Unsere Verbundenheit mit dem Schwein ist besonders eng

Ein Beitrag von Vanja Palmers veröffentlicht in der Ausgabe 2013/4 Verbundenheit unter der Rubrik Verbundenheit.

Das Konzept der Verbundenheit ist im buddhistischen Gedankengut zentral. Mitunter wird es bildhaft als „Indras Netz“ dargestellt. Jeder Knotenpunkt dieses Netzes, jedes Selbst, ist mit allen anderen verbunden und spiegelt alle anderen. Dabei handelt es sich nicht nur um miteinander verbundene Einzelteile, sondern jedes sogenannte Einzelteilchen besteht aus allen anderen sogenannten Einzelteilchen, ist aus ihnen zusammengesetzt, ist von ihnen bedingt und formt sie. Hier geht das Konzept der Verbundenheit in das der Einheit über: Alles ist im Einen enthalten, das Eine ist in allem enthalten.

Jedes Organ, jeder Teil ist mit jedem anderen verbunden

Dieses Konzept ist im Buddhismus als „Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit“ (pratitya-samutpada) bekannt. Dem modernen, wissenschaftlich geprägten Denken ist es relativ vertraut und leicht zugänglich, denn es passt gut zu vielen Einsichten und Erkenntnissen aus Physik, Chemie, Biologie und den Umweltwissenschaften. Letztere haben unter anderem das Gaia-Konzept hervorgebracht, eine Sichtweise, welche die Welt als lebendigen Organismus beschreibt. Jedes Organ, jeder Teil ist mit jedem anderen verbunden, hängt mit ihm zusammen, bedingt ihn und wird von ihm bedingt. Je mehr wir über die komplexen Zusammenhänge unserer Existenz lernen, je tiefer wir in das Geheimnis des Lebens vordringen, umso ähnlicher werden sich diese beiden Weltbilder: Indras Netz und das Gaia-Prinzip.

Die wohl größte Errungenschaft und das größte Übel von uns Menschen ist wohl, dass wir uns als getrennt von allem anderen, vom Rest der Welt erleben können. Wir können uns gedanklich absondern. Diese Fähigkeit hat uns einen gewissen evolutionären Vorteil gebracht, wir haben uns, um es in biblischer Sprache auszudrücken, die Welt Untertan gemacht. Aber der Preis ist hoch, individuell und kollektiv: Wir fühlen uns oft abgeschnitten und isoliert vom großen Strom des Lebens, sind entwurzelt, vereinsamt. Aber in unseren besten Momenten, wenn wir wirklich lebendig sind, spüren wir noch, oder wieder, die Verbundenheit, die Einheit hinter dem Getrenntsein, den formlosen Ursprung allen Seins, den Puls des Lebens. Wir spüren, fühlen, sind „es“; das Benennen und Darüber-Nachdenken kommen erst später. Es ist das Samadhi der Gegenwart, ohne Vergangenheit oder Zukunft.

In solch ekstatischen Momenten, wenn wir das konzeptuelle Denken hinter uns lassen, verbindet uns vieles mit den Bewusstseinszuständen unser evolutionären Verwandten, den anderen Tieren, und natürlich ganz speziell mit denjenigen unserer ganz nahen Verwandten, den Säugetieren. Es spricht vieles für (und wenig gegen) die Annahme, dass ein säugendes Mutter-Kind-Affenpaar sehr ähnliche Gefühle empfindet wie sein menschliches Gegenstück. Das Gleiche trifft wohl auch auf ein Liebespaar oder das Gerangel zweier Rivalen, auf Essen und Hunger, auf Freud und Leid im Allgemeinen zu.

Als Vertreter der menschlichen Spezies schäme ich mich

Manchmal unterhalte ich mich mit anderen Mitbewohnern dieser Erde, fühlenden Wesen, die, wie wir, in dieser Raum-Zeit-Dimension, in einem ganz bestimmten Körper, in einer ganz bestimmten Situation gefangen sind. Zum Beispiel mit unserem Eber Rocky. Als Individuen verstehen wir uns seit Jahren hervorragend, schätzen und respektieren uns. Wenn ich ihm allerdings als Vertreter der menschlichen Spezies in die Augen schaue, dann schäme ich mich. Wir sperren diese Geschwister milliardenfach unter völliger Missachtung ihrer Bedürfnisse (sofern diese nicht zur Gewinnoptimierung beitragen) auf engstem Raum ein, mästen die überzüchteten, auf die Haltungssysteme und menschlichen Bedürfnisse zurechtgestutzten Tiere, um sie nach fünf Monaten (Schweine können bis zu 20 Jahre alt werden) als 100 Kilogramm schwere Riesenbabys zu töten. Alles wirtschaftlich motiviert, wissenschaftlich optimiert, staatlich subventioniert, gesellschaftlich toleriert.

