Über die Reichweite persönlicher Verantwortung in der westlichen Welt

Ein Beitrag von Florian Preußger veröffentlicht in der Ausgabe 2022/1 fürsorglich unter der Rubrik fürsorglich. (Leseprobe)

Ein Frühstücksbrot mit veganem Brotaufstrich oder mit Salami? Nestlé-Schokolade aus dem Discounter oder solidarisch gehandelt aus dem Bioladen-Kollektiv? Die nächste Urlaubsreise per Flugzeug oder mit dem Nachtzug? Warum solche Alltagsentscheidungen Buddhistinnen und Buddhisten in besonderer Weise betreffen, untersucht Florian Preußger in seinem Essay.

Die Frage nach der besonderen Verantwortung von Buddhistinnen und Buddhisten mag auf den ersten Blick erstaunlich wirken. Selbstverständlich verpflichtet uns der Achtfache Pfad zu ethisch tadellosem Handeln, Sprechen und Denken. Jeder Mensch trägt Verantwortung für die eigenen Taten. So heißt es beispielsweise im Upajjhatthana-Sutta:

 

„Eigner und Erbe meiner Taten bin ich, meinen Taten entsprossen, mit ihnen verknüpft, habe sie zur Zuflucht, und die guten und bösen Taten, die ich tue, werde ich zum Erbe haben.“

Auf den zweiten Blick aber stellt sich die Sache nicht mehr so eindeutig dar. Denn die ausgewählten Alltagsbeispiele haben eine entscheidende Eigenschaft gemeinsam: Es handelt sich um Entscheidungen, die nicht unsere nächsten Mitgeschöpfe betreffen, sondern eine Fernwirkung haben.

Denn den fühlenden Wesen, die wir als Nutztiere bezeichnen, oder den versklavten Kindern, die den Kakao ernten1, haben wir als Konsument:innen persönlich kein Haar gekrümmt. Die verheerenden ökologischen Langzeitfolgen durch den Konsum tierischer Produkte2 und unsere Flugreisen betreffen sogar erst kommende Generationen – Menschen, die es bislang nicht einmal gibt.

Was zählt als Tat?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was alles zählt als Tat, deren „Erbe“ ich bin? Um es mit dem schönen Spruch aus dem Dhammapadaauf den Punkt zu bringen: 

„Wer andre Wesen quält, die auch nach Wohlsein streben, so wie er selbst, der hat kein Glück im nächsten Leben. 
Wer andre Wesen schont, die auch nach Wohlsein streben, so wie er selbst, der findet Glück im nächsten Leben.“ (Verse 131 f.)

Auf welche Wesen bezieht sich der Spruch? Allein auf die in meinem direkten Umfeld? Oder quäle ich auch fühlende Wesen, wenn ich nur indirekt mitverantwortlich für ihr Leiden bin, und sind wir auch aufgerufen, Wesen außerhalb unsers unmittelbaren Handlungsradius zu schonen? Und müsste man in diesen Erwägungen nicht auch noch die historisch einzigartige Situation des westlichen Wohlstands berücksichtigen?Wo also liegen die Grenzen der individuellen Verantwortung im Netz moralischen Handelns für Buddhistinnen und Buddhisten in den wohlhabenden westlichen Gesellschaften?

Selbst Schaden zufügen – von Schaden profitieren

Ob Buddhist:in oder nicht, intuitiv mag man meinen: „Natürlich bin ich mitverantwortlich für das Leiden menschenunwürdig Beschäftigter auf Kakaoplantagen, wenn ich derartige Produkte kaufe.“ 

Doch schon, wenn wir uns dem Beispiel der vegetarischen Lebensführung zuwenden, also einem derzeit viel diskutierten Thema, finden viele nichts dabei, diese intuitive Antwort nicht zu geben, auch Buddhistinnen und Buddhisten.3 Interessant wird es, wenn westliche Buddhist:innen eine vegetarische Lebensweise sogar ausdrücklich zurückweisen. In der buddhistischen Welt wird einerseits gern auf die Ausdehnung solcher „Kardinaltugenden“ wie Gewaltlosigkeit (ahimsa), liebender Güte (metta), der ersten Tugendregel, niemanden zu töten oder zu verletzen, und weiterer moralischer Grundsätze auf alle fühlenden Lebewesen hingewiesen. Andererseits lehnen Buddhistinnen und Buddhisten in der Praxis den Verzicht auf tierische Konsumgüter häufig ab. Warum?

Ein Kernargument, das im Kontext dieser Debatte oft auftaucht, leugnet, dass wir in diesen Fällen „Erben“ unserer Taten seien: Die moralischen Handlungsanweisungen würden Buddhist:innen lediglich darauf festlegen, selbst keinen fühlenden Lebewesen Leid zuzufügen. Da das ja die Metzger:innen (heute eher: prekär beschäftigte Leiharbeiter:innen in Tierfabriken) übernähmen, trage der Erwerb tierischer Produkte keine bedenklichen karmischen Früchte. Derartige Berufe gehören gemäß dem Achtfachen Pfad bekanntlich zu den „fünf verwerflichen Berufsgruppen“. Deren Ausübung ist untersagt, offenbar aber nicht der Erwerb ihrer Produkte. Ausformuliert bedeutet diese Haltung nichts anderes als: Wir sind nicht „Erbe unserer Taten“, wenn deren unmoralische Aspekte von anderen ausgeführt werden, die wir nicht im engsten Sinne damit beauftragt haben.

