditieren in der beschleunigten Leistungsgesellschaft – Kulturveränderung oder Konsumprodukt

Ein Interview mit Prof. Dr. Stefan Schmidt geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Im Gespräch.

Meditation fördert in vielfacher Hinsicht die Gesundheit, reduziert den Stress und beugt anderem Leiden vor. Das ist mittlerweile wissenschaftlich recht gut belegt. Anlässlich der der Tagung „Meditation und Wissenschaft“ im Oktober 2014 sprach Ursula Richard mit Prof. Dr. Stefan Schmidt, der u.a. am Fachbereich, Kulturwissenschaften – Komplementäre Medizin‘ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrt, über mögliche Schattenseiten.

Buddhismus aktuell: Mittlerweile gibt es ja eine zunehmende Popularisierung und Säkularisierung von Meditationskonzepten und von Achtsamkeit. Manche sagen, dies sei nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Wie sehen Sie das?

Stefan Schmidt: Ich finde das durchaus berechtigt und mache mir viele Gedanken darüber, warum es zu dieser Popularität kommt. Ich fand für mich das Konzept des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa fruchtbar, der über die soziale Beschleunigung der Gesellschaft schreibt. Was er sagt, stimmt mit meinem Erleben überein, dass wir einer ständigen sozialen Beschleunigung ausgesetzt sind, die sich selbst anheizt. Ich habe den Eindruck, lange Zeit fanden das alle gut. In meiner Jugendzeit war der Gedanke des Fortschritts sehr präsent. Der Gedanke, es geht weiter und es kommt etwas Neues, war sehr willkommen. Mittlerweile hat das Ganze aber so an Fahrt und Geschwindigkeit aufgenommen, dass sich niemand mehr damit wohlfühlt, außer vielleicht Menschen, die hyperaktiv oder auf Drogen sind.

Dass säkulare Formen der Meditation gerade in diesem Kontext populär werden, kann man als eine Selbstregulierung der Gesellschaft interpretieren. Jede/r spürt bei sich, ich brauche Auszeiten und muss aus diesem schnellen Zeittakt herauskommen. Eine Selbstregulation hat aber immer eine stabilisierende Wirkung. Und darin liegt auch die Gefahr. Ein Organismus, der sich selbst reguliert, tut das immer unter dem Aspekt, seine eigene Struktur aufrechtzuerhalten. Wenn unsere Gesellschaft das tut, dann auch, um die Beschleunigungsmechanismen weiterführen zu können bzw. das System stabil zu halten. So gesehen wird Meditation dann für die Systemerhaltung funktionalisiert. Im konkreten Fall schickt der Chef/die Chefin die MitarbeiterInnen zur Stressbewältigung, zahlt den MBSR-Kurs und weiß, das ist gut investiertes Geld, denn dann kann die Taktzahl noch erhöht werden bzw. die MitarbeiterInnen bleiben bei gleichbleibender Taktzahl länger gesund. Das nutzt dem wirtschaftlichen Erfolg, dem Gewinninteresse und der Marktpräsenz der Firma. So wird Meditation auf eine Weise funktionalisiert, von der die Einzelnen nichts haben, außer dass sie jetzt auch noch privat meditieren müssen, um ihre Arbeitsleistung zu erhalten.

Ein Teil der Belastung des Arbeitsumfeldes wird also ins Private verlagert. Das ist eine durchaus gefährliche Entwicklung. H. Rosa folgend entsteht der aus der Beschleunigung resultierende Stress im sozialen System also auf gesellschaftlicher Ebene, konkret aus der Dynamik des Kapitalismus. Die Regulation bzw. die Bewältigung soll aber auf der individuellen Ebene stattfinden. Das kann nicht funktionieren. Es gibt diesen netten Cartoon, der sich mit Meditation in der Arbeitswelt beschäftigt und wo es heißt: Sie dürfen ruhig meditieren, aber bitte ein wenig schneller. Um an einer solchen Gesellschaft teilzuhaben, müssen wir uns demnach alle hin und wieder individuell zur Meditation und zu Retreats zurückziehen, damit wir wieder fit werden und den nicht menschengemäßen Takt halten können. So kommt es dazu, dass dort, wo Heilung geschehen müsste, nämlich auf der gesellschaftlichen Ebene, nichts geschieht und sich auf der individuellen Ebene der Stress noch mehr erhöht.