Unsere Verbundenheit mit dem Schwein ist besonders eng, von allen sogenannten „Nutztieren“ ist das Schwein bei Weitem unser nächster Verwandter, über 90 Prozent unserer Gene sind identisch. Aus biologischer Sicht kann man, was Größe und Anordnung der Organe betrifft, sagen, dass das Schwein ein horizontaler Mensch ist – oder eben umgekehrt. Das geht so weit, dass wir Herzklappen von Schweinen bei Menschen einsetzen (Xenotransplantation).

Auf anderen Gebieten gibt es natürlich auch Unterschiede, Schweine sind zum Beispiel hoch intelligent, sehr sozial, sauber … In Anlehnung an Wilhelm Busch könnte man sagen: „Das Schwein ist schlau und stellt sich dumm, beim Menschen ist’s meist anders rum …“ Ähnlich lebensverachtend und grausam wie mit dem Schwein gehen wir mit allen anderen intensiv gehaltenen Tieren um: Hühnern, Kühen, Hasen, Pelztieren, Fischen …

Alles ist mit allem verbunden. Weil wir so viel Fleisch essen und Milch trinken wollen (was uns im Übrigen krank macht), müssen wir so viele Tiere züchten (was viel Leiden erzeugt), wobei wir viele Ressourcen verbrauchen und dadurch die Umwelt massiv belasten.

Der bei uns heute übliche hohe Anteil an Nahrung tierischer Herkunft macht uns krank. Das belegen inzwischen ähnlich viele Studien wie, dass Rauchen krank macht. Und wie beim Rauchen wird es eine lange Zeit dauern, bis sich diese wissenschaftlich fundierte Erkenntnis gegen die wirtschaftlichen Interessen einer mächtigen Lobby und – ebenso wichtig – die liebgewonnenen Gewohnheiten der Konsumenten in breiten Schichten der Bevölkerung durchsetzt. Und ebenso wie beim Rauchen liegt zwischen der Erkenntnis und dem Danach-Handeln ein weiterer wichtiger Schritt, den jeder Einzelne tun muss.1

Dass unser hoher Fleisch- und Milchkonsum eine Katastrophe für die Tiere ist, wird den meisten Leserinnen und Lesern von Buddhismus aktuell zumindest vom Hörensagen und am Rande bewusst sein. Wer dies (wieder einmal) etwas mehr ins Bewusstsein rücken oder dieses Wissen etwas auffrischen oder erweitern möchte, dem stehen heute im Internet eine Vielzahl von ausgezeichneten Dokumentationen und Reportagen zur Verfügung.²

Auch der Zustand unserer Umwelt ist sehr eng mit unseren Essgewohnheiten verbunden. In Kombination mit der heutigen (täglich um weitere 200 000 Menschen wachsenden) Weltbevölkerung sind die Auswirkungen (nicht nur) für unsere Spezies dramatisch. Unsere karnivoren Gewohnheiten sind ressourcen- und klimarelevanter als unsere gesamte Mobilität, die Regenwälder fallen ihnen zum Opfer, wir verpesten Wasser, Boden und Luft.³

Weisheit und Mitgefühl sind die beiden tragenden Säulen des Buddhismus. Mitgefühl mit dem Leiden der sogenannten Nutztiere und die uns allen innewohnende Weisheit des Überlebens fordern uns Konsumenten heute mehr denn je ultimativ auf, die Konsequenzen unserer (hauptsächlich Ess-) Gewohnheiten achtsam zu überprüfen. Albert Einstein, Physiker und Nobelpreisträger, aber auch Mystiker und Visionär, hat schon vor vielen Jahren erkannt: „Nichts wird die Gesundheit des Menschen und die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern wie der Schritt zur vegetarischen Ernährung.“ 

„Mögen alle Wesen glücklich sein, mögen wir alle in Frieden und Sicherheit leben.“

ANMERKUNGEN:

  1. Wer zu diesem Thema mehr erfahren möchte, dem empfehle ich das ausgezeichnete Buch China Study. Die wissenschaftliche Begründung für eine vegane Ernährungsweise von T. Colin Campbell, Systemische Medizin Verlag, 2. Aufl. 2011.
  2.  Zum Beispiel das von Paul McCartney gesponserte zwölfminütige Video von PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) „Wenn Schlachthöfe Wände aus Glas hätten …“.
  3. Ein eindrückliches, elfminütiges Video zu den vielschichtigen globalen Auswirkungen unserer Essgewohnheiten.

Vanja Palmers

Vanja Palmers, vor 65 Jahren in diesen Körper geboren, vor 55 Jahren erste Einheitserfahrungen in der Natur, vor 45 Jahren durch ein paar Millionstel Gramm eines Pilzderivates (LSD) auf den Hippie- Yogi-Zen-Weg katapultiert, seit 35 Jahren Zen-Priester und Tierschutzaktivist, vor 25 Jahren, zusammen mit Bruder David Steindl-Rast, OSB, Gründung des Hauses der Stille Puregg, vor 15 Jahren, zusammen mit seinem Zen-Lehrer Kobun Chino Otogawa Roshi, Gründung der Stiftung Felsentor. Heute: Noch immer in allen Gassen dampfend, auf vielen Hochzeiten tanzend, hauptsächlich staunend.

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