Genau diese Auffassung kann man beispielsweise in der von der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) empfohlenen Einführung „Was Sie schon immer über Buddhismus wissen wollten“ bestätigt sehen:

„Es ist unmöglich zu leben, ohne auf irgendeine Weise indirekt für den Tod anderer Lebewesen verantwortlich zu sein. … Wenn man die erste Tugendregel auf sich nimmt, versucht man zu vermeiden, für das Töten von Wesen direkt verantwortlich zu sein.“4

Auch die DBU legt also die Auffassung nah, die buddhistische Ethik beziehe sich ausschließlich auf den Nahbereich meiner Handlungen und mein direktes Gegenüber. Angewandt auf die oben präsentierten Szenarien würde das jedoch bedeuten, dass unsere Taten (hier: Konsumentscheidungen) mit dem Leid von Kindersklaven in der Côte d’Ivoire oder von Näher:innen in den Sweatshops nicht verknüpft sind. Noch viel mehr würde das für die zeitlich oder räumlich noch weiter entfernten Opfer der globalen Klimakatastrophe gelten.

Einleuchtend, aber nicht ausreichend

Mir leuchtet der Appell durchaus ein, wir sollten uns nicht in müßigem Reflektieren über mittelbare Handlungsfolgen verlieren, sondern uns auf das konzentrieren, wofür wir direkt und unmittelbar verantwortlich sind. Aber gibt es im Buddhismus wirklich keine darüber hinausgehende moralische Verantwortung? Beziehen sich buddhistisches Mitgefühl und die Entwicklung eines tugendhaften Charakters wirklich allein auf diejenigen, die uns direkt umgeben? Teilt, um mit dem Philosophen Hans Jonas zu sprechen, die buddhistische Ethik mit anderen antiken Ethiken jene „Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung“?5

Das Beispiel des Vegetarismus kann zeigen, dass es in der buddhistischen Ethik so einfach nicht ist. Sicherlich: Die historischen Quellen enthalten keine explizite Aufforderung zu einer vegetarischen Lebensweise, um indirekt Betroffene zu schonen. Ganz im Gegenteil, der Buddha habe, so heißt es von Seiten der Befürworter:innen einer fleischhaltigen Ernährung oft, selbst Fleisch konsumiert und das auch seinen Mönchen erlaubt. Direktes Zufügen von Leid – wie bei Tieropfern – wird in den Schriften vielfach verurteilt, indirekt davon zu profitieren wird kaum je auch nur thematisiert.

Mir ist nur eine Textstelle bekannt, die diese Problematik tatsächlich behandelt.6 Im Jivaka-Sutta untersagt der Buddha seinen Mönchen, Almosen anzunehmen, „wenn man sieht, hört oder vermutet, dass das Lebewesen für den Mönch geschlachtet worden ist.“ Jivakas Vorwurf, „Gotama isst wissentlich Fleisch, das für ihn zubereitet worden ist, von Tieren, die um seinetwillen getötet worden sind“, weist er vehement zurück.

Die Passage ist in gleich zweierlei Hinsicht interessant für die hier verfolgte Fragestellung. Am interessantesten ist sicherlich der deutliche Hinweis darauf, die Fernfolgen doch in das moralische Kalkül mit einzubeziehen. Der Buddha denkt offenbar über den unmittelbaren Umkreis der Handlung hinaus und trennt nicht strikt dazwischen, Leid selbst zu verursachen, und, sich maßgeblich – im bedingt zusammenhängenden Entstehen – daran zu beteiligen, dass ein solches Leiden verursacht wird. Mit anderen Worten: Er scheint nicht der Meinung zu sein, die erste Tugendregel untersage ausschließlich das direkte Töten von Wesen und fordere nicht auch zu weitergehenden Überlegungen auf.

Anmerkungen

Alle deutschen Übersetzungen aus dem Palikanon wurden zitiert nach: www.palikanon.com

1 Vgl. z. B. „Kakao: Kein Fortschritt im Kampf gegen Kinderarbeit“, Deutsche Welle vom 13.11.2020, https://p.dw.com/p/3lC1s.

2 Vgl. z. B. zuletzt „Uno-Bericht zur Landwirtschaft. Fleischkonsum ist der größte Feind der Natur“, Spiegel Online vom 4.2.2021, tinyurl.com/spiegel-fleisch.

3 Mit Fokus auf den Theravada untersucht James Stewart sehr ausführlich sowohl die Quellenlage als auch die Praxis in seinem Buch Vegetarianism and Animal Ethics in Contemporary Buddhism (Routledge 2018). 

4 Bhante S. Dhammika, hg. v. Deutsche Buddhistische Union, 2. Auflage 2013, S. 71 f. Die DBU empfiehlt das Buch auf ihrer Webseite buddhismus-deutschland.de unter „Downloads“.

5 Prinzip Verantwortung, Suhrkamp 2003, besonders S. 7 ff. und S. 22 ff. (Zitat ebd.).

6 Vgl. hierzu z. B. Damien Keown: Buddhist Ethics, Oxford University Press 2005, S. 48 oder Peter Harvey: An Introduction to Buddhist Ethics, Cambridge University Press 2000, S. 159.

7 „It is will (cetana), o monks, that I call karma; having willed, one acts through body, speech or mind.“ (Anguttara Nikaya 3,415); zitiert nach Peter Harvey 2000, An Introduction to Buddhist Ethics: Foundations, Values and Issues, Cambridge University Press, S. 17.

ENDE DER LESEPROBE

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Florian Preußger

hat Philosophie und Religionswissenschaft in Berlin sowie Buddhist Studies in Peradeniya studiert. Er hat mit einer Arbeit über buddhistische Ethik an der Universität Hildesheim zum Dr. phil. promoviert. Florian Preußger lebt und arbeitet in Berlin.

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