BA: All diese Strategien zur Selbstoptimierung führen ja zur individuellen Überforderung, und nun wird auch noch Meditation ein Teil davon.

S.SCH: Darauf weist H. Rosa hin, wenn er sagt, dass wir mit jeder Optimierung nur das Vergleichsniveau erhöhen. Natürlich sind wir kurzfristig schneller in der Kommunikation, wenn wir vom Brief auf E-Mail umstellen. Aber wenn alle E-Mail haben, gibt das Tempo der E-Mail den Takt vor. Damit ist der Gewinn dahin. Dies lässt sich auf den Prozess der gesellschaftlichen Anerkennung von Meditation als Selbstoptimierung übertragen. Sobald es zu einem Desiderat, zu einem Muss wird, ist nichts mehr gewonnen.

BA: Die Konfliktlösungen auf der individuellen Ebene sind natürlich begrenzt, wenn sie die gesellschaftliche Ebene nicht einbeziehen.

S.SCH: Es gibt in Freiburg einen Sonderforschungsbereich zum Thema Muße. Oft wird Muße ja als Müßiggang oder Herumhängen abgetan, und in der Untätigkeit wird kein Wert gesehen. Unser Anliegen ist, dass Muße wieder als positiver Wert verstanden wird. Ich finde, es sollte mehr öffentliche Orte der Ruhe, wie z.B. das Ruheabteil bei der Bahn oder Plätze in der Kantine geben, an denen nicht kommuniziert wird und Stille herrscht. Es gibt viele kleine Möglichkeiten, den Wert der Unterbrechung, des Stillseins und des sich Zurückziehens im sozialen Kontext an zuerkennen. Eine Erkenntnis aus dem Projekt ist, dass es hilfreich ist, die Zeitperspektive zurückzustellen und sich mehr räumlichen Aspekten zu widmen. Wenn der Fokus auf räumliche und gegenwärtige Aspekte gerichtet wird, tritt die Zeitlichkeit zurück. Wer seinen Geist in Eile übt, dessen Geist wird in Eile verbleiben. So kann dem Erleben von Stress und Eile entgegengewirkt werden, indem man sich in Achtsamkeit übt und das zeitliche Erleben so in den Hintergrund rückt. „In der Zeit der Zeit enthoben sein“ ist eine der Definitionen für Muße in diesem Projekt. Die Muße bietet uns hier eine Denkfigur aus unserem eigenen Kulturkreis an. Ihr positives Potential steckt darin, nicht funktional zu sein und sich Freiräume zu nehmen. Dieser Mußebegriff popularisiert sich gerade, und auch das kann dann wieder als eine gesellschaftliche Selbstregulierung gesehen werden.

Allerdings denke ich auch nicht, dass dies nun die Lösung unseres Problems ist. Eine Lösung kann das Gewinnstreben des Kapitalismus nicht unhinterfragt lassen. Ich glaube, der Kapitalismus kann nur geheilt werden, indem man eine Perspektive vertritt, die über das eigene Interesse hinausgeht. Solange wir auf der individuellen Ebene gegen unsere Gier arbeiten, die Konzerne jedoch gierig bleiben, wird sich nichts ändern. Mit diesem Problem werden wir, ob mit oder ohne Meditation, noch lange zu tun haben.

Wesentlich für die Meditation ist die Motivation, mit der ich meditiere. Wenn Meditation säkularisiert und im gesellschaftlichen Kontext eingesetzt wird, z. B. in Krankenhäusern und am Arbeitsplatz, muss immer gefragt werden, welche Motivation dahintersteht. Dazu zählt nicht nur die Motivation der MitarbeiterInnen, sondern auch derjenigen, die diese Angebote in die Firmen und Institutionen holen. Wenn die Motivation lautet, meinen MitarbeiterInnen geht es so schlecht und sie halten kaum noch durch; deshalb muss ich etwas anbieten – dann kommen wir in den Bereich, den wir soeben charakterisiert haben. Die alternative Sichtweise ist gar nicht so weit davon entfernt. Der gleiche Chef, die gleiche Chefin könnte sagen: Ich möchte, dass meine MitarbeiterInnen meditieren, damit sie mehr Gewahrsein für sich haben und das gemeinsame Arbeitsumfeld besser reflektieren. So können wir gemeinsam schauen, wie wir alle die Arbeit angenehmer gestalten.

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BA: Das „Netzwerk achtsame Wirtschaft“ vertritt die Perspektive, Achtsamkeit ohne ethische Anbindung sei eine bloße Technik.

S.SCH: Ja, eine Technik allein wird uns nicht verändern, sondern nur eine andere Grundhaltung, und da kommt die Frage der Motivation dazu. Eine spirituelle Motivation ist für mich eine, die über meine persönlichen Interessen hinausgeht. Ich praktiziere nicht nur für meine eigene Befreiung, sondern für das Wohlergehen aller Wesen. Wenn ich diese Perspektive vertrete, kann auch aus der derzeitigen Modewelle ein Gewinn erwachsen. Als Beispiel sei unsere laufende Studie in einer Freiburger Klinik genannt. Anfangs begegnete uns dort großes Misstrauen. Das Personal meinte, wir seien von der Geschäftsleitung geschickt worden, um sie leistungsfähiger oder gefügiger zu machen. Wir haben das ernst genommen, denn ein Stück weit gibt es diesen Aspekt auch. Wir haben aber klar gemacht, dass unsere Motivation nicht allein in diese Richtung, sondern weit darüber hinausgeht.

In dieser Studie haben wir versucht, die Meditation direkt in die Arbeitstätigkeit zu integrieren; damit wollten wir die Transferleistung für die Beteiligten erleichtern. Die Transferleistung besteht normalerweise darin, tagsüber zu arbeiten, abends einen MBSR-Kurs zu besuchen und dann tagsüber zu versuchen, das im Kurs Gelernte in den Arbeitsalltag zu überführen. In dieser Studie waren die Meditationslehrer/in Yesche U. Regel und Annette Saager auf der Station in einem Nebenzimmer anwesend. Die Pflegekräfte konnten dort jede volle Stunde zu einer Kurzmeditation gehen und auch Gespräche mit ihnen führen. Eine Mitarbeiterin sagte in diesem Zusammenhang z. B.: „Jetzt, wo ich während der Arbeitszeit in die Ruhe gehe, merke ich, wie brutal und stressig meine Arbeit ist. Und ich überlege, ob ich diese Arbeit weiter mache.“ In dem Moment bekommt das, was gerade noch wie die Befriedung der MitarbeiterInnen aussah, einen subversiven Charakter. Wir kommen in einen Betrieb, z. B. in diese Klinik, mit der Idee, Stressbewältigung zu praktizieren. Wenn wir jedoch den spirituellen Hintergrund dieser Methode nicht vergessen, setzen wir einen subversiven Samen und animieren, über den Tellerrand hinauszuschauen und weiterzudenken. Daran sieht man, wie die beiden Perspektiven zusammenhängen und stark mit der Motivation zu tun haben, ob man das Achtsamkeitskonzept in seiner Ganzheit betrachtet und eine ethische und moralische Einbettung aufrechterhält. Viele in der Wirtschaft tun das, aber nicht alle. Manche fragen nur nach Tipps und Tricks, andere verstehen, dass es sich um eine Grundhaltung mit einem ethischen System handelt.

BA: Gewinnt deshalb in Ihrer Forschung der Aspekt des Mitgefühls ein stärkeres Gewicht?

S.SC H: Ja. Ich bin im klinischen Bereich und in der Komplementärmedizin tätig. Dort fragen wir uns, wie und warum die Komplementärmedizin heilt. Wir haben festgestellt, dass viele Faktoren für den Heilungsprozess entscheidend sind. Ein ganz wesentlicher ist, Zeit mit den PatientInnen zu verbringen und mit ihnen in Beziehung und Kontakt zu sein. Wenn man sich Zeit für sie nimmt, werden Menschen am ehesten gesund. Wenn wir nun wieder an die beschleunigte Gesellschaft denken, sehen wir, dass das System genau dies nicht mehr zu bieten hat. Der Kassenarzt, die Kassenärztin kann sich nur wenige Minuten Zeit nehmen. Unter Zeitdruck und Stress lässt aber auch das Mitgefühl nach. Das merkt jeder an sich selbst. Wenn ich Zeit habe, kann ich mich liebevoll und sorgend um meine Kinder kümmern, aber wenn ich im Stress bin, der Bus gleich kommt und ein Kind quengelt, ist mein Mitgefühl verschüttet.

In der besagten Klinik haben alle Bereiche, auch der Palliativbereich, bei der Studie mitgemacht. Ziel war es, das innerliche Zeitholen zu fördern, um das Mitgefühl, das das medizinische Personal ja hat, wieder freizulegen. Ein zweiter Aspekt unserer Studie berührt das grundsätzliche Paradigma der westlichen Medizin, ich muss zuerst anderen helfen, dann schaue ich nach mir selbst. Das führt zu der Vorstellung, nur eine bestimmte Menge an Mitgefühl geben zu können und sich dann zurückzuziehen, weil man sich sonst überfordert und auslaugt. Wir wollten gern weg von dieser Sichtweise. Ein Arzt formulierte dies so: Wie kann ich mitfühlend sein, ohne meine eigenen Grenzen zu überschreiten? Wir gingen diesen Aspekt ganz klassisch mit der Metta-Meditation an, das heißt, wir beginnen mit der Fürsorge für sich selbst. Zuerst kümmere ich mich um mich selbst, dann kann ich mich aus der Fülle heraus um andere kümmern und brenne dabei nicht aus. Dabei wird der Bogen von Achtsamkeit über das Selbstgefühl und die Selbstfürsorge zur Sorge um andere geschlagen.

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BA: Wie geht es von da aus dann weiter?

S.SCH: Der Buddhismus hat in verschiedenen Ausformungen Wellen der Aufmerksamkeit im Westen erlebt. Was noch aussteht, ist, Achtsamkeit als Kultur des Bewusstseins, als säkulare Grundhaltung zu verstehen. Das bedeutet, Achtsamkeit nicht nur bezogen auf bestimmte Bereiche der Gesellschaft, wie Pädagogik, zu verstehen, sondern als Grundhaltung gegenüber allen Erfahrungen, die ich mit mir und der Welt mache. Da sind wir beim ursprünglichen Buddha. Achtsamkeit hat im ursprünglichen, buddhistischen Sinne einen sozialen Aspekt. Der rückt durch das individuelle Üben etwas in den Hintergrund. Ich denke, es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass Meditation nur die Übung für das Hinausgehen in die Welt ist. Diese Haltung, danach in die Welt hinauszugehen, ist sehr wichtig. Es geht nicht darum, sich zurückzuziehen. Natürlich braucht man auch Rückzugsräume, um die Selbstfürsorge voranzutreiben, aber letztlich findet Handeln im Sozialen statt.

Literaturtipps

Prof. Dr. Stefan Schmidt

Stefan Schmidt, Prof. Dr., Psychologe, lehrt im Studiengang „Kulturwissenschaften – Komplementäre Medizin“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Am Universitätsklinikum Freiburg leitet er eine Arbeitsgruppe, in der er seit mehr als zehn Jahren zu den Themen Achtsamkeit und Meditation forscht. Er führt Studien an Meditierenden im EEGLabor durch und untersucht die Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Interventionen bei PatientInnen, in der Pflege und an Schulen.

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